Editorial
Das Gorki ist eine Geschichte von Vielen
von Shermin Langhoff
Erschienen in: Zeitgenoss*in Gorki – Zwischenrufe (03/2023)
Womöglich haben Sie schon ausgiebig in Zeitgenoss*in Gorki geblättert, bevor Sie es mit der Lektüre dieses Vorworts versuchen. Genau so hätte ich es Ihnen empfohlen! Vielleicht haben Sie gesehen, dass wir Ihnen Schauspieler*innen zeigen, wie sie auf der Bühne selten zu sehen sind: Gesichter in Großaufnahmen. Unter Umständen haben Sie selbst viele von denen, die Sie schätzen und lieben, nicht wiedererkannt. Wir kennen selbst das, was wir kennen, meist nur aus bestimmten Blickwinkeln.
Das Theater versucht, die Welt aus verschiedenen Perspektiven darzustellen. Wir inszenieren Wirklichkeiten. Wir bilden sie nicht ab. Die Plakate, die Esra Rotthoff für uns entwirft, zeigen das überdeutlich. Sie sind so artifiziell, wie es das Theater kaum sein kann. Es bedeutet einen Unterschied, ob man eine Person für den Bruchteil einer Sekunde aus einem einzigen Blickwinkel einfängt oder ob sie sich über eine Stunde lang auf der Bühne vor Hunderten von Zuschauer*innen bewegt.
Wenn Sie weiter durch diesen Band blättern, sehen Sie Menschen, die Sie gar nicht wiederkennen können. Es sind Mitarbeiter*innen, die zwar auf der Bühne stehen – manche von ihnen machen sie sogar erst zu einer –, aber sobald Sie, die Zuschauer*innen, Platz genommen haben, werden sie unsichtbar. Theater ist nur so gut wie das, was Sie zu sehen bekommen. Aber das hängt von vielem ab, das Ihnen nicht nur nicht gezeigt, sondern sogar vor Ihnen verborgen wird. Das Theater ist eine Schau- und Hörbühne. Aber damit es das sein kann, bedarf es der Arbeit sehr, sehr vieler, die dort weder zu hören noch zu sehen sind. Ein paar von ihnen haben in diesem Buch einen kleinen Auftritt, weil wir auch sie sichtbar machen möchten. Verdient hätten sie einen viel größeren.
Dieses Buch, auch dieses Vorwort, will nicht erklären, was wir getan haben, was wir tun. Wir wollen es zeigen. Mit mehr als 400 Fotografien und mit 99 „Zwischenrufen“ von Zeitgenoss*innen, die unsere Arbeit begleiten.
Esra Rotthoff inszeniert, wie bereits gesagt, unser Haus. Ute Langkafel dokumentiert als Fotografin unsere Inszenierungen und andere Veranstaltungen. Lutz Knospe sorgt dafür, dass auch der Backstage-Bereich und die Partys fotografisch festgehalten werden. Alle drei zusammen – mit ihren sehr unterschiedlichen Blicken auf das Geschehen – zeigen sehr viel von dem, was wir hier am Gorki machen und wie wir es tun.
Wir spielen ja nicht nur Theater auf der großen kleinen Gorki-Bühne. Im Studio Я probieren wir – seit Sasha Marianna Salzmann es 2013 als Kunstasyl eröffnete – mit Performance, Diskurs und Disco manchmal auch, wie weit wir mit dem Publikum gehen können. Und hier probiert das Publikum, ob es mit uns gehen möchte.
Seit 2013 organisieren wir im Kollektiv den biennalen „Berliner Herbstsalon“, eine große Ausstellung bildender und performativer Kunst. 1913 hat Herwarth Walden in seinem ersten und einzigen „Deutschen Herbstsalon“ die expressionistischen und futuristischen Erneuer*innen aus der ganzen Welt ausgestellt. Hinter unserem Berliner Herbstsalon steht die Überzeugung, dass die darstellende von der bildenden Kunst lernen kann. Gerade auch dort, wo sie dem widerspricht, was unsere Praxis ist. Es geht uns immer um Vielstimmigkeit, um die Vielfalt von Personen, Formen und Perspektiven. Leben – dazu gehört das überraschende Abenteuer hinter der nächsten Ecke. Das Maxim Gorki Theater war und ist immer wieder ein solches Abenteuer für mich. Wie die Intendantin Shermin Langhoff es auch für das Gorki war. So wie Migrant*innen und ihre Geschichten zur deutschen Geschichte gehören, so gehört heute zur DNA des 70-jährigen Maxim Gorki Theaters das bald 20 Jahre alte postmigrantische Theater.
