England
Theaterspiel in England
von Ivor Brown
Erschienen in: Theater der Zeit: Objektive Kritik? (09/1946)
Es ist naturgemäß schwer, das Spiel aus dem Gesamtbereich theatralischer Kunst und dramatischer Produktion herauszugreifen und gesondert zu erörtern. Theaterspielen ist eine Interpretation und als solche abhängig von der Beschaffenheit des Objekts, das interpretiert werden soll. Im Theaterleben jeder zivilisierten Nation gibt es verschiedene Bereiche; Klassisches und Modernes, Ernstes und Heiteres, so dass jedes Landes Leistung (oder auch Versagen) auf dem Gebiet der Theaterkunst nach verschiedenen Gesichtspunkten beurteilt werden kann. So mag zum Beispiel das Klassische in einem Lande Triumphe feiern, während die moderne Komödie sich als schwach erweist.
Auf klassischem Gebiet steht Englands Spielkunst meines Erachtens zur Zeit außerordentlich hoch da. Solange sie sich selbst ernst nimmt, wird sie ohne Zweifel Aufführungen von ausnehmender Frische und Vitalität hervorbringen. Einer einmal geschaffenen klassischen Tradition drohen bekanntlich von zwei Seiten Gefahren: erstens, dass sie sich in endloser, mechanischer Wiederholung erschöpft wie das vielfach bei den Staatstheatern Europas der Fall ist, und zweitens, dass ein gewolltes Abgehen von dieser Tradition die Form einer geradezu kindlichen Rebellion annimmt. Das letzte ereignete sich während der ersten zehn Jahre des Bestehens des Sowjettheaters, als der Geist der Neuerung so -heftig zur Geltung kam, dass die Klassiker bis zur Unkenntlichkeit „umphantasiert“ auf die Bühne kamen. Meierholds...