Theater der Zeit

Vorwort

von Angie Hiesl + Roland Kaiser

Erschienen in: Recherchen 162: WAR SCHÖN. KANN WEG … – Alter(n) in der Darstellenden Kunst (11/2022)

x-mal Mensch Stuhl, Bordeaux 2004, Akteurin: Edith Höltenschmidt, © Roland Kaiser
x-mal Mensch Stuhl, Bordeaux 2004, Akteurin: Edith HöltenschmidtFoto: Roland Kaiser

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WAR SCHÖN. KANN WEG … ist in der modernen Konsumgesellschaft eine treibende Maxime. Auch in der performativen Kunst, die ohnehin Flüchtiges und Vergängliches produziert, ist diese Haltung sehr gegenwärtig. Doch dem Hunger nach immer Neuem, Innovativem und Jungem steht die Unausweichlichkeit des Alterns gegenüber. Altwerden in den (Freien) Darstellenden Künsten war bis vor einigen Jahren noch keine Option. Das 25-jährige Jubiläum unseres Projekts x-mal Mensch Stuhl im Jahr 2020, das sich erfolgreich dem Trend des ständig Neuen widersetzt, bewegte uns dazu, das Alter(n) in der Darstellenden Kunst einmal genauer zu betrachten.

Der ältere Mensch in unserer Gesellschaft – im Spannungsfeld von Architektur und urbanem Alltag – steht im Fokus von x-mal Mensch Stuhl. Orte der Inszenierung sind Häuserfassaden im urbanen Raum. In einer Höhe zwischen vier und sieben Metern sind weiße Stahlstühle montiert. Auf ihnen sitzen, hoch über den Köpfen der Passant*innen, Menschen im Alter zwischen sechzig und achtzig Jahren. Sie führen auf zurückhaltende Weise inszenierte, ganz alltägliche Handlungen aus: das Lesen einer Zeitung, das Schneiden von Gemüse, das Hören des Radios – Tätigkeiten, die mit ihrem persönlichen Leben in Verbindung stehen. x-mal Mensch Stuhl wurde bisher in 38 Städten in 17 Ländern Europas sowie Nord- und Südamerikas gezeigt.

Die thematische Ebene des Projekts sowie seine Nachhaltigkeit – 25 Jahre lang präsentiert und immer noch aktuell und gefragt – waren für uns Impulsgeber, den Bereich der Darstellenden Künste auf den Umgang mit dem Faktor Alter(n) zu untersuchen und in einem größeren Rahmen in Form eines Symposiums zu diskutieren.

Ziel dieser Publikation ist es, einerseits die zentralen Ergebnisse und Positionen der Gespräche und des Symposiums zu dokumentieren, andererseits den Diskurs über Kunst und Alter(n) noch weiter anzuregen. Diese Motivation teilen wir mit kubia, dem Kompetenzzentrum für Kulturelle Bildung im Alter und inklusive Kultur, das uns auf diesem Weg begleitet und unterstützt hat.

Startpunkt unserer Recherche war die Einladung von PACT Zollverein, die uns – gefördert durch den Fonds Darstellende Künste – im Herbst 2020 die Möglichkeit bot, uns dem Thema zunächst einmal aus eigener Perspektive und aus Sicht von Kolleg*innen anzunähern. In sechs Video-Interviews befragten wir im Zuge unserer Recherche Vertreter*innen der Freien Szene aus den Bereichen Theater, Tanz und Performance. Im Februar 2021 veranstalteten wir dann ein Online-Symposium unter dem Titel WAR SCHÖN. KANN WEG … Alter(n) in der Darstellenden Kunst, das auf sehr positive Resonanz bei Künstler*innen, aber auch Vertreter*innen von Fachverbänden, Förderinstitutionen sowie Kulturpolitik und Verwaltung im gesamten deutschsprachigen Raum stieß.1

Vor welchen Herausforderungen stehen Künstler*innen, egal ob sie am Anfang einer Karriere stehen oder etabliert sind? Wie wirkt sich das Alter eines Künstlers, einer Künstlerin bzw. eines Werks auf die Akzeptanz am Kunstmarkt aus? Wie steht es um die sozioökonomische Realität und Alterssicherung? Welche strukturellen Hindernisse und Diskriminierungen gilt es zu überwinden und wie sehen generationensowie gendergerechte Lösungen und Förderkonzepte aus?

Mit unserem aktuellen Lebensalter von 63 bzw. 67 Jahren ist für uns das Thema Alter präsenter geworden. Lange Zeit stand das kreative Arbeiten so im Mittelpunkt, dass der Blick auf die eigene Endlichkeit weitgehend im Hintergrund stand. Mit zunehmendem Alter verändert sich die Perspektive auf das eigene Schaffen und Leben. Neue Fragen treten an die Oberfläche. Wie gestalte ich das letzte Drittel oder Viertel meiner Arbeits-/Lebenszeit? Wie gehe ich mit meinem Werk, meinem Archiv um? Wie lange kann bzw. darf ich noch arbeiten – gibt es überhaupt ein Ende des künstlerischen Schaffens vor dem Tod? Wie entwickelt sich die eigene sozioökonomische Situation? Es wird immer deutlicher, in welch prekärer Lage sich viele Künstler*innen, besonders im Alter, befinden. Nicht nur in der Kunst, sondern auch in anderen Arbeitsbereichen zeichnet sich zunehmende Altersarmut ab – ein Problem, das gesamtgesellschaftlich gelöst werden muss.

