3.4 Zum Material: Zuschauer*innen als Ethnograf*innen
von Theresa Schütz
Erschienen in: Recherchen 164: Theater der Vereinnahmung – Publikumsinvolvierung im immersiven Theater (05/2022)
Wie alle Aufführungen sind auch immersive Theateraufführungen einmalig, flüchtig, nicht wiederholbar und entziehen sich einer materiellen Habhaftwerdung jenseits ihres Vollzugs (vgl. Weiler/Roselt, 2017, S. 45). Methodische Probleme, die Aufführungsanalysen per se mit sich bringen, potenzieren sich im Fall von immersivem Theater. Dies zeigt sich, wenn man überlegt, welches Material man seiner Analyse überhaupt zugrunde legen kann. Abschließend sollen deshalb die Materialsorten vorgestellt werden, die mir für meine Analysen zur Verfügung standen. Bei der Vorstellung geht es mir primär darum, entlang der Zuschauer*innen-Figuration »Zuschauer*in als Ethnograf*in«, die man für immersive Theateraufführungen geltend machen kann, darzulegen, wie sich mit Blick auf die Genese des Materials theaterwissenschaftliche und ethnografische Tätigkeit treffen.
1. Aufzeichnungen: Aufgrund der systematischen Involvierung des Publikums im geteilten Aufführungsraum gibt es nicht zuletzt aus datentechnischen Gründen und für die Wahrung von Persönlichkeitsrechten keinerlei Aufzeichnungen, auf die man für Analysen zurückgreifen könnte.123
2. Texte/Skripte/Fotografie: Es gibt mit Ausnahme vom notierten Polydrama Alma in den in Rede stehenden Produktionen keinen verbindlich fixierten Text, der der Aufführung zugrunde liegt, sondern lediglich produktionsinterne Skripte, die skizzieren, was sich an den einzelnen Stationen ereignen soll (3/Fifths), die das Wissen um entwickelte fiktive Figurenbiografien und Hintergrundnarrationen sowie interne Regeln bündeln (SIGNA) oder die nicht schriftlich, sondern in Form eines festgelegten Bewegungs- und Soundscores die Loop-Struktur der Inszenierung festschreiben (Sleep no more). Diese Skripte bilden, dort, wo sie mir zur Verfügung gestellt wurden124, zusammen mit Inszenierungsfotos einen Teil der Materialgrundlage für meine Analysen.
3. Mitschriften: Da immersive Theateraufführungen auf der physischen, multisensorischen und handlungsbezogenen Involvierung der Zuschauer*innen basieren, wird für professionalisierte Zuschauer*innen wie mich das Mitschreiben während der Aufführung verunmöglicht. Zum einen ganz praktisch, weil ich meine Hände für etwas anderes als das Schreiben brauche; zum anderen, weil es die Wahrnehmung der miteinander hervorgebrachten Wirklichkeitssimulation stören würde.125
4. Erinnerungsprotokolle (aus teilnehmender Beobachtung): Die in Kapitel 2.1.1 vorgestellte Bezeichnung vom Erfahrungsraum verweist darauf, dass wir es bei Aufführungen immersiven Theaters mit pro Abend äußerst unterschiedlichen dynamischen »Erfahrungsgeschehen« (Weiler/Roselt, 2017, S. 43) zu tun haben, welche sich relational entfalten und weder als nur ästhetisch noch als nur sozial konfiguriert einordnen lassen. Wenn ich als Theaterwissenschaftlerin über Erfahrungsschätze und Wirkungen von immersiven Theateraufführungen schreiben möchte, dann setzt dies meine Teilnahme voraus. Was im ersten Moment trivial klingen mag, ist es mit Blick auf die Materialerhebung keinesfalls.
Natalie Alvarez bezeichnet die Methode, mit der sie ihre cultural performances analysiert (vgl. Kap. 1.3) als »immersive performance ethnography« (Alvarez, 2018, S. 32). Was die Eigenschaft des Immersiven hier akzentuiert, ist die Tatsache, dass ihr Gegenstand aus dem Modus einer distanzierten Betrachtung nicht zugänglich ist, sondern eine aktive, körperliche Teilnahme ihrerseits einfordert. Immersion rückt auf diese Weise als Bestandteil ethnografischer Praxis in den Blick, wenn sie dafür steht, sich mit allen Sinnen in das zu beforschende soziale Umfeld mit allen dazugehörigen Praktiken hineinzubegeben, um es auf diese Weise qua selbst durchlebter Erfahrungen besser verstehen lernen zu können (vgl. dazu auch Schatz, 2009, S. 4ff.).
