Kein Theater
von Dirk Baecker
Erschienen in: Recherchen 99: Wozu Theater? (01/2013)
Das Vertrauensspiel
Spätestens seit der deutschen Übersetzung von Erving Goffmans Klassiker The Presentation of Self in Everyday Life unter dem Titel Wir alle spielen Theater ist das Theater nicht nur ein Ort und eine Kunstgattung, sondern auch eine Metapher.1 Es ist eine Metapher, die dem bürgerlichen Argwohn gegen die Falschheiten aristokratischen Verhaltens am Hofe Ausdruck gibt und diesen universalisiert. Wir alle bewegen uns in einer scripted reality.2 So konzentriert, lebendig und beunruhigend jedes Theater in Wirklichkeit ist, so schlecht ist die Laune, die diese Metapher als Inbegriff einer pessimistischen Kulturkritik seit Jean-Jacques Rousseau auf den Punkt bringt.3
Tatsächlich ist die Metapher des Theaters uralt. Und tatsächlich handelt es sich bei dieser Metapher zugleich um eine Kulturtechnik. Jean-Christophe Agnew hat eindrucksvoll gezeigt, dass die Geschichte der Menschheit zwei „worlds apart“ kennt, den Markt und das Theater, die nicht nur nicht voneinander zu trennen sind, sondern immer auch aufeinander verweisen und einander wechselseitig als Rahmung zur Verfügung stehen.4 Wie Verkäufer und Käufer einander in ihren Verhandlungen über Preis und Qualität einer Ware einwickeln, kann man gleich nebenan auf einer Bühne des Jahrmarkts studieren; und welche Praktiken und Rhetoriken man hier zu durchschauen gelernt hat, kann man gleich anschließend...