Der mit den Interviews und im Symposium begonnene Diskurs wird in dieser Publikation festgehalten und durch weitere Fachbeiträge fortgeführt, die das wichtige Thema aus künstlerischer, wissenschaftlicher, kuratorischer und kulturpolitischer Perspektive beleuchten.

Im Kapitel Die Un/Sichtbarkeit von Alter in der Kunst führt Alexandra Kolb in ihrem Beitrag über »Alternative(s) Sichten. Ambiguitäten des Alter(n)s am Beispiel von x-mal Mensch Stuhl« in die Problematik der strukturellen sozialen Nichtsichtbarkeit des Alters ein und zeigt auf, welche Sichten auf den alternden Körper die Performance-Kunst ermöglicht.

Es folgen mit »Ageing trouble tanzen!« theoretische und tänzerische Erkundungen zur Performativität des Alter(n)s und Möglichkeiten widerständiger Neu-Inszenierungen und Neu-Einschreibungen des Alter(n)s in den Künsten, die die Tanzwissenschaftlerin und Tänzerin Susanne Martin und die Kulturgerontologin und Bildungswissenschaftlerin Miriam Haller gemeinsam unternommen haben.

Im Tanz ist in der Regel mit vierzig Jahren Schluss. Mit ihrer Initiative zur Gründung des Dance On Ensembles für ältere Tänzer*innen ist es der Kulturmanagerin Madeline Ritter gelungen, sichtbar zu machen, was die Tanzkunst – und die Gesellschaft – durch Ausstrahlung, Souveränität und eindrückliche Darstellungskraft gewinnt, die sich aus gelebter Erfahrung speist. In ihrem Beitrag »Wings of change« plädiert sie für neue Alter(n)sbilder auf unseren Bühnen und in unseren Köpfen.

Das Kapitel schließt mit Auszügen aus unserem Interview mit Gerda König, der Choreografin, Tänzerin und Gründerin sowie Leiterin der DIN A 13 tanzcompany, die weltweit zu den führenden mixed-abled-Tanzensembles zählt. In ihrer künstlerischen Auseinandersetzung geht es um die differenzierte und diverse Bewegungsäußerung unterschiedlicher Körper – Alter ist davon nur eine Facette.

Das zweite Kapitel fragt nach dem Spannungsfeld von Innovation und Kontinuität in der Freien Szene. Aus Sicht von Franziska Werner, künstlerische Leiterin der Sophiensæle Berlin, bedarf es einer neuen Generationensolidarität: Traditionell richtet die Freie Szene ihren Fokus auf Newcomer und Innovation. Aber was passiert, wenn die Jungen älter werden, wie kann ein sinnvolles Miteinander, eineProgramm- Mischung zwischen den Älteren und Jüngeren aussehen und was bedeutet dies für die Kuration?

Kathrin Tiedemann, künstlerische Leiterin und Geschäftsführerin des FFT Düsseldorf, ergründet das Generationenverhältnis in Form eines autofiktionalen Gesprächs. Für sie geht es nicht so sehr um einen Generationswechsel, als vielmehr um die Frage, wie sich das Theater den Dynamiken und Konflikten stellt, entlang derer heute die Neuverteilung der Macht verhandelt wird.

Auch Constantin Hochkeppel, Physical-Theatre-Performer, Theatermacher und Choreograf und mit Anfang dreißig unser jüngster Gesprächspartner, wünscht sich eine Gesellschaft, in der das Klima so ist, dass ein konstruktiver Austausch stattfindet und Jung und Alt gemeinsam zu neuen Einsichten gelangen. Er plädiert für Begegnungsplattformen sowie generationengerechte Förderung. Für seine Alterssicherung betreibt er schon in jungen Jahren Vorsorge. Dass dies angesichts der prekären Situation vieler Künstler*innen dringend nötig ist, thematisiert das Kapitel Von wegen sicher: Sozioökonomische Realitäten.

Cilgia Gadola, Leiterin des Forschungsprojekts Systemcheck vom Bundesverband Freie Darstellende Künste, beschäftigt sich mit der sozialen Situation Solo-Selbstständiger und Hybridbeschäftiger in der Freien Szene. Nicht zuletzt ausgelöst durch die Erfahrungen der Coronapandemie sucht Systemcheck nach Wegen, um die soziale Absicherung für Künstler*innen zukunftsfester und fairer zu gestalten.

Michael Freundt, Geschäftsführer des Dachverbands Tanz, fordert dazu auf, die Kunstlandschaft als Mehrgenerationenhaus zu begreifen, und macht Vorschläge, wie Kunst- und Kulturfördersysteme für alle Altersgruppen gerechter werden könnten.

