Der Kinderwagen auf Eisensteins Treppe
von Milo Rau
Erschienen in: Die Enthüllung des Realen – Milo Rau und das International Institute of Political Murder (11/2013)
Milo Rau
Meine Recherchen zu „Die letzten Tage der Ceauşescus“ begannen am zweiten Weihnachtstag 1989, als das Jahr der europäischen Gefühle zu Ende ging. Die ganze Wende über habe ich vor dem Fernseher gesessen, ein neunmalkluges Kind, das einen Eistee in der Hand hielt und sich Notizen machte. Ich sah Reagan, Genscher, Kohl, ich sah die stolze polnische Gewerkschaftsbewegung, ich sah die Feuerwerke und Wagenkolonnen, ich sah die Mauer fallen und die Westdeutschen ihre Ostverwandten mit germanischer Jovialität in die Arme schließen. Täglich erfuhr ich von neuen Völkern, die wie die Kaninchen aus dem Hut des sowjetischen Imperiums hervorkamen – Weißrussen, Esten, Georgier, Banater, Tschetschenen, Ukrainer. Wie ein Gesang lag die sanfte Stimme Gorbatschows über dieser Zeit, die Wörter „Perestroika“ und „Glasnost“ standen gleichsam als Wasserzeichen am Himmel, und einige, die diesen großartigen Abstraktionen Glauben zu schenken beschlossen hatten, sprachen bereits vom Ende der Geschichte.
Dann, am 26. Dezember, wurde der Prozess gegen die Ceauşescus ausgestrahlt. Die Bilder prägten sich mir ein, wie sich mir später nur noch der Fall der Türme einprägen sollte: zwei alte Leute an einem Tisch, zwei böse Engel der Geschichte, eingehüllt in Zobelmäntel, von ihrem Volk verlassen und von den eigenen Kadern verraten.
Noch redeten...