Theater der Zeit

Retzhofer Dramapreis 2023

„Falsch wie Fischstäbchen“

Laudatio von Jurymitglied Ferdinand Schmalz für Leonie Lorena Wyss

von Ferdinand Schmalz

Assoziationen: Dossier: Retzhofer Dramapreis Leonie Lorena Wyss

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In „Muttertier“ entwirft Leonie Lorena Wyss eine Partitur für drei Töchterstimmen, die aus der Gegenwart noch einmal in die Untiefen ihrer Kindheit zurückkehren. Diese Untiefen bereisen sie, um in der Metaphorik des Stücks zu bleiben, auf den Resten der versunkenen Titanic. Die drei Töchter, die diesen Film wie ihren eigenen kleinen Mythos immer wieder reenacten, sehen den Eisberg, auf den sie zusteuern, klar vor sich, und trotzdem ist die Katastrophe unausweichlich. Wyss Stück lässt uns behutsam reinschlüpfen in den Blick der Töchter auf ihre depressive Mutter. Was heißt es, ihren Stimmungslagen ausgesetzt zu sein? Was heißt es, als Familie nichts nach außen dringen zu lassen? Was heißt es später, in der Gegenwart, aus der das Stück erzählt, selbst Mutter zu werden? Dass dieser Stahlkoloss von einem Thema nicht sofort sinkt obwohl schon von allen Seiten das Wasser eindringt, liegt daran, dass das Stück trotz dieser Schwere eine leichtfüßige Form findet. Verspielt wie die Kinder, die die prekäre Situation, in ihre Filmwelt überführen, schafft es das Stück, uns durch geschickte Verschachtelungen, Kaleidoskopische Perspektivik und Sprachspielerischen Witz aus der Betroffenheitsfalle zu locken. Und so wird gespielt bis aus den Spielen Ernst wird, erst dann merkt man, dass dieser Ozeanriese über dem Abgrund schwebt, dass die Wasseroberfläche so dünn ist wie die Haut der Mutter. Am schlagendsten wird das wohl in der Szene im Vergnügungsbad, wo, nachdem die Töchter hunderte Male Rose und Jack beim Ertrinken gespielt haben, nun im Spiel mit der Mutter – oder ist es doch schon Ernst – das Vergnügen selbst ersäuft. Und obwohl hier das Metapherngeflecht so dicht ist wie der Chlorgeruch, das Pommes Fett, zerkaute Gummischlangenklumpen, die uns mit allen Sinnen in die Kindliche Welt führen, schafft es Wyss, an den richtigen Stellen Lücken zu schaffen, die unsere Imagination erst befüllen muss. Und so versuchen wir, als Rezipient:innen, immer wieder zu rekonstruieren, was denn hier genau das Geschehen war, als wären es unsere eigenen Erinnerungen, die ja auch immer Lücken haben, Lecks, durch die die Zeit wie Wasser eindringt, um sie auf den Grund zu zeihen. Jeder Halbsatz, jedes Wort schraubt sich an den wunden Stellen tiefer rein in das Beziehungsgeflecht zwischen der Mutter und den Töchtern. Die Sprache wird, wo die Lücke fast greifbar wird, flirrig, „wie ein Schwarm Fliegen über unseren Köpfen“. Und darin liegt vielleicht ja auch der Hoffnungsschimmer, dass, auch wenn hier alles falsch ist wie Fischstäbchen, auch wenn wir an den Teigklumpen fast ersticken, auch wenn wir schon am Ertrinken sind, dass uns doch die Sprache trägt, auch wenn sie Lücken hat, oder gerade weil sie Lücken hat. Die Sprache als ein Anti-Eisberg.

Erschienen am 29.9.2023

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