Wir haben uns den Spaß erlaubt, diese 70 Gorki-Jahre, die fast 20 Jahre postmigrantisches Theater sowie die neun Jahre meiner bisherigen Intendanz zu addieren. Das macht 99. So viele Wegbegleiter*innen, Zuschauer*innen, Freund*innen, Künstler*innen und Kreative vor und hinter den Kulissen haben wir gebeten, mit einem „Zwischenruf“ ihren ganz eigenen Blick auf das Gorki und die Vorgeschichte des postmigrantischen Theaters im HAU Hebbel am Ufer und im Ballhaus Naunynstraße zu werfen.
Unser Gorki speist sich aus vielen Quellen. Wir nutzen diese Gelegenheit, auch an sie zu erinnern. Wir wissen, dass jede Geschichte, also auch die dieses Theaters, eine Geschichte von Vielen ist, dass sich jede Geschichte auch ganz anders erzählen lässt, dass erst aus der Vielzahl der Perspektiven und Stimmen ein lebendiges Bild entsteht, das dennoch nie ein vollständiges sein wird.
Mein Dank gilt all den Zwischenrufenden, die zu diesem Buch beigetragen haben. Eine Bitte um Entschuldigung richte ich an alle, die hier – noch – nicht vorkommen. Wir werden die Idee und Praxis des postmigrantischen Theaters in einer kommenden Publikation weiter und genauer beleuchten, reflektieren, zur Diskussion stellen – und dazu noch mehr Kolleg*innen, Regisseur*innen, Autor*innen, Dramaturg*innen, Spieler*innen und Kritiker*innen einladen.
Zeitgenoss*in Gorki ist ein Buch der Assoziationen. Nicht nur der von Gedanken. Auch Menschen werden hier assoziiert, zusammengeführt und motiviert. Umgekehrt gilt das natürlich auch: Ohne die vielen Zuschauer*innen, Freund*innen und Förder*innen, die unsere Arbeit am Gorki Theater tragen, bereichern und befeuern, wären etliche Projekte nie zustande gekommen. Auch in diesem Sinne gilt: Das Gorki ist eine Geschichte von Vielen. Wir machen Theater, also lieben wir es, wenn unsere Zeitgenoss*innen die Zeit bei uns genießen. Aber wirkliche Zeitgenoss*in ist doch nur, wer versucht unsere Zeit, unsere Lebensumstände mitzugestalten – durch Veränderung, die meist nicht ohne Widerspruch zu haben ist. Manchmal braucht es Mut dazu. Ein andermal hilft schon gute Laune. Zu beidem versuchen wir beizutragen. Im Theater, bei all unseren Veranstaltungen und auch mit diesem Buch.
Wenn Sie in den 99 Texten lesen, stoßen Sie auf ein Lob der Platane im Garten des Maxim Gorki Theaters oder auch auf die weißen Bänke, auf denen so viele Pläne ausgeheckt wurden. Aber glauben Sie mir, zu einem Theater gehören auch Konferenztische und Büros. Die zündende Idee zu einem besonders poetischen Theaterabend wurde vielleicht zwischen Resopalplatten geboren.
Wenn Sie dann weiter in den Texten lesen, bieten sich Ihnen jede Menge unterschiedlicher Blicke auf unsere Arbeit. Und doch verzichten nur wenige der 99 Zwischenrufe auf den Begriff des postmigrantischen Theaters. Ich habe natürlich nichts dagegen. Aber ist die Aufmerksamkeit, die er bekommt, ein Erfolg unserer Propaganda-Arbeit? Oder eher dem Umstand geschuldet, dass das Gorki immer noch exotisch wirkt? Es hat jedenfalls sehr lange gedauert, bis die großen deutschen Bühnen anfingen zu verstehen, dass die Gesellschaft, von der sie lebten, für die sie spielten, auch migrantisch geprägt war. „Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen“, erklärte 1965 der Schweizer Schriftsteller Max Frisch. Stéphane Bauer erinnert in seinem „Zwischenruf“ daran und regt an zu ergänzen: „Noch schlimmer, es kommen Künstler*innen!”
