Theater der Zeit

Ausland

Heidi und Rolf Abderhalden Cortés und Adriana María Urrea Restrepo vom Mapa Teatro über das Verhältnis von Gewalt und Fest in Kolumbien

von Hugo Velarde, Rolf Abderhalden Cortés, Adrina María Urrea Restrepo und Heidi Abderhalden Cortés

Erschienen in: Theater der Zeit: This Girl: Die Schauspielerin Johanna Wokalek (09/2014)

Anzeige

Anzeige

Anzeige

im Gespräch mit Hugo Velarde

Frau und Herr Abderhalden, Mapa Teatro, ihre Theatergruppe, die Sie gemeinsam mit Ihrer Schwester Elizabeth geründet haben, ist nicht nur in Lateinamerika, sondern auch in Europa bekannt. Sie waren mehrmals am Berliner HAU zu Gast, in Zürich, auf dem Münchner Spielart Festival, in Avignon. Wann und wie ist die Gruppe entstanden?

Rolf Abderhalden Cortés: Unsere Gruppe entstand 1984 in Paris. Anfangs hatten wir noch keinen Namen. Irgendwann jedoch fragte jemand danach. Zuerst stammelten wir irgendetwas vor uns hin, bis uns plötzlich „Mapa“ einfiel (auf Deutsch: Karte, Landkarte; Anm. d. Red.). Daraus wurde Mapa Teatro.

Heidi Abderhalden Cortés: Das war tatsächlich spontan. Es war wie eine Vorahnung. Wir wollten etwas Einfaches, Verständliches … So kam „Mapa“ unserer Intention am nächsten. Wir wollten eine Karte darstellen, aus der sich verschiedene Kunst- und Theaterrichtungen ablesen und verknüpfen lassen. Traditionelle Sujets sollten neu fokussiert, verortet, vermessen und durchwandert werden.

Die Karte als orientierendes Handlungsfeld. Eine multidisziplinär konzipierte Kartographie szenischer Künste? Das hört sich avantgardistisch an.

Adriana María Urrea Restrepo: Ja, ästhetisch, ethisch, politisch … Es sollte ein Ort der avantgardistischen Erweiterung bzw. der hermeneutischen Verknüpfung verschiedener Kunstfelder werden. Dabei war die Bestimmung des Aktionsradius, die Suche nach einem lokalen, lebensweltlich-heimatlichen Bezug wichtig, um den Gefahren von Selbstbeweihräucherung und Beliebigkeit nicht anheimzufallen. Deswegen kehrte Mapa Teatro nach Bogotá zurück, an den Ort, den wir als Kolumbianer am besten „kartographieren“ konnten. In dem Zusammenhang war der Rückgriff auf das „Manifiesto Antropófago“, das der brasilianische Dichter Oswald de Andrade bereits 1928 verfasst hatte, programmatisch eminent wichtig.

Ein folgenreiches, antirassistisches, heute noch fruchtbares Manifest aus Lateinamerika, das eurozentristische Ideen mit avantgardistischen Mitteln radikal infrage stellte. „Statt das Fremde wegzuschieben, das Fremde fressen“, heißt es darin. Es richtete sich gegen jede Form von Viktimisierung und Exotisierung, die man dem „guten Wilden“ postkolonialistisch angedeihen ließ, um ihn kulturell zu fixieren und damit, nunmehr in säkularisierter Form, weiterhin zu beherrschen. Dem paternalistisch vorgetragenen Verlangen nach Differenz und Humanismus setzte das Manifest „tropisches Wuchern, Wildheit und Poesie“ entgegen.

Adriana María Urrea Restrepo: Es war eine Entgegnung auf das 1924 von André Breton verfasste „Manifest des Surrealismus“. Zu der ästhetischen kamen eine ethische, sozialkritische und kulturrevolutionäre Dimension hinzu.

Wie kann die Institution Mapa Teatro diesen radikal-avantgardistischen Ansatz umsetzen?

