Theater der Zeit

Resonanzen

Die Ästhetik der Lücke

Resonanzen des Nô-Theaters im Musiktheater Toshio Hosokawas

von Chikako Kitagawa

Erschienen in: Recherchen 136: Recycling Brecht – Materialwert, Nachleben, Überleben (07/2018)

Assoziationen: Wissenschaft Asien Musiktheater

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In seinem Text Über die Malerei der Chinesen1 von 1935 thematisiert Bertolt Brecht wesentliche Aspekte ostasiatischer Ästhetik, insbesondere die gestaltbildenden Potentiale der Lücke. Ausgehend von der traditionellen chinesischen Malkunst spricht Brecht die Möglichkeit einer zwanglosen Ordnung an; was in dieser Malerei zur Darstellung gelangt, erscheint gleichsam nicht „zugerichtet“, sondern vielmehr frei-gelassen. Statt eine „völlige Unterwerfung des Beschauers“2 anzustreben, erlaubt eine solche Kunst die Wahrung von Distanz und zugleich – in der Imagination des Ungemalten – eine Haltung aktiver Teilhabe. Über die explizit dargestellten Strukturen hinaus gewinnt der Raum selber, als ein Dazwischen, Gestaltqualität, was spannungsreiche Bezüge zwischen Gegenstand und Leere, zwischen An- und Abwesenheit erzeugt. Ebenso bedeutsam ist, dass die stoffliche Materialität der Leinwand – als der Grund der Darstellung – zum integralen Moment der Kunsterfahrung wird:

Der chinesischen Komposition fehlt ein uns ganz und gar gewohntes Moment des Zwanges. Diese Ordnung kostet keine Gewalt. Die Blätter erhalten viel Freiheit. Das Auge kann auf Entdeckungen ausgehen. […] Die chinesischen Künstler haben auch viel Platz auf ihrem Papier. Einige Teile der Fläche scheinen unbenutzt; diese Teile spielen aber eine große Rolle in der Komposition; sie scheinen ihrem Umfang und ihrer Form nach ebenso sorgfältig entworfen wie die Umrisse der Gegenstände. In diesen Lücken tritt das Papier selber oder die Leinwand als ein ganz bestimmter Wert hervor3.

Was Brecht als spezifische Qualität an chinesischer Malerei wahrnahm, berührt zentrale Momente der traditionellen japanischen Ästhetik. Diese Ästhetik, die in gewisser Weise eine Radikalisierung bildet – in Richtung einer Reduktion –, wird im japanischen Kulturraum übergreifend wirksam: nicht nur in der Malerei, sondern ebenso in anderen Künsten wie der Kalligraphie, dem Ikebana, der Haiku-Dichtung oder dem Nô-Theater.4 Es kam zu einem Transfer chinesischer Darstellungsformen, welche indes im Prozess geschichtlicher Aneignung zugleich eine Verwandlung erfuhren. Das verdeutlicht, wie schon innerhalb des ostasiatischen Kulturraums ein transkulturelles Phänomen – das Widerspiel von Fremdem und Eigenem – gestaltbildend wirken kann.

Die Ästhetik des ma

Der Ausdruck ma ist ein Schlüsselwort japanischer Ästhetik. Im Begriffsfeld von Lücke und Leerstelle verortet, sucht er jenes sich unmittelbarer Darstellung entziehende Dazwischen begrifflich zu fassen. Gleichwohl bedeutet ma nicht völlige Leere oder gar einen Mangel, sondern vielmehr einen imaginären Raum, worin etwas zur Erscheinung gebracht werden kann; zu öffnen vermag sich ein solcher Raum gerade gegenüber dem Fremden.5 Existentielle Bedeutung wächst dem ma zu, indem es einen – Verbindung schaffenden – Zwischenraum von Tod und Leben, Traum und Wirklichkeit, Natur und Mensch bezeichnet.6 Ebenso verknüpft sich dieser Begriff mit einer spezifischen Vorstellung von Zeit. So weist Masakazu Nakai darauf hin, dass das ma eine Zeitvorstellung impliziert, die der mit der Uhr gemessenen, objektiven Zeit ein Anderes gegenüberstellt – eine lebendige, im erfüllten Augenblick sich verdichtende Zeit:

