Auftritt
Memmingen: Das weiße Raufen
Landestheater Schwaben: „Blaue Stille“ (UA) von Maya Arad Yasur. Regie Sapir Heller, Ausstattung Valentina Pino Reyes
von Dietmar Bruckner
Erschienen in: Theater der Zeit: Wir sind die Baumeister – Ein Schwerpunkt über Theater und Architektur (11/2020)
Assoziationen: Landestheater Schwaben
Die blaue Stille ist weiß. Weiß wie ein OP-Saal und weiß wie eine Zahnarztpraxis – die die beiden Protagonisten des Abends später tatsächlich heraufimaginieren. Weiß strahlt auch die gynäkologische Praxis, in der sie sich gleich danach befinden – und in der zur Abwechslung mal er die Beine breitmacht. Weiß sind schließlich auch die beiden selbst: Weiße Unterwäsche er, weiße Unterwäsche sie, auf den Köpfen tragen sie weiße Perücken, an den Füßen weiße Badelatschen. Und zu allem Überfluss befinden sie sich auch noch in einem monochrom weißen Raum, in dem sie eingeschlossen sind. Das kann ja heiter werden: Weder finden sie, das Ehepaar, dem wir hier zuschauen, den Schlüssel, um die verdammten Türen aufzukriegen, noch wissen sie den Code. Wahrscheinlich werden sie in dem Iglu, den sie sich im Lauf ihres Lebens geschaffen haben, auch gemeinsam verrecken.
Mit dieser klaustrophobischen Szene beginnt die Uraufführung „Blaue Stille“ am Landestheater Memmingen. Vor sechzig Jahren hätte man bei dem, was hier stattfindet, auf Martin Walsers „Zimmerschlacht“ getippt. Nun aber ist die 1976 in Israel geborene Maya Arad Yasur die Autorin, und mit Erstaunen nimmt man zur Kenntnis, dass Geschlechter- und Ehekrieg seitdem nichts an Schärfe verloren haben. Noch immer verletzt man sich zielsicher, weil man die wunden Stellen des anderen kennt, noch immer ist man aber zusammen. Denn auch das ist klar: Sie und Er, wie sie hier nur heißen, werden auch künftig wenig Freude aneinander haben und sich das Leben zur Hölle machen, die Autorin lässt daran wenig Zweifel. Yasmina Rezas Stück „Der Gott des Gemetzels“ schwebt oft wie ein böser Geist über der Szenerie. Nur, dass sich da vier fertigmachen und hier nur zwei. Ein danse macabre, bei dem Yasur die leichteren und eleganteren Pointen setzt.
Daneben lädt das Stück zu vielfachen Assoziationen ein, von Ingmar Bergmans „Szenen einer Ehe“ bis zu Edward Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“, von Sartres „Bei geschlossenen Türen“ bis zu Becketts absurden Endspielen. Wie dort sind auch bei Maya Arad Yasur einige skurril-komische Momente eingebaut. Etwa, wenn sich die beiden im Verlauf ihrer Schlacht zaghaft (beinahe) berühren oder gemeinsam an einen (fast) gelungenen Urlaub erinnern. Beinahe gelänge ihnen dabei eine Anmutung von Nähe, wäre da nicht Betty. Betty ist die abgetriebene Tochter. Betty, die wie ein Gespenst durch ihre Erinnerungen spukt. Sie, gespielt von Franziska Roth mit „Glaubt-bloß-nicht, dass-ihr-mich-loswerdet“-Eindringlichkeit, ist die wahre Hauptperson der „Blauen Stille“.
Im Unterschied zur Stückvorlage – und damit wird es endgültig spannend – steht sie in Memmingen ganz real auf der Bühne. Rosa Schleifchen im Haar und ganz in Schwarz, singt und summt sie, spielt mal Geige, mal Klavier oder robbt aufreizend langsam über die Bühne. Sie bleibt der Stachel im Gewissen ihrer (Fast-)Eltern. Zugegeben: Dass Regisseurin Sapir Heller sie als Bühnenfigur kurzerhand dazuerfunden hat, ist eine kühne Idee. Aber das Experiment gelingt: Betty wird schnell zur nicht wegzudenkenden Korsettstange, sie gibt der Aufführung Halt und hilft über die eine oder andere Länge hinweg. So etwas geht oft schief, hier aber funktioniert es.
Großen Anteil daran hat auch das ineinander verkrallte Paar, dargestellt von Agnes Decker und Jens Schnarre. Sie gibt die Schöne als Biest, er den melancholischen Versager. Gemeinsam sind sie unschlagbar in ihrer verzweifelten Ausweglosigkeit. Zwar haben sie endlich damit begonnen, das unter den Teppich Gekehrte kurz anzuschauen, aber wirklich weitergebracht hat es sie nicht. Sie bleiben Gefangene ihrer Sprachlosigkeit, der blauen Stille, die eigentlich eine klinisch weiße ist. Dass sie sich dabei im Memminger Theater auf einer ganz realen Drehbühne befinden, ist eine weitere Pointe. Ihnen ist nicht zu helfen, so das bittere Fazit. Einem Landestheater, das so etwas als Uraufführung auf die Bühne wuchtet, dagegen sehr wohl: Auf nach Memmingen! //