Mit der Figuration von einem*einer Zuschauer*in als Ethnograf*in möchte ich im Kontext der Analyse von immersiven Theateraufführungen mit Blick auf den Vorgang der Materialerhebung Analogien zwischen (m)einer theaterwissenschaftlichen und einer ethnografischen Tätigkeit aufzeigen.126 Sei es die gestaltete Lebenswelt einer sektenähnlichen Glaubensgemeinschaft oder ein Verein für Familien, in dem Vertreter*innen der Transspezies Hundsch leben – das Aufführungsdispositiv von SIGNAs Das Heuvolk oder Wir Hunde sieht vor, dass ich ihre gestalteten Lebenswelten und Akteur*innen in einem Wechselspiel von teilnehmender Beobachtung bis beobachtender Teilnahme127 kennenlerne. Das bedeutet, dass ich als Zuschauerin mit am Wohnzimmertisch sitze, wenn Hundsch Tapsi von ihren menschlichen Eltern beigebracht wird, dass (und warum) sie die Pille nehmen muss, oder dass ich mit dem Glaubenssystem der Himmelfahrer vertraut gemacht werde, indem ich an ihren Ritualen aktiv teilnehme. Insbesondere als intradiegetische Teilnehmerin figuriert mich SIGNA als Ethnografin auf Feldforschung, die sich mit allen Sinnen über Modi teilnehmender Beobachtung an den gestalteten Lebenswelten beteiligt (vgl. auch Tecklenburg, 2014, S. 148).128 Aber auch als extradiegetische Teilnehmerin werde ich als Theaterwissenschaftlerin potentiell zur Ethnografin, und zwar zur Publikumsethnografin, die beobachten kann, wie andere Zuschauer*innen sich an der Wirklichkeitssimulation beteiligen und sich situativ verhalten.
Wie Christel Weiler und Jens Roselt hervorheben, geht jede Aufführungsanalyse zunächst mit komplexer Erinnerungsarbeit einher, die sich in dem wahrscheinlich wichtigsten Material für die Analyse, dem Erinnerungsprotokoll (Weiler/Roselt, 2017, S. 103 – 129), niederschlage und damit aus je subjektiver Perspektive zumindest Teile der Aufführungserfahrungen halt- und rekonstruierbar zu machen versuche. Für die Analysen der Publikumsinvolvierung in immersiven Aufführungen kommt meinen Erinnerungsprotokollen, gerade weil ich während der Aufführungen nicht mitschreiben konnte, ein besonders hoher Stellenwert zu. Sie entsprechen den Feldnotizen im Kontext ethnografischen Arbeitens. Wegen der zumeist mehrstündigen Aufführungsdauer, der konstant hohen Wahrnehmungsdichte und immensen Dichte an Assoziationen sowie dem komplexen fiktionsbezogenen Wissen entstanden am Tag nach der Sichtung oder auch noch in der Nacht sehr umfangreiche Erinnerungsprotokolle zu den Aufführungsbesuchen. Bei der Erstellung wirkte im Unterschied zu Aufführungssichtungen, die im klassischen Theaterdispositiv stattfinden, aufgrund der Mobilisierung und Multisensorik insbesondere auch mein Körpergedächtnis in erhöhtem Maße mit. Notiert wurden nicht nur Wahrnehmungen von Handlungen, Figuren oder Szenenbildern und ihre entsprechenden Interpretationsansätze, sondern vor allem umfassende Deskriptionen von Räumen, Begegnungen, Erzählungen, Klängen, Düften, Geschmackserlebnissen und der mit ihnen verknüpften, in situ oder ex post verkörperten Emotionen. Die im Idealfall nicht nur ein-, sondern mehrmalige aktive Teilnahme an den Aufführungen und die schiere Menge an Erinnerungsprotokollen bilden das für die Analyse essentielle Material und begründen damit die mit der Zuschauer*in als Ethnograf*in-Figuration verbundene Analogie von theaterwissenschaftlicher und/als ethnografischer Tätigkeit. Aufführungsanalysen auf diese Weise zu betreiben, gehört zu einem methodisch unerprobten Terrain in der Theaterwissenschaft. Auch hier gilt einmal mehr hervorzuheben, dass sich der methodische Umgang aus meinem Gegenstand heraus begründet und entwickelt hat.