Die Tänzerin und Choreografin Katharine Sehnert konnte nie durchgehend in die Rentenkasse einzahlen. Mit 85 Jahren muss und will sie weiterhin für ihren Lebensunterhalt arbeiten, denn sie möchte ihre Erfahrungen weitergeben – solange es geht.

Das Kapitel Alter und Geschlecht eröffnen Fanni Halmburger und Lisa Lucassen, Mitglieder des Performance-Kollektivs She She Pop. Sie reflektieren im Interview ihren künstlerischen Umgang mit biografischen Erfahrungen wie der des Alter(n)s als Frau: »Egal was kommt, wir bringen es auf die Bühne« – das Einbeziehen der eigenen Biografie ist bei She She Pop Methode.

Als Theaterkritikerin und Mitglied diverser Theaterjurys fordert Dorothea Marcus Neue Schönheit braucht das Land und kritisiert das veraltete Bild der älteren Frau auf und vor deutschen Bühnen.

Der Vorhang dieses Kapitels fällt mit dem Dramolett »Ich bin sicher, ich war schon einmal älter« der Theaterautorinnen Hannah Zufall und Ariane Koch, die kürzlich mit The Golden Age eine Initiative für mehr ältere Frauen* auf deutschen Bühnen begründet haben.

Im letzten Kapitel Handschrift, Werk, Archiv geht es um das, was bleibt. Für die Choreografin Helena Waldmann, deren Produktionen und Tourneen sie um die Welt geführt haben, ist ihr Archiv im Gedächtnis ihres Publikums in Europa, Asien, Afrika, Nord- und Südamerika verteilt. Dieses mobile und ganz persönliche Erinnerungsarchiv gibt ihr den Spielraum, sich immer wieder neu zu erfinden.

Frank Heuel, künstlerischer Leiter des fringe ensemble, verortet seine künstlerische Handschrift zwischen den Polen, sich selbst treu zu bleiben und dennoch immer wieder Neues zu entdecken. Zu vererben wären für ihn Werte wie Loyalität, Achtsamkeit und Kontinuität, die er als Geist seines Ensembles weitergetragen wissen möchte – Werte der Beständigkeit, die vor einigen Jahren niemand mit der Freien Szene assoziiert hätte.

Aus wissenschaftlicher und forschender Perspektive beschäftigt Barbara Büscher, Professorin für Medientheorie/-geschichte und Intermedialität an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig, die Frage, welche Prozesse zu Archivbildung in den Performance-based-Arts führen, wenn es dafür keinen stabilen Ort mit den herkömmlichen Ordnungen des Sammelns, Dokumentierens und Archivierens gibt. Sie erforscht, ob und wie ephemere oder performative Kunstformen archivarisch repräsentiert werden können.

Unser herzlicher Dank gilt unseren Förderern: der Kunststiftung NRW, dem Ministerium für Kultur und Wissenschaft NRW, dem Förderfonds Kultur & Alter des Landes NRW sowie dem Kulturamt der Stadt Köln. Dem Kompetenzzentrum für Kulturelle Bildung im Alter und inklusive Kultur (kubia) danken wir für die umfangreiche Unterstützung in Form von Rat und Tat, mit der es sowohl das Symposium als auch diese Publikation begleitet hat. Besonders danken wir Almuth Fricke, der Leiterin von kubia, die maßgeblich bei der Herausgabe dieses Buches mitgewirkt hat. Ebenso danken wir dem Verlag Theater der Zeit für die Realisierung dieses Buchprojekts.

Unser herzlicher Dank gilt darüber hinaus allen an der vorliegenden Publikation und dem Symposium beteiligten Personen. Wir danken den Referent*innen des Symposiums, den Interviewpartner*innen und Autor*innen dieses Buchs, die durch ihren sehr persönlichen Blick das Thema greifbarer gemacht haben. Silvia Werner danken wir für die umsichtige Projektleitung sowie Dr. Barbara Kruse und Andreas Giesen für die fachkundige Prozessbegleitung und Moderation des Symposiums. Dr. Miriam Haller, Ruth Suermann und Pascale Rudolph haben zum Entstehen dieser Publikation redaktionell und organisatorisch mit großer Sorgfalt beigetragen.

Ausblick: Das Thema Alter(n) in all seinen Facetten ist in vielen Köpfen und Institutionen angekommen und wird bereits lebhaft diskutiert. Wir hoffen, mit dieser Publikation die Diskussion weiter zu befeuern. Ein großer Schritt in Sachen Systemwandel wäre die zeitnahe Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens in angemessener Höhe, das die sozioökonomische Lage vieler Künstler*innen, ob jung oder alt, bedeutend verbessern würde. Wir hoffen diesbezüglich auf ein baldiges Handeln seitens der Politik.

ANGIE HIESL + ROLAND KAISER, Mai 2022

1 Eine ausführliche Dokumentation zum Symposium findet sich unter www.angiehiesl-rolandkaiser.de

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