[Im ma] wird der Zeitfluss stillgestellt. Die Zeit wird aus ihrem Kontinuum herausgeschnitten, „fortgeworfen“, sie erfährt eine Metamorphose und wird gleichsam neu geboren, sie selber lebt. Die Zeit, die im Nô-Theater durch einen Trommelschlag geschaffen wird, dieses ma bildet einen Einschnitt in die verfließende Zeit und generiert dadurch einen Resonanzraum, in dem das Leben bewusst gemacht werden kann7.

Exemplarisch vergegenwärtigt sich die Vorstellung des ma in der Haiku-Dichtung. Eine spezifische Haltung kennzeichnet sowohl den Dichter als auch den Leser. Gerade das Nicht-Zeigen, das Unvollständig-Lassen wird geschätzt, mit den Worten des bedeutenden Haiku-Dichters Bashô: „Wenn alles ausgesprochen ist, was bleibt dann?“8 Gefordert ist daher eine entsprechende Wahrnehmung: Es gilt zu spüren und zu imaginieren, was in die Lücken des Textes eingesenkt erscheint; diesen ist ein Verweisungscharakter zu eigen. So wird etwa die Erfahrung der Natur in äußerst knapper, nur angedeuteter Form zur Sprache gebracht, beispielhaft etwa in folgendem Haiku Bashôs:

sizukasa ya

Stille –

iwa ni shimi iru

in den Fels dringt ein

semi no koe

das Sirren der Zikaden

Eine derart „verdichtete“ Gestaltgebung ist gerade auch für bestimmte Tendenzen in der gegenwärtigen Kunst Asiens und Europas modellhaft geworden.9 So betont der japanische Komponist Toshio Hosokawa (* 1955) – aus der Sicht des Musikers, der primär von seiner Hörerfahrung ausgeht – die im Gedicht sich artikulierende Paradoxie: dass ein vordergründig lautes Geschehen der Stille zugeordnet erscheint. Die Stimmen der Zikaden werden gemäß seiner Lesart zu einem universalen Geschehen, sie erschallen gleichsam über die ganze Erde hin, sie sind, so Hosokawa, der „Klang der Welt“10. Das verweise auf eine gewandelte Perspektive. Stille sei dasjenige, was alles Erklingende noch umhülle. Das Wort Stille hat für Hosokawa darüber hinaus Erinnerungscharakter, indem es die Landschaft seiner Kindheit evoziert; die Stimmen der Zikaden erlangen für ihn geradezu den Charakter mythischer Ferne, was sich wiederum mit der Imagination von Stille verknüpfen kann.11 Diese Vorstellungswelt bildet gewissermaßen den ständigen Bezugsrahmen für Hosokawas Komponieren.

Zeami (1363–1443), einer der Begründer des Nô-Theaters, hat die Intention dieser Kunstform in folgende Formel gefasst: „Gerade die Zeitstelle, wo man nichts tut (senu hima), übt Anziehungskraft aus“12. Zum wesentlichen Moment der Darstellung wird die spannungsgeladene Konstellation von Aktion und Nicht-Aktion, eben jener Zwischenraum, den der Ausdruck ma bezeichnet. Nicht-Aktion meint hierbei nicht Passivität, sondern vielmehr ein In-sich-Gesammeltsein, das gleichzeitig den Bezug auf Früheres und Künftiges in sich birgt und gerade dadurch, im Widerspiel von Erinnerung und Erwartung, Intensität gewinnt. Der Regisseur Jerzy Grotowski (1933–1999) spricht in diesem Zusammenhang gar von einer „Gewalt des Bremsens“13. Als Geschehen der Unterbrechung gibt das ma nicht auszumessenden Emotionen Raum, so dass einerseits Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache, andererseits solche des Tanzes oder des Gesangs transzendiert werden können.14

