Intervention und Dissoziation
Kollektivbildung im politischen Theater
von Matthias Warstat
Erschienen in: Recherchen 156: Ästhetiken der Intervention – Ein- und Übergriffe im Regime des Theaters (04/2022)
Wenn es heute darum geht, politisches Theater zu interpretieren und zu bewerten, richtet sich der Blick oftmals zurück auf die Avantgarden des 20. Jahrhunderts. Dieser Rückbezug ist damit zu erklären, dass komplexe Fragen, die mit der historischen Avantgarde vor hundert Jahren verbunden waren, in modifizierter Form wieder relevant geworden sind: Welche Chancen und Risiken liegen darin, Theater für politische Zwecke zu instrumentalisieren? Wie lassen sich politische und ästhetische Dimensionen des Theaters miteinander verbinden? Kann sich das Theater mit anderen Medien (insbesondere Massenmedien) messen, wenn es um politische Relevanz und Durchsetzungskraft geht? Diese Fragen haben in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts schon Bertolt Brecht, Walter Benjamin, Erwin Piscator, Friedrich Wolf, Georg Lukács und viele andere beschäftigt – heute begegnen sie uns in verändertem gesellschaftlichem Kontext aufs Neue. Es ist von daher verständlich, dass sich politisch ambitionierte Theatermacher:innen und Performancegruppen wie im deutschsprachigen Raum etwa Rimini Protokoll, andcompany&Co., René Pollesch oder das Zentrum für Politische Schönheit explizit – etwa im Rahmen von Reenactments – mit Avantgarde-Positionen auseinandersetzen. Allerdings scheint das gesellschaftliche Umfeld dieser Positionen mit der heutigen Situation politischen Theaters nur schwer vergleichbar. Die politischen Konflikte waren anders ausgeprägt und insgesamt polarisierter. Das mediale Umfeld ließ dem Theater mehr...