Meine eigene Geschichte mit dem postmigrantischen Theater möchte ich jetzt nicht ausbreiten. Sie ist nicht zu verstehen ohne mein Aufwachsen zwischen der Ägäis bei meinen Großeltern, die Überlebende von Krieg und Völkermord waren, und später in Nürnberg unter exilierten Antifaschist*innen, Künstler*innen und Aktivist*innen. Es gab noch mehr, neben der Kunst und dem Antifaschismus – oder gerade angeregt durch beide –, das schon dort zu meiner Historie gehörte: das Interesse an jüdischer Geschichte in Deutschland ebenso wie das Interesse am anderen Deutschland, an der DDR.
Wir sind nicht festgelegt auf die Identität, die man uns zuspricht, nicht einmal auf die, die wir uns selbst zuschreiben. Das weiß niemand besser als wir am Theater. Das ist eine der wichtigsten Lektionen, die eine Gesellschaft vom Theater lernen kann. Vorausgesetzt, das Theater hat auch von der Gesellschaft gelernt.
Theater erzählt immer auch Geschichten. Schon aus Gründen der Dramatik sollten es sehr unterschiedliche, abwechslungsreiche Geschichten sein. Die Migration hat Deutschland Millionen neuer Geschichten geschenkt. Schreckliche und schöne. Ein paar Dutzend davon haben wir in den vergangenen neun Jahren am Maxim Gorki Theater auf die Bühne gebracht. Manche haben wir in bereits bekannte Stücke hineingeschmuggelt. Das Fehlen dieser Geschichten war der Ausgangspunkt für die Idee des postmigrantischen Theaters. Stückentwicklungen mit den Mitgliedern des Ensembles spielten eine wichtige Rolle für die Produktion neuer Texte. Das postmigrantische Theater war auf diese Arbeit angewiesen. Zu wenig erzählten die Stücke des überkommenen Kanons von denen, ohne deren Geschichten es kein neues Deutschland gäbe und geben wird.
Wir haben am eigenen Leib gelernt, Geschichte persönlich zu nehmen. In der Auseinandersetzung mit Fragen von Exil, mit politischen Zerwürfnissen, die nicht weniger geworden sind seit unserem Start am Haus. Auch im Bemühen, den Erzählungen Raum zu geben, die bis dato nicht nur im Theater gefehlt haben. Narrative, die wir vom Ballhaus Naunynstraße bis zum Gorki gefördert haben. Autor*innen wie Nora Abdel-Maksoud, Sasha Marianna Salzmann und Necati Öziri begleiteten wir an verschiedenen Punkten ihrer Karrieren. Ihre und andere Geschichten stehen heute – fast – selbstverständlich im neuen Kanon deutscher Dramatik und Literatur.
Wir sind auch angetreten für andere Körper auf der Bühne, für die Repräsentation einer gesellschaftlichen Realität von Diversität. Unsere Erfolge im deutsprachigen Theaterbetrieb sind nicht der einzige Beweis, dass dies kein Widerspruch zu „Qualität“ ist.
Sie werden in diesem Buch auf viele besondere politische Projekte stoßen, zu denen uns die Auseinandersetzung mit Geschichte, mit Fragen von Demokratie und Partizipation immer wieder motiviert hat und die mir persönlich am Herzen liegen. Sei es der „Berliner Herbstsalon“ oder Marta Górnickas Grundgesetz vor dem Brandenburger Tor 2018, dieser vielstimmige Chor, der Zugehörigkeit und Ausschlüsse im Kontext von Nationenbildung und damit eine Dialektik von Gesellschaft und Gemeinschaft verhandelt hat. Ich denke an die Gründung unseres Exil Ensembles 2015, an eine Aktion des Zentrums für Politische Schönheit, das einem landesweit bekannten Rechtsradikalen als Gedächtnisstütze ein eigenes Holocaust-Mahnmal vor die Tür gestellt hat. An unser Festival „Es schneit im April“, 100 Jahre nach dem Völkermord an den Armenier*innen. Oder an eine Inszenierung wie Yael Ronens Common Ground in unserer ersten Spielzeit, die Beschäftigung mit dem Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien, über den zu diesem Zeitpunkt kaum jemand mehr sprach.