Eine derartige Intensität zeigt sich exemplarisch im Nô-Spiel Dôjô-ji (Dôjô-Tempel). Wenn die Hauptfigur, ein weiblicher Geist, an einem dramaturgischen Wendepunkt den Tanz Ran-Byôshi aufführt (was so viel wie „irregulärer Rhythmus“ heißt), macht sie nur winzige, fast unmerkliche, äußerst langsame und subtile Fußbewegungen. Gegliedert wird diese Schrittfolge durch punktuelle Schläge sowie durch einzelne, zum Schrei hin tendierende Lautäußerungen des Trommelspielers.15 Vermöge einer derart gebannten, quasi zurückgedrängten Spannung artikuliert sich nach Nakai ein „Abbrechen des kontinuierlichen Zeitverlaufs“, was auf die Idee des ma hindeutet.16

Vorstellungen, wie sie im Konzept der Lücke gegenwärtig sind, wirken in der modernen Performancepraxis fort. So weist Eiichirô Hirata darauf hin, dass bestimmte Strategien der Abwesenheit, sozusagen der Nicht-Aktion, eine umfassende Körperwahrnehmung auf der Ebene der Rezeption erlauben. Gerade dann, wenn die körperliche Präsenz des jeweiligen Akteurs gewissermaßen stillgestellt ist – wenn der Tänzer „seinen Körper im gleichmäßigen und langsamen Rhythmus als Spur [zeigt]“17 –, eröffnet sich den Zuschauenden die Möglichkeit, selber in einem umfassenden Sinne zu spüren: ihre eigene Körperwahrnehmung zu aktivieren.

Zur Rezeption in der europäischen Moderne

Phänomene der Lücke – der Stille und der Stillstellung – sind im Zeichen tiefgreifender Reflexion ebenso in der europäischen Moderne bedeutsam geworden. Solche Phänomene zeigen sich etwa in den nach äußerster Reduktion strebenden theatralen Konzepten von Peter Brook oder Robert Wilson, aber auch in der Musik des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts. Das schlägt sich schon in Titelgebungen nieder wie z. B. Stille und Umkehr von Bernd Alois Zimmermann oder Fragmente – Stille, An Diotima, wie Luigi Nono sein wirkmächtiges Streichquartett von 1980 nannte. In dieser Komposition durchbricht nicht länger die Stille den Klang, vielmehr umgreift die Stille die einzelnen Klangereignisse. Ein solcher „Paradigmenwechsel vom Klang zur Stille“18 bedeutet vordergründig eine radikal von Pausen durchbrochene musikalische Faktur, einen Rückzug ins extrem Leise. Umfassender aber kann der Begriff der Stille als wesentlich relational aufgefasst werden: im Sinne einer Musik, die beständig auf die Stille bezogen ist, aus dem Schweigen erwächst und in dieses zurückkehrt, sozusagen eine klanggewordene Stille darstellt.19 Und in diesem umfassenden Sinne bildet Stille eine kompositorische Leitvorstellung Hosokawas; selbst dramatisch sich zuspitzende, eruptive und intensitätsgeladene Prozessphasen seiner Musik verwirklichen sich auf einer untergründig stets präsenten Folie von Stille und Schweigen.

Hosokawas Musiktheater

Im Musiktheater Toshio Hosokawas spielen Phänomene des ma eine zentrale Rolle. Seine Ausführungen hierüber zeigen eine erstaunliche Nähe zu den eingangs zitierten Bemerkungen Brechts und stellen zugleich einen Bezug zur Tradition des Zen her:

[D]as Schweigen [besitzt] die gleiche Kraft wie der Klang. Möglicherweise ist Komponieren eine Handlung, die man ausführt, um die Intensität des Schweigens zu vertiefen und nicht die Intensität der Klänge. Genauso wie die unbemalte, also leere weiße Fläche in der Kalligraphie von großer Bedeutung ist, ist es in der Musik der leere weiße Raum, der – vom Verständnis des Zen aus gesehen – zugleich die Fülle der Natur in sich enthält.20