Die Tatsache, dass immersives Theater von mir die beschriebenen Teilnahmegrade einfordert, hat darüber hinaus zur Folge, dass ich mich als involvierte Zuschauerin aus der Analyse nicht herausnehmen oder herausdenken kann. Denn meine Aufführungsnotate dokumentieren zuvorderst meine subjektiven Wahrnehmungs-, Assoziations-, Empfindungs- und Bedeutungsgenerierungsprozesse. Sie geben in erster Linie Auskunft über diejenigen singulären Aufführungserfahrungen (vgl. Kap. 3.2), die an meinen Körper, mein Wissen und meine Orientierungsweisen gebunden sind. Die in Rede stehenden Inszenierungen forderten dabei nicht nur meine aktive Teilnahme, sondern sie forderten vor allem auch ein, dass ich mich auf sie ein- oder mehrmals einlasse. Sie forderten ein, dass ich einen Umgang finde, mit der Verunsicherung und Desorientierung umzugehen, mit der sie arbeiten. Und ich musste bereit sein, mich zu öffnen, mich anfassen, bloßstellen, provozieren, vorführen oder auch verletzen zu lassen, um die Dynamiken dieser Arbeiten wirklich erfahren und verstehen zu lernen. Ich musste die intensiven Einlassungs-, Involvierungs- und Teilnahmeerfahrungen in diesem Feld machen, um über sie schreiben zu können. Es brauchte das Einlassen auf so viel Distanzlosigkeit wie möglich, um aus der anschließenden Distanz heraus auf das Erlebte, Beobachtete und Erfahrene reflektieren zu können. Dies brachte beständig mit sich, mich auch verstärkt mit mir selbst, meinen Reaktions-, Urteils- und Empfindungsmustern auseinanderzusetzen. Aus diesem Grund ist ein Schreiben über immersives Theater in viel höherem Maße als bei anderen Theaterformen und vor allem dann, wenn es um die eigenen Involvierungsmodi geht, zuweilen auch ein (auto-)ethnografisches Schreiben über sich selbst und die eigenen inner- wie außertheatralen Selbst-/Weltverhältnisse.129
5. Interviews: Da es mir aufgrund der Polyperspektivität der Form wichtig ist, die akteursbezogene Analyse der Publikumsinvolvierung nicht nur über meine eigenen Aufführungserfahrungen einzubeziehen, ich also gerade der Pluralität möglicher, erinnerter und verbalisierter Aufführungserfahrungen mit einer Mehrstimmigkeit ebendieser gerecht werden möchte, habe ich, um mein Material zu erweitern, zwischen 2016 und 2018 insgesamt 24 Interviews mit 27 Zuschauer*innen über ihre Erfahrungen in verschiedenen SIGNA-Aufführungen geführt.130 Ziel der Interviews war es, die theoretischen Annahmen über wirkungsästhetische Prozesse der Vereinnahmung auf eine empirische Basis zu stellen und nachzuweisen, dass viele der für mich neuralgischen Erfahrungswerte und ausagierten Emotionen nicht nur individuell, sondern durchaus auch transindividuell vereinnahmende Effekte zu zeitigen vermögen.
