Auftritt
Theater für Niedersachsen: Coming of Age als Kampfansage
„unsere anarchistischen herzen“ (UA) – Regie Moritz Nikolaus Koch, Bühne und Kostüm Nele Rohland, Musik und Sounddesign Oliver Niess, Dramaturgie Cornelia Pook
von Björn Stöckemann
Assoziationen: Theaterkritiken Niedersachsen Moritz Nikolaus Koch Lisa Krusche TfN • Theater für Niedersachsen

Charles‘ Vater rennt nackt, voller Drogen und mit einem Puppenkopf unter dem Arm durch Charlottenburg. Seine Tochter lotst routiniert einen Uber-Fahrer auf seine Fersen. Eile sei geboten, erklärt sie Achim. Papa war Autonomer und habe es nicht so mit der Staatsgewalt. Gustav ist aber schon mit Bademantel unterwegs. Währenddessen prügelt sich Gwen nachts hinter einem verlassenen Supermarkt. Ihre Fäuste sind golden, auf ihrer Taille ist Silber, der Asphalt ist rot. Irgendwer hat die Bullen gerufen. Scheißaktion. Abhauen. „sind jetzt bei mecces.“ - „ok, komme dahin“ - blaue Haken. Melanie Sidhu und Nina Carolin brüllen und flüstern diese ersten Kapitel ins Publikum beziehungsweise ins Mikrofon, tanzen im Takt der Percussion, wiegen sich zur Beschreibung eines schwingenden Penis. Dann hebt sich der Vorhang.
Carolin und Sidhu spielen die Hauptfiguren von „unsere anarchistischen Herzen“. Vor zwei Jahren hat Lisa Krusche diesen ihren Debütroman veröffentlicht, Moritz Nikolaus Koch hat ihn jetzt für die Bühne adaptiert und inszeniert die Uraufführung am Theater für Niedersachsen (TfN) auch. Buch und Stück erzählen von zwei Freundinnen, Charles und Gwen. Erstere zieht mit ihrer Familie von der Hauptstadt aufs Dorf, weil ihre Eltern (enttäuscht vom Leben, der Gesellschaft, vor allem aber einander und sich selbst) dort auf Inspiration und Gegenkultur hoffen. Gwen wiederum bringt ihre Jugend in der besseren Gesellschaft ihrer Eltern zwischen Kopfschütteln und Desinteresse, sexuellen Übergriffen und protzigen Statussymbolen hinter sich. Beide sind alt genug, um die Unzulänglichkeiten ihrer Eltern zu erkennen, aber noch nicht alt genug, um sie verstehen zu können. Sie toben also durch diesen „Not a girl, not yet a woman“-Lebensabschnitt, voller Wut, voller Fragen, voller Gefühle und voller Farben – und das, ausgerechnet in der niedersächsischen Provinz.
„unsere anarchistischen herzen“ erzählt unmittelbar aus Perspektive der Hauptfiguren. Ein zotteliges Pony sieht aus wie „eine gottverdammte Beautyqueen“, jedes Wort aus dem Mund der Eltern klingt wie „Blablabla“ und Sonnenblumen wachsen auf die Größe von Bäumen. In den Figuren der beiden Frauen steckt immer noch eine kindliche Spielfreude, die Koch sein Ensemble ausleben lässt. Ein lila Sofa verwandelt sich in ein Auto, wie tief das Wasser bei der Szene am Fluss ist, entscheidet jede:r Schauspieler:in wie es ihm oder ihr gefällt und Mittelpunkt dieser Bühnenwelt ist ein Kioskkühlschrank voll Wassermelonen und Eisteedosen. In seinen guten Momenten – und die sind zahlreich – fängt das Stück dieses Gefühl von Abenteuer ein, das in Teenager-Jahren selbst ein durchschnittliches Wochenende oder ein gewöhnlicher Nachmittag verströmen konnte. Sonnenstunden am See, Knutschen auf einer verqualmten Tanzfläche, sich mit ein paar 20-Euro-Scheinen und einer blutigen Nase wie der König der Diebe fühlen. Wie sich „unsere anarchistischen herzen“ in diese Gefühls- und Erlebniswelt von Jugendlichen stürzt, macht den Reiz dieses Abends aus.
Auch und obwohl das Stück hoffnungslos überzeichnet und romantisiert. Obdachlose sind zutraulich und knuddelig wie ihre Hunde, hinterm Tresen stehen die besten Lehrer fürs Leben und überhaupt ist alles so schön bunt hier! Ein „Lieblingsstellen-Massaker“ hat Koch für seine Zwei-Stunden-Fassung des 444-Seiten-Romans versprochen. Trotzdem will seine Adaption immer noch arg viele Figuren und Ideen auf die Bühne bringen. Die Hippie-WG von Charles fasst Koch zwar in einer Figur zusammen, aber selbst über die ließe sich noch streiten. Mehr als einen Witz über alte Frauen, die auf Schafsfelle bluten, fügt die Rolle der Geschichte nämlich kaum bei. Koch trifft den Kern der Vorlage, fügt aber auch viele Details, Referenzen und Bedeutungsebenen hinzu. Der Kopf will arbeiten, das Herz aber mitgehen.
Unverzichtbar sind aber Sidhu und Carolin. Die beiden Hauptdarstellerinnen gehen voll in ihren Rollen auf. Sidhu lässt ihre Gwen übersprühen vor Energie, von tiefroter Wut, die vor nichts und niemandem Halt macht, am allerwenigsten vor dem eigenen Körper; die nie um einen pechschwarzen Spruch verlegen ist; strahlen kann wie wärmste Gelb, aber sich auch stets im endlosen Blau zu versinken droht. Ihr gegenüber steht Carolin als Charles, die so erwachsen sein kann, wie sie ihr Eltern gezwungen haben, zu werden, die aber eigentlich noch viel lieber Kind wäre. Pippi Langstrumpf und Mary Poppins in einer, quasi. Die beiden harmonieren ab der Eröffnungsnummer so miteinander, dass ihr Spiel und ihre Sätze ein Teil der treibenden Live-Musik zu werden scheinen, die das Stück begleiten. Wenn sie am Ende mit wehenden Haaren in den Sonnenuntergang rasen und den Titel des Stückes als Kampfansage in die Welt brüllen, dann will man selbst die geballte Faust in die Luft recken und mitrennen.
Erschienen am 5.5.2023