4.2. Die Psychoanalyse am Rand der Melancholie
von Sebastian Kirsch
Erschienen in: Das Reale der Perspektive – Der Barock, die Lacan’sche Psychoanalyse und das ‚Untote‘ in der Kultur (07/2013)
Wie immer man die subversiven oder affirmierenden Möglichkeiten der Anamorphose als »Fool« im Königreich der Perspektive auch bewerten mag, fest steht erst einmal, dass sie eine Bildtechnik darstellt, die den Betrachter »dezentriert«, indem sie seinen zentralen Standpunkt zum Punkt unter Punkten macht und ihn überdies mit den unkontrollierbaren Voraussetzungen des Sehens und der Tatsache seines grundsätzlichen Erblicktseins konfrontiert. Insofern lässt sie sich als eine mit geometralen Mitteln herbeigeführte Überschreitung des Geometralen beschreiben, als dessen Selbstüberschreitung, die den Übersprung ins Visuelle bahnt. Tendenziell ließe sich diese Überschreitung immer weiter und bis ins Unendliche treiben, das Bild könnte immer weiter mit Anamorphosen gefüllt werden. Das Ergebnis wäre dann ein Gebilde, wie Galilei es in Tassos Versen, Goethe es in der pallagonischen Villa erkannte: Ein Raum-Bild oder Bild-Raum, die den Betrachter zwingen, in einer unabschließbaren Bewegung jeden einzelnen Geometralpunkt einzunehmen und zugleich wieder zu verlassen. Der Betrachter würde sich dann (sofern er sich vom Paranoiapol herschreibt) plötzlich von überall her erblickt fühlen – Lacan hält es genau aus diesem Grund für möglich, dass die anamorphotische Verformung »sämtliche paranoische Doppeldeutigkeiten zur Entfaltung bringt« (BOa 94). Die Anamorphosen fungieren dabei als Blicke, als jeweiliger Ort einer Übertragung des subjektiven Begehrens, der sich niemals erreichen lässt:...