Theater der Zeit

China

Chinas Theater im Jahr der Epidemie

Während die Staatsbühnen des Landes die Helden der Pandemie in Propaganda-Stücken feiern, üben unabhängige Künstler leise Kritik – Eine Reportage

von Chen Tian

Erschienen in: Theater der Zeit: Vorwärts immer, rückwärts nimmer – Schwerpunkt Klassismus (02/2021)

Assoziationen: Asien

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Ich beginne den Text mit diesem Titel am 30. Dezember 2020. Genau vor einem Jahr sah Li Wenliang, ein Augenarzt am Zentralkrankenhaus der Stadt Wuhan, einige Krankenberichte, die ihn veranlassten, seine Kollegen auf WeChat vor einer „Lungenkrankheit mit ungeklärter Ursache“ zu warnen. Schnell wurde er von den Sicherheitsbehörden verwarnt, weil er „unwahre Aussagen im Internet verbreitet“ habe. Der Warnruf des später als „Whistle­blower“ bezeichneten Dr. Li verbreitete sich allerdings nicht sehr weit. In der etwa 600 Kilometer von Wuhan entfernten Stadt ­Nanjing feierte das von meinem Freund Gao Ziwen geschriebene Stück „Meine alte Heimat“ Premiere, und ich ging nach der ­Aufführung mit den Redaktionskollegen der Zeitschrift Stage and Screen Reviews noch einen Feuertopf mit Lammfleisch essen. In dampfender Hitze diskutierten wir die Tourpläne des Stückes und die Themenwahl der Zeitschrift für das kommende Jahr. Auf ­WeChat posteten Kritiker und Theaterliebhaber ihre im vergan­genen Jahr gemachten Theatererfahrungen und wählten ihre persönliche Top Ten. Das hatte sich zu einer Art Ritual für den Jahresübergang entwickelt, das sowohl den Wettbewerbsgeist als auch die schönsten Erwartungen für das neue Jahr weckte. Wir ahnten nicht, dass die Theater schon bald ihre Türen schließen und für lange Zeit geschlossen halten würden.

2020 war sicherlich überall ein unerwartet düsteres Jahr für die Theater, allerdings sah man sich nicht überall vor dieselben Probleme gestellt. In China hatte man die Epidemie bereits im März im Wesentlichen unter Kontrolle gebracht und danach keinen größeren Ausbruch mehr zu verzeichnen. Im Mai durften die Theater unter Auflagen wieder öffnen, aber zunächst nur 30 Prozent der Sitze belegen, später dann 50 Prozent und inzwischen wieder 75 Prozent. Um Kosten zu sparen, ließen die Theater allerdings keine Plätze zwischen den Sitzen frei, sondern verkauften nur Tickets für das Parkett und sperrten Ränge und Logen. Einige Aufführungen fanden großen Anklang, darunter auch in HD-Qualität projizierte Stücke aus dem Ausland (beispielsweise die für das Berliner Theatertreffen 2015 beziehungsweise 2017 ausgewählten Produktionen „Tyrannis“ von Ersan Mondtag und „Five Easy Pieces“ von Milo Rau), und wurden vor ausverkauften Reihen und in lebhafter Atmosphäre gezeigt. In der zweiten Jahreshälfte fanden auch wieder einige kleine Theaterfestivals und Kunstschauen in Beijing, Schanghai, Xi’an, Hangzhou, Nanjing und Shenzhen statt. Das konnte den Eindruck vermitteln, man sei wieder zur „Normalität zurückgekehrt“.

Nun ja. Es hat sich einiges verändert und verändert sich auch weiterhin. Beim Betreten des Theaters muss sich das Publikum die Temperatur messen lassen, die Hände desinfizieren und einen „Gesundheitscode“ vorzeigen, der in der Epidemie zum obligatorischen Passagierschein für alle Chinesen geworden ist. Die entsprechende App im Handy überwacht die Bewegungsdaten und muss bestätigen, dass man sich nicht in einem Risikogebiet aufgehalten hat. Außerdem muss natürlich die gesamte Zeit eine Maske getragen werden, was bei Aufführungen, die länger als zwei Stunden dauern, nicht sonderlich angenehm ist. Aber die Maske schützt natürlich, und das sogar nicht nur in Bezug auf die Gesundheit. Kürzlich besuchte ich eine Aufführung in Schanghai, die der Regisseur mit einem interaktiven Teil enden lassen wollte. Eigentlich mag ich solche Einbindungen des Publikums nicht besonders und ziehe es vor, weiter still zuzuschauen. Aber mit der Maske wandte ich mich einer Sitznachbarin zu und blickte in ein Paar sanfter Augen. Statt mich – den Anweisungen folgend – zu schlagen, nahm sie mich in den Arm. Die Umarmung berührte mich sehr. Ich bin gar nicht sicher, ob mich nur die Maske vor Verlegenheit bewahrte oder ob nicht auch die lange Isolation mein Verlangen nach menschlichen Kontakten gesteigert hatte.