Beispielhaft zeigt sich diese kompositorische Haltung in Hosokawas Musiktheater Matsukaze aus dem Jahr 2011. Das Sujet geht auf ein traditionelles Nô-Spiel von Zeami zurück, das der Gattung des Phantastischen Nô respektive des Traum-Nô (Mugen-Nô) angehört.21

Die inhaltliche Situation sei kurz skizziert: Vor langer Zeit liebten die Schwestern Matsukaze und Murasame einen Prinzen, der sie jedoch verließ und in der Ferne starb. Deswegen irren sie nun als unerlöste Geistwesen – zwischen den Sphären von Tod und Leben – immer um den Ort des Geschehens herum. Entfaltet wird so ein Topos der Nô-Theater-Dichtung: dass Geister, häufig weiblichen Geschlechts, aufgrund traumatischer Erfahrungen nicht erlöst werden können.

Wie aber verknüpft sich das erste Erscheinen der beiden Schwestern mit den Phänomenen von Stille und Stillstellung? Imaginiert wird der Prozess einer Klangwerdung aus dem Bezirk des Unhörbaren heraus. Diesem Vorgang ist die Vorstellung des Fließenden eingeschrieben. Hintergründig ertönt etwas ganz Elementares, gleichsam Vor-Musikalisches: Wellengeräusche, die vom Tonband eingespielt werden. Gleichzeitig blendet das Orchester – äußerst leise und lang gedehnt – einen Quintklang ein (es1/b1).

Der synchrone, sozusagen in eins gesetzte Zwiegesang der Schwestern übernimmt dieses elementare, der Naturtonreihe quasi abgelauschte musikalische Intervall, um es in chromatisch kreisender Bewegung behutsam zu entfalten. Evoziert wird hierdurch die Sphäre des Archaischen, ja des Überzeitlichen. Diesem statischen, nur in sich fluktuierenden Klangbild entsprechen zarte Schwebungen, die im Zusammenspiel von Orchester- und Frauenstimmen entstehen (Notenbeispiel 1)22.

Sinnfällig gemacht wird dadurch jener schwebende Status zwischen Tod und Leben, oder anders: ein Gestus des Wartens, der einen Topos der Nô-Theater-Dichtung darstellt. Das deutet sich schon im Namen der Protagonistin an; denn das Wort „Matsukaze“ enthält den Bestandteil „Matsu“, welcher nicht nur „Kiefernbaum“ bedeutet, sondern ebenso das „Warten“ bezeichnet.23

 

Notenbeispiel 1: Toshio Hosokawa: Matsukaze, 2. Szene, Klavierauszug.

© 2010 SCHOTT MUSIC CO., LTD., TOKYO

In Sasha Waltz’ Inszenierung von Matzukaze24 wird dieser Gestus dahingehend radikalisiert, dass die beiden Schwestern in einem den Bühnenvordergrund beherrschenden Netz sich gleichsam einspinnen (Bühnenbild: Chiharu Shiota). Das erscheint – in Korrespondenz zur Musik – als Metapher des ausweglos In-sich-Kreisenden, des Gefangenseins. Von fern erinnert dies ebenso an jenen Topos des Spinnens, der in der europäischen Tradition immer wieder der Darstellung des Wartens beigesellt ist; beispielhaft genannt seien die von den Freiern bedrängte, ihnen mit List widerstehende Penelope in Homers Odyssee, die Szene „Gretchens Stube“ in Goethes Faust I, die Spinnerinnen in Wagners Fliegendem Holländer oder die Nornen im Ring des Nibelungen.

Im Zustand des Wartens erscheint die Zeit angehalten, genauer: In diesem Status des Dazwischen können sich – im dichten Geflecht von Erinnern und Erwarten – verschiedene Zeitebenen ineinander verschlingen. Im äußerlich Ereignislosen eröffnet sich gleichzeitig ein innerer Raum, worin sich die emotionale Befindlichkeit der Schwestern – ihre Trauer, Klage und Sehnsucht – musikalisch subtil vergegenwärtigen kann. Und ähnlich dem „Bremsen“ von Aktion in modernen Performances ermöglicht gerade die Zurückgenommenheit des Erklingenden eine gesteigerte Aktivität seitens des Rezipienten: hin zu einer umfassenden Sensibilisierung seiner Wahrnehmung25. So korrespondiert Hosokawas Komponieren der ma-Ästhetik und nimmt als klangorientiertes, posttonales zugleich die Erfahrung Neuer Musik in sich hinein.