Rolf Abderhalden Cortés: Ich möchte erst mal klarstellen, dass wir keine Institution sind. Jedenfalls nicht in konventionellem Sinne. Mapa ist ein offenes Laboratorium, in dem sich Künstler verschiedenster Couleur treffen.

Heidi Abderhalden Cortés: Witzig ist aber, dass wir eigentlich eine Stiftung sind. De jure also eine Institution. Wir begreifen uns aber normativ nicht als solche. Unsere Aufführungen sind zumeist kostenlos. Wie uns das gelingt, ist mir selbst rätselhaft.

Rolf Abderhalden Cortés: Stiftung hat hier aber eine andere Konnotation als in Deutschland. Stiftung, also „Fundación“ (Gründung, Fundierung), ist organisatorisch und juristisch nicht so komplex wie dort.

Heidi Abderhalden Cortés: Jedenfalls ist Mapa Teatro eine der wenigen Stiftungen, die Theaterarbeit stiften.

Rolf Abderhalden Cortés: Wir alle stiften hier auch alltagspraktische, nicht nur szenische Arbeit. Es gibt keine Hierarchie. Als wir 2000 diese Räume bezogen, haben wir gleich auch eine kleine gastronomische Einrichtung gegründet, in der alle arbeiteten. Sie half und hilft uns weiterhin finanziell. Das ist aber naturgemäß sehr schwer, denn wir müssen auch noch neben der universitären Beschäftigung – Heidi, Adriana und ich sind Hochschullehrer – Theaterarbeit leisten. Es ist dennoch sinnvoll, ein Teil der Ethik, die uns unabhängig macht.

Diese ethische ist dann auch eine politische Haltung.

Rolf Abderhalden Cortés: Selbstverständlich. Dadurch dass wir keine Gleichförmigkeit anstreben, keinen institutionellen Zwängen unterworfen sind, uns damit gegen das kulturelle Establishment wehren, werden wir immer wieder politisch. Das Kulturelle neu zu erfinden – das ist bereits ein Politikum. Gewiss, nicht im militanten Sinne. Es geht um einen kollektiv gestalteten „Context of Discovery“ zur Schaffung offener und damit wirklich neuer Produktionsformen.

Welche Rolle spielt dabei der multidisziplinäre Kunstbezug, der den Rahmen des traditionellen Theaters Kolumbiens sprengen kann?

Rolf Abderhalden Cortés: Der Ansatz ist nicht multidisziplinär, sondern transdisziplinär. Multidisziplinär ist problematisch, weil es, ebenso wie bei multikulturell, ein Nebeneinander suggeriert, das in das Korsett festgelegter Differenzen eingezwängt ist. Wir sind auf Übergang, Zäsur oder besser: auf Querschnitt, auf eine Transversalität aus, die sowohl Kunstproduzenten wie Rezipienten weniger Belehrendes, weniger Domestizierendes, weniger Entfremdendes zumutet. So sind wir in der Lage, dem Ordnungssinn, der nicht selten gegen die Widrigkeiten des widersprüchlichen Aufbaus der Produktion ins Feld geführt wird, zu widerstehen und unsere eigenen, aber auch die ästhetischen Fallen, die uns die Rezipienten oft stellen, zu überwinden.

Also Widerstand gegen Uniformierung und institutionelle Bindung qua Ordnungsinn, der, so Pierre Bourdieu, den „Häretikern“ auferlegt wird, damit sie immer wieder „befriedet“ werden ... Das sind doch strukturelle Fallen, die die kapitalistische Ordnung immer wieder stellt. Oder?

Rolf Abderhalden Cortés: Ja, sicher, daher weht der Wind.

Es ist verblüffend, dass angesichts dieser beklemmenden Tatsache ästhetische und politische Autonomie gedacht und gestaltet werden kann. Das strebt Mapa Teatro an. In dem am 30. Mai uraufgeführten Triptychon „Los incontados“ (Die Nichterzählten) scheint sie geradezu flügge geworden zu sein.

Rolf Abderhalden Cortés: Wir waren ansatzweise schon früher flügge. Deswegen kehrten wir nach Kolumbien zurück. Wir Anthropophagen!