Als ich einem Freund in New York von dieser Sache erzählte, erregte ein ganz anderer Aspekt seine Aufmerksamkeit: „Du hast eine Fremde umarmt?! Was ist mit social distancing?“ Da fiel mir ein, dass die Theater am Broadway gerade verkündet hatten, bis Ende Mai 2021 zu schließen. An vielen Orten der Welt mussten Theater aufgrund der Pandemie schließen; dass sie in China überhaupt geöffnet sind, ist also schon eine Ausnahme, eine beson­dere Leistung.

Ungeachtet der oberflächlichen „Rückkehr zur Normalität“ sind die Zahlen von Aufführungen und Zuschauern stark gesunken, was sämtliche Theaterhäuser und Theaterkompagnien vor betriebswirtschaftliche Probleme stellt. Verglichen mit Europa sind die Möglichkeiten, finanzielle Unterstützung vonseiten der Regierung oder der Gesellschaft zu bekommen, sehr beschränkt. Die Stadt Beijing etwa subventioniert Aufführungen in der derzeitigen Epidemiepräventions- und Kontrollperiode folgendermaßen: Kleine Theater erhalten für jedes verkaufte Ticket einen Zuschuss von 80 Yuan (ca. 10 Euro), mittlere und große Theater für jedes verkaufte Ticket zu normalen Aufführungen einen Zuschuss von 100 Yuan (ca. 13 Euro), große Opern, Ballette und Sinfoniekonzerte pro verkauftem Ticket 200 Yuan (ca. 25 Euro); diese Zuschüsse werden für maximal 30 Prozent der verfügbaren Sitze gezahlt. Das ist leider nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Auf der im Dezember in Chengdu eröffneten Konferenz für Theaterinnovation und -entwicklung, zu der Vertreter von über hundert Veranstaltungsorten zusammenkamen, wurden nicht künstlerische Fragen diskutiert, sondern wirtschaftliche: Wie können die Theater mit neuen Technologien, neuen Plattformen und neuen Betriebsmodellen ihre wirtschaftlichen Schwierigkeiten überwinden? Der Generaldirektor des Opernhauses von Guang­zhou He Ying berichtete, dass man an seinem Haus aufgrund fehlender Unterstützung von der Regierung gezwungen war, allerlei neue Veranstaltungsformen wie Cloud-Meetings, kommerzielles Livestreaming und Online-Theater auszuprobieren.

Die noch fragileren und weniger widerstandsfähigen privaten Theaterhäuser und unabhängigen Künstler können erst recht nicht auf Zuschüsse und Mietverringerungen zählen, um die schwierige Lage zu überstehen, sondern müssen sich selbst helfen. Als die Bank dem Trommelturm West-Theater in Beijing keinen Kredit mehr einräumen wollte, dachte man sich eine Aktion aus, die zugleich einer anderen Gruppe aus dem Volk zugutekam: Das Theater nutzte seine Kanäle, um Kirschen zu verkaufen, die Bauern aufgrund der Pandemie nicht mehr an den Mann bringen konnten.

Sie wurden zwar mehr als 3000 Pfund Kirschen los, aber besonders viel Gewinn machten sie nicht. Ich verstand das vor allem als symbolische Produktionspraxis, die eine positive Haltung zeigte: Das Theater reagierte außerhalb des Theaters auf die Realität.