In der Inszenierung von Sasha Waltz kulminiert das Bühnengeschehen schließlich darin, dass Matsukaze, indem sie sich mehr und mehr mit dem Prinzen identifiziert, in Wahnsinn gerät und einen ekstatischen Tanz mit dem Traumbild des Prinzen vollführt, so dass sich ihr Warten – wie auch immer imaginativ – erfüllt. Das Phänomen der Lücke konkretisiert sich nun in ganz anderer Weise als zuvor. Die Wortsprache ist im Geschehen des Tanzes preisgegeben, facettenreich verwirklicht sich hingegen – als ein klanglicher Eigenwert – das Moment des Geräuschhaften. Im Hintergrund erfolgt wiederum eine Evokation von „Natur“, indem zarte Geigenglissandi die Vorstellung von Windgeräuschen erwecken; indirekter wird das Wehen des Windes durch die Verwendung japanischer Windglocken (Fûrin) imaginiert; sie geben gleichsam Resonanzen, denn im Freien erklingen sie immer dann, wenn der Wind durch sie hindurchfährt. Den Vordergrund des Klangbilds bestimmen eine solistische Flöte und Schlaginstrumente, wobei die Musik den Charakter spannungsreicher Diskontinuität annimmt. Deutlicher noch zeigt sich nun ein Bezug zum Nô-Theater, indem Schlagzeugakzente (ähnlich wie im traditionellen Nô-Spiel Dôjô-ji) das Zeitkontinuum gleichsam zerschneiden, um dadurch wiederum Lücken – Momente des Zeitenthobenen – zu generieren.

Die Gestaltung der Flötenstimme gemahnt an die ostasiatische Tradition, indem langgehaltene Einzeltöne durch differenzierte Ein- und Ausschwingvorgänge verlebendigt werden. Über Dynamik- und Registerkontraste hinaus weitet sich das klangliche Spektrum durch die Einbeziehung von Atemgeräuschen. Die Schlagzeugakzente und -figuren durchbrechen das Flötenspiel, wobei gerade die heftigen Akzente die Stille dazwischen – die gesteigerte Intensität einer „Jetztzeit“ – spüren lassen (Notenbeispiel 2).

 

Notenbeispiel 2: Toshio Hosokawa: Matsukaze, 4. Szene, Klavierauszug.

© 2010 SCHOTT MUSIC CO., LTD., TOKYO

Die der ma-Ästhetik innewohnende Vorstellung eines freigesetzten Jetzt erläutert Keiji Nishitani im Hinblick auf die Kunst des Ikebana, eine Kunst, die zugleich in der kompositorischen Ästhetik Hosokawas eine wichtige Referenz bildet.26 Im Ikebana ermöglicht der Akt des Schneidens, so Nishitani, etwas sonst Verborgenes und Ungreifbares zur Darstellung zu bringen: eine Leere, welche Gegenwart als solche – herausgeschnitten aus der verfließenden Zeit – hervorbringe und hierdurch etwas wie Ewigkeit in der Zeit ahnen lasse. Flüchtigkeit und Zeitenthobensein gelangen paradoxal zum Einstand:

Durch den Akt des Schneidens wird die „Leere“, die im Grunde der Existenz von Blumen und Sträuchern verborgen ist, eröffnet und manifest; somit werden Blumen und Sträucher, als existierend in der „Leere“, zur provisorischen Erscheinung der Ewigkeit inmitten der Zeit. Die potenzierte Flüchtigkeit ist gleichzeitig die provisorische Erscheinung der „Ewigkeit“. Die Endlichkeit wird dadurch, daß sie ihre eigene Endlichkeit von Grund auf zeigt, zu einem Symbol der „Ewigkeit“. Dadurch daß die „Zeit“ wirklich zur „Zeit“ wird, drückt sie den Augenblick aus, der Werden und Vergehen überstiegen hat.27

