Theater der Zeit

Auftritt

Theater Lindenhof Melchingen: Eine starke Stimme für die Unerhörten

„Am Ursprung der Welt. Von Hebammen und ihren Gechichten“ – Stückentwicklung von Carola Schwelien, Hannah im Hof, Linda Schlepps und Rino Hosennen – Regie Carola Schwelien, Bühne und Kostüme Ilona Lenk

von Elisabeth Maier

Assoziationen: Baden-Württemberg Theaterkritiken Theater Lindenhof

„Am Ursprung der Welt“ am Theater Lindenhof. Foto Kalle Kalmbach/Theater Lindenhof
„Am Ursprung der Welt“ am Theater LindenhofFoto: Kalle Kalmbach/Theater Lindenhof

Anzeige

Mit ruhiger Stimme spricht der Schauspieler Rino Hosennen von der Pränataldiagnostik. Da wird schon im Mutterleib untersucht, ob das Kind zum Beispiel mit Trisomie 21 geboren wird. Dann stockt die Stimme des Schauspielers. „Wenn eine werdende Mutter diese Diagnose bekommt, entscheiden sich neun von zehn Frauen für einen Abbruch.“ Hebammen und ihren Geschichten gibt das Ensemble des Theaters Lindenhof in der Stückentwicklung „Am Ursprung der Welt“ eine starke Stimme.

Die Idee für das Rechercheprojekt kam von Linda Schlepps, langjähriges Ensemblemitglied des Regionaltheaters auf der schwäbischen Alb. Sie ist selbst Mutter und weiß um die schwierige ökonomische Situation, in der Hebammen stecken. Gesetzliche Vorgaben, Gebührenordnungen und steigende Versicherungsbeiträge machen es den Frauen schwer, ihre berufliche Existenz zu sichern.

Gehörten Hebammen in früheren Jahrhunderten bei Hausgeburten selbstverständlich dazu, gebärt heute der Großteil der Mütter in Kliniken. Dennoch sind Geburtshäuserwieder im Kommen. Langsam setzt da ein Umdenken ein. Und für die Betreuung von Mutter und Kind ist das Wissen der staatlich geprüften Hebammen unverzichtbar. Mit zusammengerollten Frotteehandtüchern, Waschschüsseln und einem Holzkonstrukt, das an einen Geburtsstuhl erinnert, hat Ilona Lenk auf der Studiobühne des Lindenhofs einen Raum geschaffen, der Spuren in die Vergangenheit legt. So mag es einst auf den Bauernhöfen ausgesehen haben, als die Frauen ihre Kinder zur Welt brachten. Doch Lenks visuellen Konzept geht tiefer. Das Ensemble entwickelt die Tücher mit Papier. Am Ende entsteht daraus eine Skulptur.

Unaufhörlich arbeitet Hannah im Hof. Gefangen in Routinen der Geburtshilfe, erzählt sie vom Alltag in den Krankenhäusern. In ihren klaren, schnörkellosen Worten bleibt wenig übrig vom geheimnisvollen Klischee der Frauen, die Kindern den Weg ins Leben ebnen. Klug arbeiten die Schauspieler:innen heraus, dass der Rassismus auch vor den Türen der Kreißsäle nicht haltmacht. „Afrikanische Frauen gebären viel natürlicher“, sagt Linda Schlepps. Da schwingt die ihr eigene Ironie in der Stimme mit, wenn sie Sätze wie diesen sagt. Denn in der Zuschreibung auf der Basis von Hautfarbe und Nationalität impliziert schon die Gefahr einer Diskriminierung. Da berichtet eine Hebamme, wie sie einer Frau aus einem anderen Kulturkreis eben weniger Aufmerksamkeit schenkt, als die in Schmerzen lag. „Am Ursprung der Welt“ ist auch ein Appell, damit ehrlich umzugehen.

In den vielen Interviews und Gesprächen, die die Spieler:innen des Lindenhof-Ensembles mit Hebammen geführt haben, ging es auch um Zukunftsperspektiven. Wenn Hannah im Hof vom Zauber des Geburtsvorgangs erzählt, blitzt für Augenblicke die Faszination auf, die ihn umgibt. Doch die Wirklichkeit in den Krankenhäusern sieht anders aus. Da kämpfen die Hebammen um Anerkennung. Von den Ärzten anerkannt zu werden, ist für sie noch immer keine Selbstverständlichkeit – und das, obwohl sie die Ausbildung immer mehr dem Medizinstudium annähert. Auch diesen Konflikt bringt das Ensemble ehrlich zur Sprache. Die Schattenseiten des Jobs stehen da im Fokus. Der Traum von einem eigenen Geburtshaus, in dem die Schwangeren auf möglichst natürlichem Weg ihre Kinder zur Welt bringen dürfen, bleibt den meisten Hebammen verwehrt. Sie mache heute nur noch Nachsorge und Stillberatung, lässt Linda Schlepps eine der Frauen sprechen. Aus den Worten spricht Frust. Dabei leiden die Hebammen zunehmend unter dem Erwartungsdruck der jungen Mütter. Die ließen sich in der Schwangerschaft von vorne bis hinten bedienen.

Nachdenklich macht das spannende Rechercheprojekt des Theaters Lindenhof. Ein Defizit der brillant recherchierten Regieaarbeit von Carola Schwelien ist, dass die Texte zu isoliert im Raum stehen. Jeder Geschichte aus dem Leben der Hebammen, die im Alltag kaum jemand hören will, berührt zwar immer wieder. Doch oft bleiben die Spieler:innen zu sehr im Dokumentarischen stecken. Dann wirkt der Abend überladen. Die Chance, im Spiel das Ungesagte zu ergründen, wird vertan. Die Erkenntnis der Geburtshelferinnen, dass sie im medizinischen Betrieb an den Rand gedrängt werden, vermittelt das Ensemble dann zu verkopft.

Erschienen am 18.12.2024

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Die „bunte Esse“, ein Wahrzeichen von Chemnitz
Alex Tatarsky in „The Future Is For/ Boating“ von Pat Oleszkos, kuratiert von ACOMPI für die Galerie David Peter Francis, Juni 2024, vor dem Lady Liberty Deli im St. George Terminal, Staten Island, New York