Theater der Zeit

Bericht

Samtener Schutzraum

Eine Begegnung mit dem Kiki House of Velvet beim Festival Nebenan/Zblízka im Festspielhaus Hellerau

Der Text entstand im „Labor Kulturjournalismus“, einer Kooperation zwischen tdz.de und der „Akademie für zeitgenössischen Theaterjournalismus“.

von Johanna Rau

Assoziationen: Sachsen Dossier: Labor Kulturjournalismus Hellerau – Europäisches Zentrum der Künste

Raum einzunehmen, ohne Scham und Angst: Monika Velvet gibt einen Voguing-Wokshop beim Festival Nebenan/Zblízka in Dresden.
Raum einzunehmen, ohne Scham und Angst: Monika Velvet gibt einen Voguing-Wokshop beim Festival Nebenan/Zblízka in Dresden.Foto: Katarina Bell

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Ein kleiner Röhrenfernseher im Regal einer Bäckerei zeigt Protestszenen. Die Stimme des Reporters fasst die Ereignisse zusammen, die 1989 zum Ende der kommunistischen Herrschaft in der Slowakei geführt haben. Heute sind diese Proteste als Samtene Revolution bekannt. Das Kiki House of Velvet übernimmt die Notion des sanften Widerstands, beansprucht diesen edlen Stoff ebenfalls für ihren Namen. Igor Smitkas und Ivana Hucíkovás Kurzfilm nimmt uns mit in die Welt der tschechischen und slowakischen Ballroom-Szene, deren Mittelpunkt das Haus des Samtes ist.

Das Festival Nebenan/Zblízka mit Slowakei-Schwerpunkt holt die Szene nach Hellerau – nicht nur der Film war im Festspielhaus auf den Hellerbergen zu sehen, auch die Mother des Hauses, Monika Mannush Prikkelová aka Monika Velvet war vor Ort. Bei einem Voguing-Workshop konnten die Teilnehmenden Ballroom-Luft schnuppern und den Tanzstil kennenlernen, der aus der heutigen Popkultur nicht mehr wegzudenken ist. Aber: Voguen geht nicht ohne Wissen, also beginnt der Workshop mit einer Geschichtsstunde.

Ihre Ursprünge hat die Ballroom-Szene in Harlem, New York. Schon vor den 1960er Jahren gab es dort Bälle, auf denen Menschen aus der queeren Community in Kategorien gegeneinander antraten. Allerdings waren diese Veranstaltungen oft von rassistischen Strukturen geprägt. Aus einem Bedürfnis nach einem sicheren Raum heraus begannen trans Frauen aus der Schwarzen und Latinx Community eigene Bälle zu organisieren. Inspiriert vom Model-Geschäft traten die Fem Queens gegeneinander an, gemessen wurde sich beispielsweise an der extravagantesten Kleidung, dem überzeugendsten Catwalk und in der Realness-Kategorie: Diejenigen Queens, die die größten Chancen hatten, auf der Straße nicht als trans Frauen erkannt zu werden und sich deshalb vergleichsweise sicher durch die Stadt bewegen konnten, räumten hier die größten Preise der Bälle ab. Aus dem Posen entwickelte sich der Tanzstil Vogue, benannt nach der berühmten Mode-Zeitschrift. Die Bedeutung des Ballroom erstreckte sich allerdings über die nächtlichen Veranstaltungen hinweg: Organisiert wurden die Bälle von den sogenannten Häusern. Diese Gemeinschaften funktionierten, und funktionieren noch heute, nach festgelegten familiären aber betont matriarchalen Strukturen. So gibt es in jedem Haus eine Mother, die eine Schutzfunktion für ihre Kinder einnimmt, diese wiederum unterstützen ihre Patronin beim Vorbereiten der oft aufwendigen Auftritte. Die Wahlfamilien stehen für eine knallharte Überlebensstrategie – sie gaben seit den 1960er Jahren jungen mehrfach marginalisierten Menschen, die oftmals auch als Sexarbeiter:innen Geld verdienten und besonders hart unter der HIV-Pandemie litten, ein Zuhause.

Auch das Kiki House of Velvet steht in dieser Tradition. Und auch heute und in Europa sind solche Familien ein wichtiger Schutzraum für queere und anders marginalisierte Menschen. Aktuell plant der slowakische Regierungschef Robert Fico mit einer Verfassungsänderung insbesondere die Rechte von trans Menschen ebenso wie von gleichgeschlechtlichen Paare einzuschränken. Schon jetzt sind queere Menschen in der slowakischen Öffentlichkeit kaum sichtbar, auch davon erzählt der Film. Die Verfassungsänderung würde bedeuten, dass nur noch die bei der Geburt zugeordneten Geschlechter männlich und weiblich anerkannt, Ehe- und Adoptionsrechte eingeschränkt und Bildung oder auch nur das Sprechen über Homosexualität vor Minderjährigen verboten würden. Trotz vieler Verbindungen ist der Kontext der Ballroom-Szene in Osteuropa ein ganz anderer als der seit den 60er-Jahren in den USA. In der Slowakei rückt der Fokus ein wenig von der Schwarzen und Latinx Community ab, ist inspiriert von den Häusern in Paris, Berlin, Stockholm, schließt cis Frauen stärker ein. So kam Mother Monika Velvet über den Street Dance zum Voguing, übers Voguing zur europäischen Ballroom-Kultur. Und ihr Bedürfnis wuchs, auch für die queere Szene in der Slowakei einen solchen Schutzraum zu eröffnen. „Ich will diese Menschen beschützen. Ich wollte nie eine Aktivistin sein, aber plötzlich bin ich zu einer geworden“, erzählt sie beim Workshop.