Was aber die akustische Dimension des ma betrifft, so wirkt das Geräuschhafte – auf der Aufführungsebene von Matsukaze – in der Darstellung der Tänzer fort. Ihr Atem, ihre Schritte, die Friktionen ihrer Kleider sowie ihre Körperkontakte bilden keine akustischen Störfaktoren, sondern sind der theatralen Konzeption inhärent. Die Lücke ist ein Raum, in dem diese flüchtigen Phänomene hörend erfahren werden können: im Sinne von vielfachen Geräuschschattierungen, die sich in der Lebenswelt moderner Industriegesellschaften potentiell der Wahrnehmung entziehen.

Hineingenommen in einen gegenwärtigen Erfahrungs- und Reflexionshorizont, können Evokationen des ma eine kritisch-subversive Funktion erfüllen: Sie gewähren der Rezeption Freiräume und schärfen die Wahrnehmung. Insbesondere dann, wenn nicht nur das Moment des Subjektiven, sondern ebenso die Welt als „Naturraum“28 zum Klingen gebracht wird – als jenes „Nichtidentische“29 im Sinne Adornos –, kann sich Erfahrung verwandeln. Um dies zu ermöglichen, greift Hosokawa auf das traditionelle japanische Theater sowie auf die überkommene Dichtung und Musik zurück – mithin auf Gestaltungsformen, die in Japan selbst inzwischen fremd geworden sind. Dass die Lücke im Sinne jenes ma immer mehr verschwindet, dass das Schweigen und die Stille sich unmittelbarer Erfahrung geradezu entziehen, bezeichnet ein globales, auch die japanische Kultur betreffendes Phänomen. Hosokawas Musiktheater eröffnet so in spezifischer Weise die Frage der Transkulturalität, d. h. die Frage, wie einem das Fremde – gerade auch „im Inneren der vermeintlich eigenen [Kultur]“30 – begegnen kann.

1Brecht, Bertolt: „Über die Malerei der Chinesen“, in: Ders.: Schriften 2 [= Schriften 1933–1942, Teil I], Berlin/Weimar/Frankfurt a. M. 1993, S. 133f., hier S. 134.

2 Ebd.

3Ebd.

4Vgl. Minami, Hiroshi: Ma no Kenkyû – Nihonjin no Bitekihyôgen (Studien über „ma“ – Ästhetische Darstellungen der Japaner), Tokyo 1983. Die Tendenz, die japanische Ästhetik und das damit verbundene Denken als ganz und gar japanspezifisch zu begreifen, ist ein im geschichtlichen Prozess immer wieder hervortretendes Phänomen. Im gegenwärtigen Diskurs erscheint diese Sicht indes in Frage gestellt, denn sie birgt die Gefahr einer Engführung im Sinne einer sich einkapselnden Nationalkultur. Vgl. auch Akinami, Takashi: „Introduction to New Understanding of ‚Ma‘“, in: Journal of the Faculty of International Studies Bunkyo University Vol. 4 (1994), S. 1–13.

5Kenmochi, Takehiko: „Ma“ no Nihon Bunka (Die japanische Kultur des „ma“), Tokyo 1992, S. 39. Aufgrund seiner Vieldeutigkeit ist der Ausdruck ma schwer zu übersetzen. Er beinhaltet Bedeutungen wie „space, an interval, a pause, time, while, leisure, spare time, luck, chance, timing“. Die Idee des ma umfasst vor allem Raum- und Zeit-Dimensionen, die im japanischen Denken untrennbar zusammengehören (ebd., S. 50). Die Schriftzeichen von Zeit und Raum enthalten jeweils das gleiche Symbol „“, das auch das Wort ma bezeichnet.

6Vgl. ebd., S. 64, 197–205.

7Nakai, Masakazu: Bigaku Nyûmon (Einführung in die Ästhetik) [= Asahi Sensho Vol. 32], Tokyo 1975, S. 192f.