Adriana María Urrea Restrepo: Lassen Sie mich an dieser Stelle klarstellen, dass diese Art Anthropophagie ein Programm zur Schaffung von Autonomie ist und somit jener Reinigung und Verunreinigung folgt, die das Leben selbst immer wieder bereithält. Um sehr profan zu werden: Uns treibt die Analogie des metabolischen Kreislaufs. Es ist wie verdauen: also verzehren, aufnehmen, ausscheiden und vice versa.

Rolf Abderhalden Cortés: Eigentlich sollen Subjektivitätsformen gefressen werden.

Adriana María Urrea Restrepo: Gewiss, aus dem Kontext des Rituellen heraus. Um das zu verstehen, muss man ins 16. Jahrhundert zurückgehen. Eine durchaus faszinierende Angelegenheit. Bei den Spaniern ging es um die Konstruktion des Amerikanischen aus der Vorstellung des Kannibalismus heraus. Den Anderen fressen … Fressen zur Schaffung eines anderen Selbst. Nie wieder verwandelten sich „verunreinigte“ amerikanisierte Spanier in „reinlich“ autochthone Spanier zurück; nie wieder konnten hispanisierte Amerikaner „reine“ autochthone Indigene werden. Die Anthropophagie hatte ihnen den irreversiblen Tribut der „verunreinigenden“ Metamorphose aufgetischt. Es waren vollendete Tatsachen. Was folgt daraus? Man wird anders, indem man sich das Andere einverleibt und somit irgendwann das Andere selbst verkörpert. Das Selbst lebt vom Anderen. Ein genuin anthropophages Bild.

Auch ein Hegelʼsches Bild. Die Phänomenologie des Geistes als dynamisierte Substanz. In der Folge ist die Entdeckung des Anderen die Entdeckung der Vernunft selbst, die man nur erschließen kann, wenn man welthistorisch denkt. Dennoch, das Andere der Vernunft ist nicht die Idee selbst, sondern ihr Fleisch, ihr Körper und Leib, aus dem sie sich selbst speist. So macht Anthropophagie einen Sinn.

Rolf Abderhalden Cortés: Welthistorisch wurde aber nur die europäische Vernunft dominant.

Gewiss, die bürgerliche Vernunft.

Adriana María Urrea Restrepo: Mit Jahrhunderte währenden anthropophagen Konsequenzen …

Die für einen zivilisationstheoretischen und -kritischen Ansatz berücksichtigt werden und so zu einer weiteren Kritik (im Kantʼischen und Marxʼschen Sinne) des zwischen Zivilisation und Barbarei schwankenden und vielleicht doch indes dahinsiechenden Kapitalismus führen müssten. Es geht um Objekt- und Selbsterkenntnis als Subjektivitätsbezug, der nicht nur gedacht, sondern im Performativen und somit auf den Feldern der performativen Künste gelebt werden kann.

Adriana María Urrea Restrepo: Richtig. Aber historisch betrifft das nicht nur den Kapitalismus, wobei die kapitalistische Gesellschaft sicher im Verzehren von Arbeits- und Lebenskräften ihre spezifisch anthropophage Seite hat.

Rolf Abderhalden Cortés: Jetzt taucht ein sehr interessanter, konkreter Aspekt auf – die moralische Problematisierung. Was als abstrus, eine entsetzliche Verirrung, eine Abnormität in Gestalt des Anthropophagen verstanden und damit fortan mit dem Kannibalismus assoziiert wurde, verkannte die Tatsache, dass das Kannibalische nur ein Moment des Anthropophagen war. Es war vor allem die Suche nach Identität oder nach Identitäten. Das ist weiterhin ein großes Problem in Lateinamerika – die Sehnsucht nach einer feststehenden Identität. Es geht aber nur im Plural. Wir müssen weiterhin das Andere fressen, statt es wegzuschieben. Wichtig ist dabei, Subjektivitätsformen immer wieder zu durchbohren.