Im chinesischen Kontext ist die Reaktion auf die Realität nicht nur eine ästhetische Frage, sondern auch eine Prüfung von Mut und Verstand. Die allgemeine Gemütslage, die 2020 mit sich brachte, ist Beklommenheit in Bezug auf die Wirklichkeit und Unsicherheit in Bezug auf die Zukunft. Das Jahr veranlasste die Menschen, noch einmal neu über die Welt und über sich selbst nachzudenken. Bedauerlicherweise konnten diese Gefühle und Gedanken auf den chinesischen Bühnen kaum zur rechten Zeit und in vollem Umfang Ausdruck finden. Das erste Onlinetheaterstück nach der Pandemie war „Warten auf Godot“ in der Inszenierung von Wang Chong. Es wurde am 5. und 6. April aufgeführt, also noch vor Öffnung der Theater und der Aufhebung des Lockdowns von Wuhan; insgesamt 290 000 Menschen sahen die live übertragene Aufzeichnung. Wang Chong machte aus Becketts ­Figuren Didi und Gogo ein durch die Pandemie an unterschied­lichen Orten festsitzendes Ehepaar, dessen Warten zwischen ­Onlinegewalt, Spam und kommerziellem Livestreaming kein Ende findet. Auch wenn das Thema sehr direkt umgesetzt wurde, erkundete es noch kaum das ästhetische und politische Potenzial der Form des Onlinetheaters. Die vorgeführte Langeweile und Hoffnungslosigkeit trafen dennoch einen Nerv, schließlich befanden sich die Zuschauer genau in der gleichen Situation wie die Figuren im Stück. Diese verließen am Ende ihre Zimmer und fuhren mit dem Auto auf die Pagode des gelben Kranichs zu, des wichtigsten architektonischen Wahrzeichens Wuhans, womit die tatsächliche Öffnung dieser Stadt zwei Tage später vorweggenommen wurde. Viele Zuschauer hinterließen im Kommentarbereich die Worte: „Tränen in den Augen“.

Zwei weitere Stücke haben einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Im Juli sah ich in Shenzhen „Infection, State of Emergency, Beethoven“, ein „Theater der passiven Strategie“ des Kollektivs Paper Tiger. Mit den Mitteln des Tanztheaters zeigten sie den durch das Virus hervorgerufenen körperlichen Schrecken der Menschen und die in der Epidemie herrschenden Zustände der ­Isolation, des Verbotes, der Untersuchung, der Infektion, des Schreiens und des Kampfes mit dem Tode, bevor sich alles im tragischen Pathos der „Ode an die Freude“ auflöste. Im Oktober besuchte ich in Beijing eine Aufführung von „A Poem About the Unknown“, inszeniert und choreografiert von Lian Guodong und Lei Yan. Dieses Stück nahm die Epidemie als Anlass, um über die Zukunft nachzudenken, und stützte sich dabei auf Antonin Artauds „Das Theater und die Pest“. Es versuchte zu zeigen, wie sich über längere Zeiträume hinweg die Körper, das Denken und die Kunst weiter­entwickeln und wie sie immer wieder neu definiert werden.

Die beiden Stücke hatten einige Gemeinsamkeiten: Sie stammten von unabhängigen Theatergruppen und Künstlern, sie wurden in Ausstellungsräumen und Kunstgalerien statt in regulären Theaterhäusern aufgeführt, sie griffen vor allem auf den Körper und nicht auf die Sprache zurück, sie nutzten klassische Texte und keine eigens verfassten, sie drückten die von der Epidemie ausgelösten Empfindungen in höchst abstrakter Form aus, und sie berührten keinerlei spezifische gesellschaftliche oder politische Themen. Die Wahl dieser Mittel war natürlich kein Zufall und hing nicht nur von den ästhetischen Vorlieben der Künstler ab, sondern war auch das Ergebnis der von ihnen entwickelten Selbstschutzmechanismen vor der Zensur, die es ihnen erlauben, sich auszudrücken, ohne allzu große Risiken einzugehen. Wenn man betrachtet, wie das chinesische Theater im Jahr der Epidemie auf die Wirklichkeit reagierte, lässt sich in der Tat ein tiefer Bruch entdecken: Die besondere Realität des Jahres 2020 fand nur in äußerst wenigen, mit nicht realistischen Mitteln ­arbeitenden Werken unabhängiger Theater statt, während im Mainstream-Theater mit den Mitteln des „Realismus“ eine „Unwirklichkeit“ erfunden wurde, deren vorgebliche „Normalität“ nichts mit 2020 zu tun hat.