Bei den durchgeführten Interviews handelt es sich um leitfadengestützte Interviews. Neun von ihnen fokussierten SIGNAs Söhne & Söhne, acht Wir Hunde, vier Das halbe Leid und eines Das Heuvolk. Den Interviews gingen mit Ausnahme der zu Das halbe Leid Zuschauer*innen-Befragungen131 voraus, über die der Kontakt mit an Interviews interessiertem Publikum hergestellt werden konnte. Im Fall von Wir Hunde habe ich knapp siebzig Fragebögen mit einem Rücklauf von dreißig verteilt.132 Da die 22 ausverkauften Aufführungen insgesamt etwa 1.650 Zuschauer*innen anzogen, konnte hier zu keinem Zeitpunkt Anspruch auf repräsentative Gültigkeit erhoben werden. Von den dreißig Teilnehmer*innen waren 19, also immerhin fast zwei Drittel, einverstanden, ein weiterführendes Interview mit mir zu führen. Von ihnen habe ich dann zehn Besucher*innen im Alter von 19 bis 54 Jahren (Stand 2016) aus Berlin und Wien für ein persönliches, zumeist etwa je sechzig bis achtzig Minuten dauerndes Gespräch ausgewählt.133 Bei Das Heuvolk hatte ich bei etwa hundert verteilten Links für die Online-Befragung einen Rücklauf von 41 ausgefüllten Bögen von Zuschauer*innen im Alter von 22 bis 67 Jahren. Im Fall von Das Heuvolk war es mir wichtig, mit einem Gast ein Interview zu führen, der a) die Aufführung mehrfach besucht, b) eine Special Hour miterlebt hatte und c) am Abschlussritual teilgenommen hatte. Unter den Befragten fanden sich nur zwei Personen, auf die dies zutraf. Da ich die eine Person, welche sich über die Zeit auch als eine*r der wenigen SIGNA-»Super-Fans« (und überdies auch noch als ein ebensolcher von Alma und Sleep no more) herauskristallisierte, bereits für Wir Hunde interviewt hatte, erfolgte deshalb nur ein einziges Interview im Kontext von Das Heuvolk. Bei Das halbe Leid habe ich aufgrund der eingangs erwähnten Fokusverschiebung im Forschungsdesign keine Fragebögen mehr verteilt, sondern direkt nach meinen Aufführungsbesuchen sowie beim öffentlichen Publikumsgespräch am 16. Januar 2018 im Malersaal des Hamburger Schauspielhauses Zuschauer*innen angesprochen und auf diesem Wege noch vier weitere Interviews vereinbart und durchgeführt.
Das Ziel der qualitativen Interviews bestand darin, Einblick in andere subjektive Aufführungserfahrungen zu erhalten. Es ging nicht darum, durch narrative Interviews Erkenntnisse zu den Personen und ihren Lebenswelten zu generieren, sondern vielmehr darum, sich auf diskursiv-dialogische Weise mit offenen Fragen und einem Leitfaden den Erinnerungen der Zuschauer*innen an ihre gemachten Erfahrungen anzunähern. Es handelt sich hinsichtlich der Erhebungsmethode also am ehesten um Expert*innen-Interviews, die halbstrukturiert entlang eines Leitfadens durchgeführt wurden. Ich habe meine Gesprächspartner*innen gleichsam in ihrem »Expertentum« als SIGNA-Zuschauer*innen befragt. Im Anschluss wurden die Interviews transkribiert134 und inhaltsanalytisch ausgewertet. Einige narrative Passagen von Aufführungsbeschreibungen finden im Sinne der Polyperspektivität Eingang in diese Studie (vgl. Kap. 4). Für die Konzeption und Durchführung der Interviews habe ich mich an einschlägigen Positionen qualitativer Sozialforschung orientiert (u. a. Flick, 2012; Schlehe, 2020). Da die Einbeziehung von qualitativen Methoden in der Theaterwissenschaft, insbesondere wenn es um Aufführungsanalysen, die Zuschauer*innen-Erfahrungen integrieren, noch weitestgehend unerprobt ist, ergab sich daraus auch partiell die Möglichkeit, dies experimentell anzugehen.135
6. Zusätzliches Material: Das Material, das Aufführungserfahrungen und Wirkungsbeschreibungen anderer Zuschauer*innen zu fixieren sucht, umfasst neben den Interviews vor allem Rezensionen, wissenschaftliche Beiträge sowie meine Mitschriften von öffentlichen Publikumsgesprächen zu den SIGNA-Arbeiten Wir Hunde, Söhne & Söhne und Das halbe Leid. Für eine polyperspektivische Analyse der Publikumsinvolvierung in Punchdrunks Sleep no more konnte ich zudem auf die zahlreichen Blog-Beiträge von Fans und Zuschauer*innen, die im Netz zugänglich sind, zurückgreifen.136 Insbesondere mit Blick auf die Fan-Blogs möchte ich abschließend noch ein weiteres Mal auf die Figuration des*der Zuschauers/Zuschauerin als Ethnograf*in im Kontext von immersivem Theater zurückkommen. Denn wie auch Theaterwissenschaftlerin Julia M. Ritter herausstellt, umfassen die Fan-Blogs zu Sleep no more und The Drowned Man von Punchdrunk nicht nur unterschiedliche Textformen (Kritiken, Essays, persönliche Kommentare, Lexikoneinträge, kurze Erfahrungsvignetten, Gedichte etc.), sondern auch Zeichnungen, Grafiken und komplette Comics, die Ritter als »visual ethnographies« (Ritter, 2017, S. 62) und kreative »post-performance cultural products« (ebd., S. 66) beschreibt. Diese laden im Sinne der Polyperspektivik dazu ein, die eigenen durch akademische Perspektiven, Diskurse und Begriffe formierten Weisen bedeutungsgenerierender Auseinandersetzung im Kontext solch komplexen, ästhetischen wie sozialen »Erfahrungsgeschehens« wie es immersive Theateraufführungen ermöglichen, entsprechend zu erweitern.