Adriana María Urrea Restrepo: Man wird sich also durch neue Differenzen kategorisch neu erfinden, neu imaginieren müssen.

Heidi Abderhalden Cortés: Ja, sich neu imaginieren … Wir starteten vor dreißig Jahren nicht mit einer fixierten Programmatik. „Wir sind Mapa, ein Laboratorium, transdisziplinär, haben eine ethische Praxis oder sind überzeugte Anthropophagen“ … All das ergab sich im Laufe der Jahre. Unsere Praxis hat unser Selbstverständnis bestimmt. Das Resultat ist eben nicht der Ausgangspunkt.

Adriana María Urrea Restrepo: Das wissen wir natürlich erst heute!

Es gab also keine ursprüngliche Aussage zur Programmatik.

Heidi Abderhalden Cortés: Ja, was entstand und weiterhin entsteht, folgt der Situation. Es ergibt sich stets aus unserer Selbstbeobachtung. Bestimmend ist der selbstreferenzielle Rückgriff, um selbst reflexiv zu werden.

Die Relativierung klingt nicht reflexiv in bewusstseinsphilosophischem Sinne, sondern nach einem situationistischen Muster.

Rolf Abderhalden Cortés: Ja. Das ist uns sehr sympathisch. Aber wir sind eben nicht situationistisch, sondern anthropophagisch im bereits besprochenen Sinne. Situationistisch gefasste Situationen werden nebeneinander gedacht. Wir leben im Durcheinander. Bei uns gibt es keine feste Architektur. Wir richten uns also nicht nach feststehenden Prinzipien wie Linearität oder Kohärenz. So ist für uns zum Beispiel Gastfreundschaft nicht ein Prinzip des guten Benehmens … Sie sehen doch, was hier in unseren Räumen passiert. Es geht um ein Sich-Aufeinander-Zubewegen von sehr unterschiedlichen Menschen, woraus neue Felder entstehen, viele Projekte, deren Verwirklichung sonst unvorstellbar wäre.

Lassen Sie uns über „Los incontados“ sprechen, eine Produktion, die sich durch ein fein abgestimmtes Gemisch aus Archivmaterial, Zeugenaussagen, Dokumenten und Fiktionen auszeichnet. Es geht um drei Stationen von Gewalt und Festlichkeit in Kolumbien. Was haben diese offenen Wunden Kolumbiens mit Ihrem anthropophagen Theaterkonzept zu tun?

Heidi Abderhalden Cortés: Es geht wieder um dieses „Andere“, das in Kolumbien in den Alltag eingebettet ist, einen kulturellen Schatten und immer wieder eine Herausforderung darstellt. „Los incontados“ ist ein Konglomerat offener Fragen, die wir uns seit Langem, eigentlich seit sechs Jahren, über das Verhältnis von Fest und Gewalt in Kolumbien gestellt haben. Darin wurden montageartig, quasi filmisch, in intensivierter und verdichteter Form andere Stücke integriert: erstens das Stück „Los santos inocentes“ (Das Fest der unschuldigen Kinder) aus dem Jahr 2010. Man feiert auf der Straße eines entlegenen Dorfes an der Pazifikküste Kolumbiens, wo maskierte Männer in Frauenkleidern jene Unmaskierten (die „Anderen“) mit Peitschen traktieren, die es wagen, die Straße zu verlassen. Dieses Fest findet tatsächlich an jedem 28. Dezember statt, ist ein Sinnbild des rituellen Verhältnisses von Fest und Gewalt in Kolumbien. Unschuld wird hier kindlich. So unschuldig wie die verwundbare Bevölkerung, die in dieser Gegend oft paramilitärischer Gewalt ausgesetzt war.