Chinas Mainstream-Theater sind keine kommerziellen ­Bühnen wie die am Broadway in New York oder in Londons West End, sondern verstaatlichte Theater, die Auftragsarbeiten zugeteilt bekommen. Das ursprünglich für 2020 vorgesehene Hauptthema war die „Armutsbekämpfung“, aber dann wurde der „Widerstand gegen die Epidemie“ zu einem weiteren Fokus, der eine ganze R­eihe sogenannter „Anti-Epidemie-Theaterstücke“ hervorbrachte. Die Stücke „Der Krieg gegen die Epidemie 2020“ der Provinz ­Guangdong Performance GmbH und „Tagebuch einer Krankenschwester“ der Schanghaier Theaterakademie bestanden vor ­allem aus Lobgesängen auf das Gesundheitspersonal und behaupteten beide, das erste Stück zum Krieg gegen die Pandemie zu sein. ­Etwas später folgten „Gegen die Richtung“ des Volkskunsttheaters Wuhan, „Das Volk über alles“ des Staatlichen Sprech­theaters und „Das Nachbarschaftskommitee“ des Volkskunsttheaters Beijing, die auch noch die Leistungen der Ärzte, Reporter, Basiskader und ­Freiwilligen in der Pandemie besangen. Das „Anti-Epidemie-Theater“ blieb nicht nur auf das Sprechtheater ­beschränkt, auch das ­formal streng begrenzte traditionelle chinesische Singspiel kam seiner Pflicht nach, „mit der Zeit zu gehen“. So sah ich zwei mitein­ander konkurrierende „Anti-Epidemie-­Stücke“ in der Form des Kun-Singspiels, und in diesem Moment wurde mir klar, dass die Mechanismen der staatlichen Auftragsarbeiten in diesem Land bereits so tief verankert sind, dass die befehlsempfangenden Künstler sie nicht nur nicht als Fremdbestimmung wahrnehmen, sondern sie auch noch als Ehre betrachten, um die es sich zu kämpfen lohnt.

Das „Anti-Epidemie-Theater“ hat mit der Macht zu tun, Geschichte zu schreiben – damit, von wem sie und wie sie geschrieben wird. In diesem groß produzierten, groß besetzten und in großen Häusern spielenden Theater wird das Jahr 2020 als Sieg dargestellt. Seine Werke bringen viele warme Emotionen auf die Bühne, aber nur wenig Düsternis; viele Tränen, aber nur wenig Besinnung. Ironischerweise, vielleicht weil die Epidemie jeden Menschen betrifft, muss das „Anti-Epidemie-Theater“ in bestimmtem Maß die üblichen Großnarrative verlassen und ver­suchen, die Perspektive der einfachen Menschen einzunehmen. Dennoch ist in ihnen für die echten einfachen Menschen kein Platz. Ihre Stimmen lassen sich vielleicht am ehesten in den Kommentaren auf Dr. Li Wenliangs Weibo-Seite hören. Auch nachdem er von uns ging, hat sein Konto immer noch 1,52 Millionen Follower, und unter seinem letzten Post vom 1. Februar 2020 kommen täglich neue zu den bereits vorhandenen mehr als eine Million Kommentaren hinzu. Unzählige Internetnutzer haben hier ihre Trauer kundgetan, über ihr Leid und ihre Freuden berichtet, ihren Alltag dokumentiert, oder ihm einfach nur erzählt: „Dr. Li, das Wetter ist heute sehr schön.“ Es ist eine virtuelle Klagemauer, ein aus einfachen Chinesen des Jahres 2020 gebildeter Chor. Es ist wirklich beschämend, dass unsere Theater diesen Stimmen keine Form geben konnten!

Endlich ist das Jahr 2020 vorüber, es hat sich gezogen wie ein ganzes Leben, und zugleich ist es vorbeigerast wie ein flüchtiger Augenblick. Auch im neuen Jahr geht die Pandemie weiter, aber es gibt inzwischen einen Impfstoff. Das chinesische Mainstream-Theater wird neue Auftragsarbeiten bekommen, aber viele Menschen werden auch ihre Anstrengungen darauf richten, etwas ganz anderes zu schaffen, was uns Mut und Hoffnung gibt. Der polnische Regisseur Krystian Lupa ist bereits in China angekommen und hat begonnen, Lu Xuns „Tagebuch eines Verrückten“ zu inszenieren. Das war Chinas erster Roman in Umgangssprache, und vielleicht sind die Gedanken und die Kritik der Bewegung für eine neue Kultur, in deren Kontext der Roman vor hundert Jahren entstand, noch immer nicht veraltet. Vor einigen Tagen erzählte mir eine junge Theatermanagerin, dass noch Ende des Jahres ein neues Theater in Schanghai gegründet werden soll, das vor allem jungen freischaffenden Künstlern eine Bühne bietet. Einer meiner Schüler hat gerade sein Theatertagebuch auf WeChat gepostet; er hat sich in diesem Jahr 84 Stücke angeschaut, die meisten davon online gestellte Aufführungen aus dem Ausland. Am meisten gefiel ihm „Chinchilla Arschloch, waswas“ von Rimini Protokoll: „Das war ein Jahr des Lernens, nächstes Jahr geht es weiter.“ //

Aus dem Chinesischen von Stefan Christ.

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