Die Attribuierung des »Polyperspektivischen« im Zusammenhang mit einer Szenen- und Situationsanalyse, die die Publikumsinvolvierung im immersiven Theater fokussiert, meint zum einen, ausgewählte Situationen innerhalb der Aufführungen herauszugreifen und dezidiert nicht nur meine eigenen Erfahrungen, sondern auch die Beschreibungen und Erinnerungen anderer Zuschauer*innen an die besagte Situation in den Blick zu nehmen und damit der Polyperspektivik der Form gerecht zu werden. Zum anderen meint polyperspektivisch aber auch, für eine ausgewählte Szenen- und/oder Situationsanalyse einen der zahlreichen, gleichzeitig in- und miteinanderwirkenden Involvierungsmodi (z. B. olfaktorisch oder handlungsanweisungsbezogen) zu isolieren, um sein Mit-Wirken an Momenten der Vereinnahmung von Zuschauer*innen herausstellen zu können und damit einen Beitrag zur wirkungsästhetischen Analyse der für immersives Theater paradigmatischen Relationalität von Aufführungsdispositiv und (empirischen) Zuschauer*innen zu leisten. Hinsichtlich einer Kritik jener Weltversionen, die immersives Theater realisiert, muss eine polyperspektivische Betrachtung gerade dort, wo es um bestimmte Formen des Zuschauer*innen-Framings und damit zuweilen auch um gezielt ungleichkonfigurierte Weltverhältnisse inner- wie außerfiktional geht, auch beinhalten, die konstellierten Beziehungsweisen mit Blick auf die Kategorien class (4.1), gender (4.3), race (4.6) sowie ihrer Überschneidungen mitzudenken.
123 Im Fall von Alma existiert eine Filmversion, die auf den Mitschnitten mehrerer Aufführungen im Sanatorium Pukersdorf 1997/98 basiert und 1999 erschien. Abgesehen davon, dass für den Medienwechsel das die Aufführung dominierende Formprinzip simultan stattfindender Szenen zugunsten filmischer Sukzession aufgegeben werden musste, unterläuft der Film auch das mit dem Konzept vom »Zuschauer als Kamera« verbundene, rezeptionsästhetische Ideal einer Polyperspektivität. Über einen dokumentarischen Wert kommt der Mitschnitt für meine Belange auch deshalb nicht hinaus, weil ich Alma knapp zwanzig Jahre später an einem anderen Spielort miterlebt habe. SIGNA zeichnen ihre Aufführungen grundsätzlich nicht auf; Gleiches gilt auch für Punchdrunk. Von 3/Fifths, das ich wie Sleep no more nur einmal sichten konnte, lag mir ein produktionsinterner Mitschnitt vor, der allerdings die für meine Belange interessanten Begegnungen, Aushandlungen und Konflikte zwischen Performer*innen und Zuschauer*innen ausgespart hat.
124 Von James Scruggs habe ich freundlicherweise das der Aufführung zugrunde liegende Skript zur Verfügung gestellt bekommen. Signa und Arthur Köstler haben mir Einblick in all die Materialien gewährt, die im Kontext der Produktionen Das Heuvolk, Wir Hunde und Das halbe Leid in der Entwicklungsund Probenphase entstanden sind und mit beteiligten Darsteller*innen über geschlossene Facebook-Gruppen geteilt wurden.
