Auftritt
Potsdam: Radikal weiblich
Hans Otto Theater: „Die schönen Dinge“ (UA) nach dem Roman von Virginie Despentes. Regie Wojtek Klemm, Bühne Anton Unai, Kostüme Anika Budde
von Lena Schneider
Assoziationen: Brandenburg Hans Otto Theater
Wer kam nur auf die Idee dieses verschenkten Titels? Als der Roman von Virginie Despentes, der jetzt am Hans Otto Theater auf die Bühne gebracht wurde, im Jahr 2001 auf Deutsch erschien, nannte man ihn „Pauline und Claudine“. Das klang nach Hermann Hesse oder Enid Blyton und führte damit völlig in die Irre. Die kluge, knappe Potsdamer Bühnenfassung von Regisseur Wojtek Klemm und Dramaturg Helge Hübner hat sich dankenswerterweise nun des französischen Originaltitels „Les jolies choses“ erinnert und heißt wieder: „Die schönen Dinge“.
Das mag wie eine Nebensächlichkeit wirken, ist es aber nicht. Denn die Wahl des Titels zeigt bereits, wie genau diese Inszenierung weiß, was sie will. Sie will, ganz im Sinne der Trashfeministin Despentes, die man in Deutschland vor allem wegen ihres Films „Baise-moi (Fick mich!)“ kennen dürfte, den radikal subjektiven Blick auf eine von Männern gemachte Gesellschaft, die Frauen zu Dingen degradiert – zu schönen natürlich. Stellvertretend dafür steht in der fluxusartig mit vielerlei Dingen zugestellten Bühne des bildenden Künstlers Anton Unai ein Frauenbein herum, aus Plastik.
In „Les jolies choses“ geht es um zwei Schwestern, Zwillinge. Die eine, Claudine, ist erfolgloses Popsternchen und Nymphomanin. Die andere, Pauline, ist braver, bürgerlicher und hat, anders als die Schwester, wirkliches Gesangstalent, das sie jedoch ungenutzt lässt – bis zu dem Tag, als Claudine sich das Leben nimmt und sie, die Bürgerliche, auf die Idee kommt, in das Leben ihrer erotomanen Schwester zu schlüpfen und selbst die Musikbranche aufzumischen. Pauline zieht Claudines Kleider an, trägt deren Schuhe, schläft mit deren Männern. Nicht aus hehrer Schwesternliebe für die Verstorbene – die Liebe gibt es hier ohnehin nur als Chimäre –, sondern weil sie Geld braucht.
Die Inszenierung von Wojtek Klemm setzt nach dem Tod Claudines ein. Auf der Bühne gibt es nur eine Frau: Pauline. Gespielt von Nina Gummich, einer Spezialistin fürs Erdverbundene, Grenzgängerische, Trotzig-Lebensbejahende (siehe TdZ 12/2016). Alles, was geschieht, ist Paulines radikal subjektivem Blick unterworfen. Es ist eine Geschichte der Entblößungen. Entblößt wird nicht sie, die sich nach und nach in die Rolle ihrer Schwester findet und lernt, ihren Körper als Mittel zum Erfolg einzusetzen – sondern die Männer, die so schwanzgesteuert durchs Gelände ziehen, dass das Subjekt hinterm Objekt der Begierde gar nicht vorkommt. Die Schauspieler Friedemann Eckert, Eddie Irle und vor allem René Schwittay werfen sich mit vollendeter Lust an der Lächerlichkeit ihrer Rollen ins Geschehen. Als Pauline ihnen etwas vorsingt, filmen sie ausführlichst die eigenen Zehen.
Wo gab es zuletzt Sex im Theater, der so gekonnt verfremdet, so komisch und traurig, so radikal weiblich war? Und dabei weit weg vom So-tun-als-Ob: Während Nina Gummich bewegungslos am Mikro steht und darüber staunt, wie wenig komplexbeladen noch der hässlichste Mann ist, exerziert René Schwittay an ihrer Stelle unbeirrt weibliche Verführungsklischees durch. Wackelt mit dem stattlichen Bauch, klatscht sich aufs Fleisch, lockt mit dem Hintern – und haucht nebenbei: „Du solltest dir die Nase machen lassen.“ „Gleich morgen“, antwortet Pauline, und man weiß, die Aussage ist so verbindlich wie ihre vorgetäuschten, auf der Bühne nicht gespielten, sondern nüchtern erzählten Orgasmen. Pauline weiß inzwischen, Männer berauscht die Idee, sie hätten die Frau im Griff.
Ein Irrtum natürlich. Diese Pauline ist so zart und rollig, so rau und sehnsüchtig, dass man sie gar nicht in den Griff bekommen kann. Das ist ihre Stärke, und daran wird sie scheitern. Zwischendrin tritt Pauline immer wieder ans Mikrofon, rappt, spricht, brüllt zu peitschenden Rhythmen Fetzen ihrer Biografie, vom lieblosen Vater, der feigen Mutter, der kalten Schwester. Klischees? Im Text vielleicht. Aber wie Nina Gummich das macht, ist es unsentimental und wütend, ernst und ernstzunehmen. „Ihr Arschlöcher, ihr Pisser!“, brüllt sie anfangs zu Rap Beats. „Hau, hau, hau“, haucht sie später, gezähmt. „Die schönen Dinge“ ist sehr wohl ein feministisches Traktat, ein wütendes, feinfühliges Hoch auf ungebändigte Girl-Power. Es ist aber auch ein tieftrauriges Stück über eine einfache Sache, die banal sein könnte, wenn sie nicht so wahr wäre: Wenn Träume an der harten Realität zerplatzen, tut's weh. Und wer kein schönes Ding sein will, fängt am besten erst gar nicht damit an. //