Danach, 2012, entstand das Stück „Discurso de un hombre decente“ (Rede eines Anständigen), in dem das Verhältnis von Fest und Drogenhandel dargestellt wird. Es geht um den malariakranken, sich omnipotent gebenden Drogenboss Pablo Escobar, der, begleitet von seiner Diva und seinem musischen Privatunterhalter, in seinem Haus im Urwald zum Beispiel deliriert: „Meine erste Amtshandlung als Staatspräsident Kolumbiens wird die Legalisierung des Drogenhandels sein.“

Das dritte Stück, „Los incontados“ (2014), in das die anderen zwei integriert wurden, wendet sich dem Verhältnis von Fest und Guerilla, eigentlich von Fest und Revolution zu. In einem intim wirkenden Wohnzimmer warten Kinder und ein Zauberer vergeblich auf ein Fest. Eine Groteske von Hoffnung und Resignation nimmt ihren Lauf. Während Camilo Torres, ein revolutionärer Priester, in den 1960er Jahren die ausschweifenden Feste beenden wollte, damit endlich die Revolution einsetzen könne, war dreißig Jahre später, hedonistisch gewandelt, oft zu hören, dass die Revolution eigentlich das Fest sei, das die neuen Verhältnisse mit sich bringen würden. Ein Fest, wie gesagt, das nicht stattfand.

Während der Akademie Experimenta Sur wurde in den verschiedenen Workshops das Verhältnis von Intimität, Privatheit und Öffentlichkeit betont. Wie wurde es mit „Los incontados“ verknüpft?

Rolf Abderhalden Cortés: Das sind drei Sphären, Räume, die in diese Montage einflossen. Uns fiel auf, dass das in Kolumbien so sensible und starke Verhältnis von Fest und Gewalt in der Öffentlichkeit auch eine intime und private Konnotation hat. Wir arbeiten ohnehin mit Räumen, könnte man sagen, die ineinander übergehen, sich öffnen und schließen, so etwas wie Schichten bilden … Unsere raumbezogene Dramaturgie richtet sich nicht nach einem Skript oder Regiebuch. Es geht eher um so etwas wie eine chaotische Partitur, in der visuelle, tonale und performative Elemente zusammenkommen, aufeinander verweisen. Die Räume werden permanent von Körpern durchkreuzt. Das ist für uns sehr wichtig, weil damit, im Unterschied zu anderen Konzepten in Kolumbien, unser Verständnis des Politischen zum Ausdruck kommt. Der erste Ort, wo das Politische entsteht und sich manifestiert, ist eben der Körper. Darin sind diese drei Sphären verknüpft. Es geht also nicht um eine diskursive, sondern um eine körperliche Verknüpfung.

Es geht also nicht um das Politische als diskursive Öffentlichkeit, sondern um Macht.

Rolf Abderhalden Cortés: Ja, aber nicht nur. Es geht um das Einwirken des Politischen auf die Körper und auch um die durch die Körper hindurch produzierte „Aufteilung des Sinnlichen“, wie es Jacques Rancière nannte. Deswegen durchkreuzen in dem Stück die Körper permanent das Intime, Private und Öffentliche. An dieser Stelle möchte ich unseren Dissens zum sogenannten Dokumentartheater zum Ausdruck bringen. Um Objektivität herzustellen, geht es oft darum, Stoffe so zu sammeln, als könne man sie „lebensreinigend“ aus Dokumenten einfangen, um sie dann gewissermaßen mit einer festgelegten Dramaturgie nachträglich zu organisieren, zu rekonstruieren und dann zu inszenieren. Dabei wird nicht bedacht, dass die Fiktion unserer eigenen Geschichten eng mit realhistorischen Bruchstücken verschränkt ist. So sind all die Elemente der Dramaturgie von „Los incontados“ Überbleibsel von Gedächtnisformen, die an sich nicht nur das Verhältnis von Feiern und Sterben zum Ausdruck bringen, sondern auch damit verbunden sind, dass das Festliche in Kolumbien uns von Kindheit an in verschiedene Szenarien versetzt hat. Deswegen spielen hier die Kinder eine so zentrale Rolle, deswegen wirken im Raum auch die revolutionären Losungen so losgelöst, deswegen sind sie mit unseren visuellen und auditiven Eingriffen so eng verknüpft. Wir selbst könnten „Los incontados“, die Nichterzählten sein.