125 Um die Erfahrung anderer Zuschauer*innen nicht zu beeinflussen und vor allem auch, um mich selbst durch den Akt des Mitschreibens nicht zu stark einzuengen, habe ich in aller Regel auf das Mitschreiben während einer Aufführung verzichtet. Eine Ausnahme bildet mein zweiter Besuch bei SIGNAs Das Heuvolk, bei dem ich mich selbst fiktionalisierte. So erklärte ich auf Nachfrage der Figuren, warum ich mir während der Rituale und Gespräche Notizen mache, dass ich Anthropologin sei und mich mit ihrer Glaubensgemeinschaft wissenschaftlich auseinandersetze, was innerdiegetisch dann auch akzeptiert wurde, bei anderen Zuschauer*innen aber immer wieder auch zu fragenden Blicken, Irritationen und Verwunderung führte.
126 An dieser Stelle sei auf die ohnehin enge Verzahnung von Theaterwissenschaft und Ethnologie hingewiesen, nicht nur fachgeschichtlich über eine Anbindung an Ritualtheorien und die Erforschung außereuropäischer Theaterkulturen wie auch interkultureller Theaterformen (vgl. Bloch/Heimböckel, 2016), sondern vor allem im Hinblick auf gegenwärtige Tendenzen, Arbeitstechniken ethnografischer Praxis für die Theaterwissenschaft fruchtbar zu machen. Dies findet sich z. B. im Bereich der Probenforschung, vgl. u. a. Matzke, 2012; Le Calvé, 2017. Eine Perspektive auf Schaupieler*innen als Ethnograf*innen, die sich bei Kreuder, 2016 findet, ließe sich z. B. auch auf Prozesse der Figurenentwicklung bei SIGNA übertragen.
127 Zur Unterscheidung von teilnehmender Beobachtung und beobachtender Teilnahme in der ethnografischen Feldforschung siehe Hitzler/Gothe, 2015, S. 10f.
128 Neben Nina Tecklenburg, die im Kontext ihrer Analyse von SIGNAs Die Erscheinungen der Martha Rubin davon spricht, dass der Theaterbesucher »ähnlich einem Ethnologen auf Feldforschung [ ] die fremde Kultur zu verstehen versuch[e]« (Tecklenburg, 2014, S. 148), haben auch Rezensent*innen und meine Interviewpartner*innen diese Analogie häufiger bemüht, z. B: »Wir entdecken eine Welt, in der Regeln gelten, die uns erst dann auffallen, wenn wir sie nichtsahnend übertreten. So muss es Ethnologen gehen, die neue Gesellschaften erkunden« (Speidel, 2016). Auch Zuschauer AS hatte in seinen Erinnerungen zu Wir Hunde verbalisiert, dass der Besuch bei Canis Humanus für ihn so sei, »wie wenn [er] ein fremdes Land besuche« (AS 2018).
129 Während Adam Alston die Fokussierung auf das eigene Selbst im Partizipationsmodus immersiven Theaters als »narzisstisch« bezeichnet, sie im Kontext einer neoliberalen experience industry verortet und auf diese Weise kritisiert (vgl. Alston, 2013; Alston, 2016), empfinde ich gerade diese Möglichkeit zu einer relationalen Selbstbefragung des eigenen Verhaltens, der eigenen Re-Aktionsmuster und der damit verbundenen Reflexion auf die eigenen affektiven Dispositionen und die eigene Verführbarkeit für bestimmte Beziehungsweisen als das eigentliche Potential von (vor allem vereinnahmenden) Publikumsinvolvierungsprozessen in Aufführungen immersiven Theaters, vgl. dazu auch Kolesch/Schütz, 2022.
130 Drei der Interviews fanden als Doppelinterviews, mit zwei Zuschauer*innen gleichzeitig, statt, vgl. Liste der durchgeführten Interviews im Anhang.