Mein Weg zur Arbeit am Gorki verläuft durch historisch kontaminiertes Gelände. Egal, aus welcher Richtung ich komme. Angefangen an der Westseite des Brandenburger Tors, wo während des dritten „Berliner Herbstsalons“ die drei Busse von Manaf Halbounis Monument hervorragten, die eine Brücke zwischen Berlin und Aleppo herstellten und damit auch eine Brücke zwischen dem restaurativen Heute und der Realität von Krieg in dieser Stadt. Von dort geht der Weg vorbei an den Botschaften jener Befreier*innen, die heute, fast 80 Jahre nach der Befreiung, andere sind, vorbei auch an der Humboldt-Universität zu Berlin, dem Symbol von Aufklärung und Anti-Aufklärung und dem Bebelplatz als Ort deutschen Rassenwahns. Vorbei an der Neuen Wache, von der aus 1914 die Einberufungsbescheide für den Ersten Weltkrieg verschickt wurden, durch das Spalier der preußischen Kastanien zum Gorki Theater.
Nähere ich mich dem Maxim Gorki Theater von Osten her, denke ich auf der Karl-Liebknecht-Straße daran, was aus diesem Land hätte werden können, hätte es nicht diesen großen Politiker und seine philosophisch-poetisch-aktivistische Mitkämpferin Rosa Luxemburg feige und hinterhältig ermordet, ich passiere den Neubau eines Schlosses, in dem Berlin heute versucht das Verhältnis zur deutschen kolonialen Vergangenheit zu klären.
Das Haus, in dem sich heute das Maxim Gorki Theater befindet, wurde 1827 für die Singakademie des Goethe-Freundes Carl Friedrich Zelter errichtet. Es war der erste Chor in Deutschland, in dem Männer und Frauen gleich welcher Konfession zusammen sangen. Eine zivilgesellschaftliche NGO. 1829 führte hier der 20-jährige Felix Mendelssohn Bartholdy Bachs Matthäus-Passion auf, der Beginn der Bach-Renaissance. Dass die Singakademie nicht seine werden durfte, lag wohl daran, dass er als das markiert wurde, was er als patriotischer, aufgeklärter, romantischer Preuße schon fast vergessen hatte zu sein: der Jude Mendelssohn.
Das Maxim Gorki Theater wurde hier im Oktober 1952 als Theater für die Gegenwart eröffnet, damals für zeitgenössische sowjetische Dramatik. 1988 brachte Thomas Langhoffs Inszenierung von Volker Brauns Übergangsgesellschaft die Stimmung in der späten DDR auf die Bühne: ein Gemisch aus ideologischer Entfremdung, kleinbürgerlicher Unterspannung und offener Dissidenz. Das half wohl mit beim Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989, der das Ende der DDR einläutete. Auch an einem 9. November, im Jahr 1848, war die erste frei gewählte Preußische Nationalversammlung, die noch keinen Platz für Frauen hatte, aus Berlin vertrieben worden. Zuvor hatte sie im Gebäude der Singakademie – im Haus des Maxim Gorki Theaters also – an einer demokratischen Verfassung für Berlin und Preußen gearbeitet. Zwischen diesen Ereignissen spannt sich der Bogen des Kampfs um eine gerechte und offene Gesellschaft in Berlin und Deutschland – von der Ausrufung der Deutschen Republik 1918, über die Novemberpogrome 1938 und die Verfolgung und Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden bis zur Wiedervereinigung der Stadt und des Landes. Mündend in die weiter andauernden Auseinandersetzungen um die Zukunft Berlins als eine vielfältige europäische Metropole.
In den vergangenen neun Jahren haben wir niemals aufgehört, nahe und ferne Vergangenheiten und Weltgegenden aufzusuchen, um neue Wege auszukundschaften ins wirklich Unbekannte und Neue: in die Zukunft. Dorthin möchten wir gemeinsam mit Ihnen aufbrechen und ihr widmen wir dieses Buch.
Berlin, Februar 2023