Adriana María Urrea Restrepo: Zum Politischen: Man muss klarstellen, dass wir in Kolumbien der Politik nicht viel zutrauen. Wir sind sehr skeptisch geworden, weil in diesem Land politisch nichts gelöst wurde. Das Politische stellt sich eher mikropolitisch als Solidaritätsband dar, ist sehr flüchtig, kreuzt sich mit affektiven Elementen wie Respekt, Zuneigung, Zusammenhalt, Gemeinschaftlichkeit. So betreiben wir Politisches nicht im traditionell öffentlichen Sinne, weil es sowieso keine Resonanz hat. Das Politische stellt sich also als Kreuzweg des Intimen, Privaten und Öffentlichen dar.

Heidi Abderhalden Cortés: Wir leben hier in derart eklatanten Widersprüchen, unter so vielen Paradoxien, die, ob oppositionell oder nicht, das öffentlich-politische Spektrum selbst erzeugt, dass man zur Bestimmung dessen, was in Kolumbien als „Anatomie der Gewalt“ bekannt und für uns grundlegend ist, immer wieder auf die Verschränkung dieser drei Sphären zurückgreifen muss.

Adriana María Urrea Restrepo: Das Verbindende ist leider oft nur provisorisch. In Kolumbien ist alles provisorisch, das Provisorische ist Modus Vivendi von Common Sense und Expertenkulturen. Daraus folgt Improvisation, die aus der Not eine Tugend machen kann. Das gelingt aber nicht immer.

Welche Möglichkeiten hat man dann zum strukturierten Widerstand gegen kooptierende Instanzen und Institutionen?

Heidi Abderhalden Cortés: Wir müssen ästhetisch zeigen, was uns ethisch auszeichnet. Deswegen war dieses Triptychon als Konzentrat und Brennpunkt der Schnittstellen intimer, privater und öffentlicher Gewalt so grundlegend. Es ist in dem Sinne ein Manifest, weil es diese drei Instanzen offenbart, also manifestiert.

Rolf Abderhalden Cortés: Widerstand kann in dem Sinne auch bedeuten, dass man sich vom instrumentalisierenden Charakter des Öffentlichen zurückzieht. Auch um dem Preis einer strukturellen Schwächung. Damit haben wir vor dreißig Jahren begonnen. Wir versuchen in dem Sinne autonom zu bleiben, uns zum Beispiel nicht von öffentlichen Zuschüssen abhängig zu machen. Und so müssen wir immer wieder neue Arbeits- und Produktionsformen erfinden, damit unser Konzept nicht kooptiert werden kann. In dem Sinne sind wir keine Institution, kein Theater mit einem festen Ensemble. Es sind keine 17 Schauspieler, die für das nächste Stück eingeplant werden müssen. Wir treffen uns für ein Projekt und dann trennen wir uns. Wir bilden stets so etwas wie zeitlich austauschbare Experimentiergemeinschaften.

Wer ist der nicht austauschbare Kern von Mapa Teatro?

Rolf Abderhalden Cortés: Außer uns dreien sind das die Film- und Fernsehproduzentin Ximena Vargas und der Schauspieler José Ignacio Rincón, der die ganze technische Arbeit leistet.

Zum Schluss die obligatorische Frage nach Ihrer Zukunft. Was steht an?

Heidi Abderhalden Cortés: Wir werden am 28./29. November 2014 sehr musikalisch werden. Auf dem Plan steht „Orpheus“. Es soll aber keine klassische, sondern eine schamanische Oper werden – in Zusammenarbeit mit Arpeggiata, dem europäischen Musikensemble von Christina Pluhar. Und nächstes Jahr steht die Fortsetzung von Experimenta Sur an. Mal sehen, was daraus wird.

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Die „bunte Esse“, ein Wahrzeichen von Chemnitz
Alex Tatarsky in „The Future Is For/ Boating“ von Pat Oleszkos, kuratiert von ACOMPI für die Galerie David Peter Francis, Juni 2024, vor dem Lady Liberty Deli im St. George Terminal, Staten Island, New York