Überlegungen
Dafür gibt es in ihrer Sprache bestimmt einen Ausdruck
(Zu meiner Inszenierung des Stücks „Frühling im Schatten“ am Teatro Ictus)
von Jesús Urqueta
Assoziationen: Dossier: Chile
„Woran erinnern Sie sich, wenn wir über das Gedenken an 50 Jahre Staatsstreich und die Errichtung einer zivil-militärischen Diktatur in Chile sprechen?
Was vergessen Sie? Was unterdrücken Sie? Was verschweigen Sie?
Für die Inszenierung von Frühling im Schatten musste ich mich auf unterschiedlichste Orte einlassen, überall und gleichzeitig: vergessene, verfallene, gespenstische, stille Orte, die vergeblich auf ihre Wiederherstellung warten. Und ich musste wieder einmal feststellen, wie isoliert wir als Land sind, weil wir nicht verstehen wollen, dass die Wahrheit der einzige Kitt ist, der eine Gesellschaft zusammenhalten und stärker machen kann. Und ich musste über den Schmerz nachdenken, über Menschen, die den Schmerz anderer fühlen als wäre es ihr eigener.
Ich begreife diese Erinnerungsarbeit als Gegenwart, als einen Akt der Gerechtigkeit gegenüber dem, was in der Vergangenheit nicht abgeschlossen werden konnte. Davon ausgehend möchte ich erreichen, dass Sie, durch dieses Theaterstück, zu Zeugen ihrer eigenen Geschichte werden. Oder der Geschichte Ihrer Familie: Mutter, Vater, Schwester, Bruder, Tochter, Sohn, Enkelinnen oder Enkel. Sehr viele Menschen in unserem Land haben großes Leid erfahren, und dieses Leid ist immer noch präsent, es begleitet uns, so wie die Erinnerungen an die Schläge.
Was haben das Exil und eine aufgeschlitzte Kehle gemeinsam?
Ich wiederhole: Was haben das Exil und eine aufgeschlitzte Kehle gemeinsam?
Ich wiederhole noch einmal: Was haben das Exil und eine aufgeschlitzte Kehle gemeinsam?
Diese Frage habe ich mir während der Arbeit am Stück millionenfach gestellt, denn die Geschichte ist auch die Geschichte des Teatro Ictus selbst, wo 1984, zur Zeit der Diktatur, das Stück zum ersten Mal aufgeführt wurde. Und es ist die Geschichte unserer Gesellschaft über beinahe zwei Jahrzehnte hinweg. Eine Geschichte, die weh tut. Und nicht heilt. Weil es weder Gerechtigkeit gegeben hat noch Wahrheit noch die notwendige Wiedergutmachung. Und keine Garantie dafür, dass sich all das nicht wiederholt. Weil es stattdessen Straflosigkeit gab. Geheime Abkommen und Schweigepakte. Warum haben diejenigen, die nach der Zeit der Diktatur regierten, die Demokratie und ihre eigenen Opferbiografien dazu benutzt, an der Macht zu bleiben? Weil Sie und ich einen Frühling im Schatten erlebt haben, eine Dunkelheit, die wir nicht überwinden können. Weil Sie und ich ein riesiges Loch im Herzen haben und es nicht füllen können.“
Text aus dem Programmheft des Theaterstücks „Primavera con una esquina rota“, (dt. Frühling im Schatten) Teatro Ictus. Juni 2023.
Ich bin 48 Jahre alt, geboren zu einer Zeit, als die Diktatur in unserem Land gerade mal 17 Monate alt war, und ich kann mit Sicherheit sagen, dass mich die Folgen mein Leben lang begleiten werden.
Ich bin mit ihren Regeln und ihrem (faulen) Zauber großgeworden, mit ihren Mängeln und mit Möglichkeiten, die nur wenigen von uns offenstanden.
Mir hat es an nichts gefehlt, weder an Essen, Bildung, noch am Dach über dem Kopf; doch den Bruder meines Vaters lernte ich erst 2019 kennen, weil er nach der Diktatur im Exil geblieben und nicht zurückgekommen war.
Familien waren auseinandergebrochen.
Freunde hatten sich distanziert.
Manche von ihnen starben durch die Hand des Militärs.
Andere durch die Hand der demokratischen Polizei.
Damit sind wir großgeworden.
Dann haben wir das Theater kennengelernt.
Und waren glücklich.
Und waren füreinander da.
Bis das Wirtschaftssystem, das von der Politik in der Phase der Transition etabliert wurde, dazu führte, dass wir Theaterkollegen untereinander um Finanzierung und Förderung konkurrierten.
Wir wurden traurig.
Und blieben allein.
So vergingen die Jahre.
Und wieder gingen wir auf die Straße.
Und wieder marschierten wir gemeinsam.
Und wieder begannen wir zu hoffen.
Und wieder dachten wir, die Diktatur sei vorbei.
Und merkten, wie gründlich sie ihre Arbeit gemacht hatte.
Und merkten, wie mächtig sie noch war.
Und merkten, dass die Angst gesiegt hatte.
Und die Ignoranz.
Wir merkten, dass wir neoliberaler waren, als wir dachten.
Und wurden wieder traurig.
Und blieben allein. Wieder einmal.
Ich schreibe diese Gedanken als eine Art Gedächtnisübung auf, um mich zu zwingen, auch weiterhin Widerstand zu leisten. Ich versuche, von der Gegenwart aus meine Vergangenheit zu verstehen, um mir die Zukunft ausmalen zu können, und manchmal fällt es mir schwer, die Bilder vor meinem inneren Auge entstehen zu lassen, die meine künstlerische Arbeit inspirieren könnten. Diese Trauer ist Teil meiner Identität als Theaterregisseur. Die Niederlage der chilenischen Bürgerschaft ist für mich zu einem wichtigen Ansporn dafür geworden, weiter Theater zu machen, weiter die Meinung zu sagen, jeden Tag; ein Grund, hierzubleiben, an diesem so abgelegenen Ort auf dem Planeten, ein Grund, weiter dafür zu kämpfen, dass alles sich ändert.
Selbst wenn ich Chile manchmal gerne anzünden und niederbrennen und einfach nur abhauen möchte.
Übersetzung Miriam Denger
Der Original-Titel von Roman und Stück vergleicht den Frühling mit einem Spiegel, der an einer Ecke zerbrochen ist. Auf Deutsch ist der Roman erschienen unter dem Titel „Frühling im Schatten“, Peter Hammer-Verlag, Wuppertal 1986, Deutsch von Lutz Kliche.
Erschienen am 29.9.2023