Der Kurzfilm porträtiert das House of Velvet und gewährt Einblicke in einen Ball. Bei dröhnenden Beats, in schillernden Kleidern oder enganliegenden transparenten Anzügen, mit großem Schmuck und kunstvollem Make-Up tanzen die Familienmitglieder mit- und gegeneinander an, bejubeln sich, begegnen sich aber auch in leisen Momenten im Treppenaufgang, im Bad, am offenen Fenster. Individuelle Erfahrungen werden in einem Wechsel aus fiktionalem Narrativ und authentischem Begleiten mit der Ballroom-Kultur verwoben. So wird beispielsweise Luna Velvet bei einem Vorsprechen für eine Model-Agentur gezeigt, erniedrigende Fragen prasseln auf sie ein.

Beim Workshop in Hellerau erklärt Monika die hohe Bedeutung des Selbstbewusstseins, um in dieser harschen Welt existieren zu können. Raum einzunehmen, ohne Scham und Angst. Und dann sind wir an der Reihe: In einer ersten Übung dusche ich in all dem, was ich mir wünsche. Ich streiche über meinen ganzen Körper, reibe das imaginierte Selbstvertrauen in meine Haut ein, schlüpfe in ein Alter Ego, das es mir erlaubt, Unsicherheiten auszublenden – zumindest theoretisch. Denn selbstsicher aufzutreten ist harte Arbeit, muss geübt werden. Dann laufen wir. Erst alle gemeinsam durch den Raum, aufgerichteter Rücken, Sternum präsent, die Hüfte schwingt von Seite zu Seite. Dann auf einer geraden Linie, zielgerichteter Blick, Pose, Pose, Blick, zurück. Als nächstes erkunden wir unsere männliche Seite, stellen uns vor für eine Calvin-Klein-Show zu laufen. Noch unterscheide die Welt des Ballroom vielerorts recht strikt zwischen männlichen und weiblichen Kategorien, doch besonders die europäische Szene öffne sich immer mehr für Nicht-Binarität, erzählt Monika und ermutigt die Teilnehmenden, beide Seiten und das Dazwischen zu erkunden. Die Wettbewerbskategorien der Bälle funktionieren nach klaren Regeln, nicht jede:r kann in jeder Kategorie antreten. Doch wenn eine Person den Schutzraum Ballroom aufsucht, ernsthaft Teil der Szene sein möchte und in keine der Kategorien passt – wird eben eine neue etabliert, so Monika.

Der Ballroom spiegelt die reale Welt auf subversive Art und Weise: In der nächsten Übung posieren wir für ein imaginiertes Fotoshooting, setzen ausgedachten Schmuck, Kleidung, unser Gesicht in Szene – und ermächtigen uns lustvoll kapitalistischer Logiken. Zum Abschluss widmen wir uns dem Teil des Ballroom, der heute in etlichen Musikvideos, Werbeclips und Co. besonders kommerzialisiert wird: dem choreografierten Voguing. Verschiedene Stilarten werden unterschieden – Old Way, New Way und Vogue Fem. Wir probieren letzteres aus, beginnen mit den charakteristischen schnellen und präzisen Armbewegungen, machen weiter mit einem Catwalk, enden mit einem Dip, einer Pose am Boden, Rücken durchgestreckt, ein Bein angewinkelt, eins ausgestreckt.

In einem Tanzstudio üben auch Laguna Velvet und Jurajda Velvet im Kurzfilm, sie improvisieren, bewegen sich fließend, auch Voguing-Elemente sind zu sehen. Jurajda erzählt von einem Traum, in dem Jurajda dem Vater in einem intimen Moment begegnet – ein Moment, der in der Realität fehlt. Das Video endet mit einem Picknick am See, alle Mitglieder des Hauses werden noch einmal vorgestellt. Unverblümt queer, furchtlos schön, warmherzig verbunden. Und noch einmal wird sie deutlich: die Bedeutsamkeit der Familie Velvet.

 

(Der Kurzfilm ist auch online zu sehen: https://www.nowness.com/story/house-of-velvet)

 


 

Das „Labor Kulturjournalismus“ ist eine Kooperation zwischen der „Akademie für zeitgenössischen Theaterjournalismus“, initiiert vom Bündnis internationaler Produktionshäuser, Hellerau – Europäisches Zentrum der Künste in Dresden und Theater der Zeit.

Die 2019 gegründete „Akademie für zeitgenössischen Theaterjournalismus“ hat zum Ziel, Theaterjournalismus im deutschsprachigen Raum zu stärken – in der Überzeugung, dass ein öffentlicher Diskurs über Theater, Tanz und Performance wichtig für Kunst und Gesellschaft ist. 

Die Akademie versteht sich als Möglichkeitsraum, in dem journalistische Praxen gegenstandsgerecht gedacht, erprobt und zur Diskussion gestellt werden können. Im Rahmen einer neuen Kooperation entwickeln die Teilnehmenden des fünften Akademiejahrgangs Texte und Videos, die das Verständnis von Kulturjournalismus und Theaterkritik herausfordern und erweitern. Das Labor ermöglicht neue Formate, Schreibstile und Textformen. 

Weitere Texte und Videos aus dem „Labor Kulturjournalismus“ gibt’s hier auf der Website und auf unserem Instagram-Kanal @theaterderzeit.

Verantwortlich Theater der Zeit: Lina Wölfel und Nathalie Eckstein
Verantwortlich Akademie für zeigenössischen Theaterjournalismus: Esther Boldt und Philipp Schulte

Erschienen am 14.2.2025

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