Kolumne
Im Rückwärtsgang ins Morgen
Über künstlerische Freiheit und das sperrige Material Gegenwart
Erschienen in: Theater der Zeit: Nino Haratischwili: Fürchtet den Frieden (10/2018)
Assoziationen: Debatte
Was die Kunst braucht, einzig und allein, ist Material – Freiheit braucht sie nicht, sie ist Freiheit; es kann ihr einer die Freiheit nehmen, sich zu zeigen – Freiheit geben kann ihr keiner.“ Dieses Heinrich-Böll-Zitat kam mir vor einiger Zeit durch die Feder des Komponisten Helmut Oehring entgegen und hat mich beschäftigt. Schließlich wirkt angesichts der Bedrohung der Freiheit der Kunst an so vielen Orten der Gedanke, Freiheit hinzufügen zu wollen, zunächst abwegig, er wirkt wie eine Verkehrung, eine merkwürdige Dialektik, die uns aber ins Herz mancher Debatte führt. Heute sieht mich der Begriff „Material“ böse an. Ja, was machen, wenn das Material sich ständig abwendet? Wenn es sich entzieht, weil es immer schon weiter ist?
Die Sache ist nämlich die: Während die Debatte um eine Totalitarismus-Live-Experience des russischen Regisseurs Ilya Khrzhanovsky, veranstaltet von den Berliner Festspielen im Zentrum der Stadt, gleichermaßen unter dem Titel „Immersion“ und der Flagge „Freiheit“ läuft, „DAU Freiheit“ genannt, rennen Menschen aus Chemnitz oder dem Umland, dem berühmten Chemnitzer Hinterland, groß wie die Bundesrepublik, Hitlergrüße zeigend über die Straße und sagen dann, das seien nicht sie gewesen, sondern Linke, denn sie wüssten ja (im Unterschied zu jenen), ein Hitlergruß koste 7000 Euro. Sogenannte Wutbürger werden...