131 Das Durchführen von Zuschauer*innen-Befragungen mit einem Fragebogen war Teil des Forschungsdesigns zu Beginn meiner Projektarbeit. Ziel des Einsatzes dieses Instruments war 2016/17 neben der Generierung von Interviewpartner*innen auch die Durchführung eines Hypothesentests. Die Grundannahme bestand darin, dass sich Immersion(serfahrungen) im Theater aufgrund der spezifischen Medialität und Materialität von Immersionserfahrungen bei movie rides, Games, VR oder Film und Literatur unterscheiden. So habe ich – in engem Austausch mit den Soziolog*innen Prof. Christian von Scheve, Dr. Antje Kahl sowie später Coline Kuche – auf der Basis des Fragebogens, den das Team um Charlene Jennett entwickelt hat, um Immersions- und Präsenzerfahrungen bei Game-Nutzer*innen empirisch zu untersuchen (vgl. Jennett/Cox at al., 2008), einen eigenen Fragebogen entwickelt. Dieser kam für eine Zuschauer*innen-Befragung im Anschluss an SIGNAs Söhne & Söhne zum ersten Mal zum Einsatz, in modifizierter Version erneut bei Wir Hunde und als Online-Survey zuletzt auch bei Das Heuvolk. Die letzten beiden Varianten des Bogens basierten auf einer 13 Items umfassenden Immersionsskala, die entlang bestimmter Kriterien wie »Verlust von Zeitgefühl«, »Vereinzelungsempfinden«, »Reflexion des eigenen Verhaltens«, »Langeweile« etc. Aspekte von Immersionserfahrungen messen sollte. Am Ende hatte der Bogen beide Aufgaben erfüllt: Er diente zur Verifizierung ausgewählter expliziter Vorannahmen zu Immersionserfahrungen im Theater (z. B. auch, dass es einen Zusammenhang von Reflexion und Immersion bei SIGNA-Arbeiten zu geben scheint) und verschaffte mir Zugang zu einem Kreis von Zuschauer*innen, die an einem Interview interessiert waren.
132 Einerseits habe ich Zuschauer*innen in Wien direkt vor Ort, also im Anschluss an die drei Vorstellungen, die ich besucht habe, bzw. im Zuge des Publikumsgesprächs am 19.6.2016 angesprochen. Andererseits habe ich – wo ich die Einwilligung hatte – den E-Mail-Verteiler, der sich aus der durchgeführten Befragung nach Söhne & Söhne ergeben hatte, zum Versand des Bogens genutzt.
133 Bei der Auswahl habe ich darauf geachtet, a) ein möglichst breites Altersspektrum abzudecken, b) Zuschauer*innen zu befragen, die noch nie zuvor bei SIGNA waren, sowie c) Zuschauer*innen, die im Gegenzug bereits viele verschiedene Inszenierungen zuvor besucht hatten. Wenn ich mich erinnern konnte, mit den Interviewpartner*innen in einer Aufführung Szenen gemeinsam erlebt zu haben, dann habe ich diese vorgezogen. Darüber hinaus hatte die Auswahl am Ende auch pragmatische Termingründe, wann eine Zusammenkunft in Wien oder Berlin für beide Seiten möglich war.
134 An dieser Stelle möchte ich mich bei Jessica Jorgas und Thore Walch für ihre Unterstützung bedanken.
135 Was SIGNAs Arbeiten anbelangt, so ist mir nur eine weitere Theaterwissenschaftlerin bekannt, die gleichfalls qualitative Methoden in ihrem Dissertationsprojekt einbezieht: Agnes Bakk von der Moholy-Nagy University of Art and Design in Budapest. Sie hatte Fragebögen bei Das Heuvolk in Mannheim verteilt und ihre bislang unveröffentlichten Ergebnisse im Rahmen der 2018 von mir und Rainer Mühlhoff organisierten Spring School »The Power of Immersion: Performance – Affect – Politics« an der FU Berlin präsentiert. Für einen experimentellen und kreativen Umgang mit Einzel- und Gruppeninterviews von Zuschauer*innen, allerdings weniger für aufführungsanalytische Belange denn als eine empirische Annäherung an die realisierte Vielfalt ästhetischer Erfahrungen, siehe vor allem Reason, 2010; Reason, 2012; Reason, 2019.
136 An dieser Stelle gilt mein Dank meinem theaterwissenschaftlichen Kollegen Kai Padberg, der sich im Rahmen seines Forschungsprojekts »Extended Audiences« an der Friedrich Schlegel Graduiertenschule der FU Berlin mit theaterwissenschaftlicher Publikumsforschung auseinandersetzt und mich bei der Durchsicht von zwei der drei bekanntesten Punchdrunk-Fan-Blogs unterstützt hat.