8Mukai, Kyorai: „Kyorai sho“, in: Okuda, Isao/Omote, Akira (Hrsg.): Renka Ronshû, Nôgaku Ronshû, Haiku Ronshû [= Shinpen Nihon Kotenbungaku Zenshû Vol. 88], Tokyo 2001, S. 425–544, hier S. 446f. Der Verfasser Kyorai Mukai war ein Schüler Bashôs; von diesem selbst stammen die im Haupttext zitierten Sätze.

9Für den europäischen Raum ist in diesem Zusammenhang die kompositorische Praxis Salvatore Sciarrinos exemplarisch. Nicht nur hat Sciarrino das genannte Haiku für sein Vokalwerk 12 Madrigali (2007) als eine Textgrundlage ausgewählt, vielmehr dringt die Tendenz zur Verknappung in das Komponieren selber ein, indem minimalistisch-repetitive Strukturen das Satzbild prägen.

10Hosokawa, Toshio: „Aus der Tiefe der Erde. Musik und Natur“, in: Ders.: Stille und Klang, Schatten und Licht: Gespräche mit Walter-Wolfgang Sparrer, Hofheim 2012, S. 179–188, hier S. 181.

11Ebd., S. 181ff.

12Zeami: [Kakyô], in: Okuda/Omote (Hrsg.): Renka Ronshû, Nôgaku Ronshû, Haiku Ronshû, S. 293–336, hier S. 320f.

13Suzuki, Tadashi: „Burêki no Bôryoku“ (Gewalt des Bremsens), in:  [= Bessatsu Taiyô. Nihon no Kokoro Vol. 25], Tokyo 1978, S. 180. Suzuki betitelt seinen Artikel nach einer Formulierung, die von Jerzy Grotowski stammt.

14Vgl. Shinkai, Nagafusa: Zeami to Nô no Kokoro (Zeami und der Geist des Nô), Tokyo 1971, S. 22, 51.

15Siehe hierzu: www.youtube.com/watch?v=adABdxmqkSc (letzter Zugriff am 14. Dezember 2017).

16Nishiyama, Matsunosuke: „Ma no Bigaku Seiritsushi“ (Entstehungsgeschichte der ma-Ästhetik), in: Minami, Hiroshi (Hrsg.): „Ma“ no Kenkyû (Studien über „ma“), Tokyo 1983, S. 115–129, hier S. 118.

17Hirata, Eiichirô: „Spüren der Spur: Zur Wahrnehmung des nicht-tanzenden Körpers“, in: The Geibun-Kenkyû: Journal of Arts and Letters Vol. 102 (2012), S. 236–257, hier S. 245.

18Zenck, Martin: „Dal niente – Vom Verlöschen der Musik. Zum Paradigmenwechsel vom Klang zur Stille in der Musik des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts“, in: MusikTexte Vol. 55 (1994), S. 15–21, insbesondere S. 20f.

19Vgl. Horst Huber, der von 1955 bis 1995 Solo-Pauker im Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks war; er beantwortete meine Frage nach dem Verhältnis von Klang und Stille aus seiner langjährigen orchesterpraktischen Erfahrung heraus: „Jeder Komponist macht die Erfahrung, dass Stille nicht dadurch erzeugt wird, dass man tatsächlich alle Instrumente schweigen lässt, weil dann die Saalgeräusche, nicht zuletzt des Publikums, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken […]. Die Wahrnehmung des Zuhörers wird quasi auf sich selbst und damit von der Stille abgelenkt. Wenn ein Komponist die Wirkung von Stille erzeugen möchte, muss er die Ursache für diese ästhetisch übersetzen, das heißt, ein komponiertes Symbol oder Zeichen dafür finden; dies ist am besten möglich durch den leisen Gebrauch von für sich genommen voluminösen Instrumenten, etwa der Pauke, aber auch der Großen Trommel oder klangmächtiger Blechbläser. Das Ohr hat dann einen Referenzpunkt für die Stille, so dass dialektisch gerade durch das Erklingen eines leisen Ereignisses, nicht jedoch durch tatsächliche, quasi wörtlich genommene Stille eben diese erzeugt wird.“ Aus einer E-Mail Hubers vom 27. Februar 2012 an die Verfasserin.

