Theater der Zeit

Mit nackten Augen

Die Lyrikerin Rose Ausländer

von Raimund Hoghe

Erschienen in: Recherchen 150: Wenn keiner singt, ist es still – Porträts, Rezensionen und andere Texte (1979 - 2019) (09/2019)

Assoziationen: Akteure

In der im Dezember 1982 erschienenen Taschenbuchausgabe ihrer Gedichtbände Mutterland und Einverständnis wird ihr Leben und Werk bereits abgeschlossen. Die poetische Kraft der Dichterin Rose Ausländer sei versiegt, das Werk vollendet, stellt ihr Biograf Helmut Braun darin fest, und notiert: „Erfreut, aber passiv, nimmt sie die weitere Verbreitung ihres Werkes, die Anerkennung der Kritik und die Zuneigung der Leser zur Kenntnis. Sie, die ausschließlich für und von ihrer Poesie lebte, ist zu poetischer Äußerung nun nicht mehr fähig.“

Anfang Juni, ein Anruf. Warum ich sie so lange nicht mehr besucht habe, fragt Rose Ausländer mit einer Stimme, die noch immer kraftvoll und fordernd ist. Ich hätte gedacht, dass sie keinen Besuch mehr empfangen könne, erkläre ich. Nein, erwidert die 82-Jährige, ich solle zu ihr kommen, am Abend zwischen halb sieben und viertel vor sieben.

Jüdisches Altenheim, 4. Stock, Pflegestation. Gegenüber dem Fahrstuhl hängt ein älteres Bild der Dichterin. Am Ende des Gangs: das Zimmer, das Rose Ausländer seit ein paar Jahren nicht mehr verlassen hat. Das Geschirr vom Abendessen wird aus den Zimmern geholt. Die Fernsehapparate laufen. Eine Krankenschwester öffnet die Tür zum Zimmer 419. Rose Ausländer sitzt in ihrem Bett, mit ausgebreiteten Armen, aufrecht.

Den Rosenzweig hätte ich nicht...

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