20Hosokawa: Stille und Klang, Schatten und Licht, S. 109.

21Zur Gattung des „Phantastischen Nô“ bzw. des „Traum-Nô“ siehe Shôzô, Masuda: Nô no Hyôgen. Sono Gyakusetsu no Bigaku (Darstellung des Nô-Theaters – dessen paradoxe Ästhetik), Tokyo 1983, S. 58–64.

22Den beiden Notenbeispielen liegt aus Platzgründen der Klavierauszug von Matsukaze zugrunde; die Partitur ist bei Schott als Leihmaterial erhältlich. Eine DVD ihrer Matsukaze-Produktion von 2011 hat mir freundlicherweise die Staatsoper Berlin zur Verfügung gestellt, wofür ich mich sehr herzlich bedanke.

23Vgl. Tsuchiya, Keiichirô: Nô, Dorama ga Tachiarawareru Toki (Nô-Theater: der Moment, in dem das Drama entsteht), Tokyo 2014, S. 156.

24Diese Inszenierung wurde am 3. Mai 2011 im Brüsseler Théâtre Royal de la Monnaie uraufgeführt und zwar in Koproduktion mit dem Grand Théâtre de Luxembourg, der Staatsoper Unter den Linden (Berlin) und dem Teatr Wielki (Warschau).

25Vgl. Hosokawa, Toshio: Landschaft der Seele, Tokyo 1997, S. 199, 203.

26Vgl. ders.: „Schöne Flüchtigkeit des Vergehenden – Mozart als grenzüberschreitende Resonanz“, aus dem Japanischen von Chikako Kitagawa, in: neue musikzeitung, nmz Magazin 7/8 (2015), S. 3: „In Japan gibt es bekanntlich die Blumenkunst ‚Ikebana‘. Da gestaltet man Blumen in einem bestimmten Raum des Hauses und stellt sie aus, doch entfaltet sich darin zugleich eine spezifische Weltsicht, die sich abhebt von den Blumenarrangements in Europa. […] Im Ikebana wird die Blume als etwas aufgefasst, das von den Feldern abgeschnitten ist und hineingenommen in den Raum, in dem die Menschen leben. Diese Blumen atmeten in der Erde, aber ihr ‚Leben‘ ist nun abgeschnitten. Sie leben nicht mehr, im Hintergrund ist der Tod da. Und indem man den letzten Schimmer ihres Lebens im Raum spürbar werden lässt, tritt der Wert des Lebens – das Wirken- und Standhaltenkönnen – um so deutlicher hervor. […] Dabei ist es sehr wichtig, wo man diese Blumen platziert: Der Hintergrund wird zum wesentlichen Moment der Gestaltung.“ www.nmz.de/artikel/schoene-fluechtigkeit-des-vergehenden (letzter Zugriff am 14. Dezember 2017).

27Nishitani, Keiji: „Über Ikebana“ (1953), aus dem Japanischen von Rolf Eberfeld, in: Philosophisches Jahrbuch, Freiburg/München 2/98 (1991), S. 314–320, hier S. 318. Den Titel habe ich gemäß dem japanischen Original wörtlich übersetzt.

28Wellmer, Albrecht: „Adorno, die Moderne und das Erhabene“, in: Ders.: Endspiele: Die unversöhnliche Moderne. Essays und Vorträge, Frankfurt a. M. 1993, S. 178–203, hier S. 202.

29Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, in: Ders.: Gesammelte Schriften Bd. 7, hrsg. v. Gretel Adorno/Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1970, S. 114.

30Heeg, Günther: „Das transkulturelle Theater. Grenzüberschreitungen der Theaterwissenschaft in Zeiten der Globalisierung“, in: Baumbach, Gerda et al. (Hrsg.): Momentaufnahme Theaterwissenschaft. Leipziger Vorlesungen (= Recherchen 117), Berlin 2014, S. 150–163, hier S. 154.

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