2.2.1 Zum Gegenstand: Aufführungen immersiven Theaters
von Theresa Schütz
Erschienen in: Recherchen 164: Theater der Vereinnahmung – Publikumsinvolvierung im immersiven Theater (05/2022)
Ich betrete Neu-Friedenwald, eine fiktive US-amerikanische Kleinstadt, die aufgrund der räumlichen Überschaubarkeit etwas von einer Gated Community en miniature hat. Es ist ziemlich leer. Links ist ein kleiner Shop, aus dem mich die Verkäuferin etwas verschreckt ansieht, dahinter ein Jugendclub. Es riecht nach Kirschkuchen, der im Diner in diesem Moment in die Auslage gestellt wird. Daneben ist ein kleines Motel mit zwei Zimmern, rechts davon befinden sich weitere Wohneinheiten. Eine ganz in Schwarz gekleidete Frau kommt auf mich zu und fragt mich, ob ich wegen der Beerdigung in die Stadt gekommen sei. Ich weiß von nichts. […] Sie erzählt mir von Cecilia, die vor einer Woche an starkem Fieber sehr plötzlich verstorben sei. Richtig traurig wirkt sie allerdings nicht, eher wie eine Aufpasserin, die alle Neuankömmlinge streng mustert. Ich merke, wie ich von allen Bewohner*innen argwöhnisch beäugt werde. Einzig ein junger Mann, der sich als Bobby von der Gang der »coolen Kids« der Stadt herausstellt, schaut auf eine schmierige Weise freundlich und versucht es direkt mit einem ungelenken Flirt. […] Ich besuche Emily, die Cousine der Toten, im Haus der Fitts. Die Einrichtung wirkt recht bürgerlich, an der Wand ein Foto von Cecilia. Während Frau Fitts hastig zum Fitnesskurs aufbricht, bietet mir Hr. Fitts einen Platz auf seiner Couch, ein Getränk und eine Knabberei an. Schnell wird spürbar, dass er etwas auf dem Herzen hat. Und so verwickeln wir uns in ein längeres Gespräch, das nicht nur Einblicke in seine Psyche, sondern auch in die Geheimnisse und Abgründe der kleinen Gemeinde bereithält.51
The Shells – Ausflug nach Neu-Friedenwald wurde 2015 von Kirsten Brandt und Jos Porath als freie Produktion in der siebten Etage des Greenhouse in Berlin-Tempelhof erarbeitet. Das fiktive Handlungsnetz, das der Aufführung zugrunde liegt, basiert auf David Lynchs Twin Peaks (USA 1990/91) und verweist darüber hinaus inhaltlich wie ästhetisch auf Vorstadt- und Familien-Dystopien wie Pleasantville (USA 1998), The Stepford Wives (USA 2004) oder American Beauty (USA 1999). Die Performance beginnt mit einem gemeinsamen Leichenschmaus anlässlich Cecilias Tod und entfaltet sich dann über eine Dauer von acht Tagen. Als Zuschauer*in wird man mit Übertreten der Schwelle des Aufführungsraums zur Tourist*in und damit unwillkürlich zum ungebetenen Gast und voyeuristischen Fremdkörper innerhalb der geheimnisumwobenen Gemeinschaft. Wie die Figur des FBI-Agenten, der gleichfalls neu in der Stadt ist, um den Mordfall aufzuklären, habe auch ich als teilnehmende Besucherin die Möglichkeit, durch Nachfragen und Gespräche mit den Bewohner*innen herauszufinden, was sich in dieser Stadt abgespielt und zum mysteriösen Tod von Cecilia geführt haben könnte. Ich kann mich aber auch motiv- und ziellos in das fiktive Kleinstadtleben einfügen, Figuren in ihrer repräsentierten Lebenswelt kennenlernen und einfach nur Zeit mit ihnen verbringen.
Zu den Beispielen des Game-Theaters analoge Handlungsaufträge gibt es nicht, höchstens seitens der Figuren kleine Hinweise, bei Gelegenheit mal Person X oder Y zu besuchen, die den Zweck verfolgen, mich stärker in die Diegese einzubinden. Soziale Begegnungen sind zahlreich, ereignen sich aber durchweg zwischen Zuschauer*innen (in der Tourist*innen-Funktion) und den von den Darsteller*innen verkörperten Figuren, sodass der inhaltliche Austausch ausschließlich auf die fiktive Narration bezogen ist. Die Erkundung der fiktiven Kleinstadt erfolgt für die zumeist vereinzelten Besucher*innen vornehmlich über verschiedene »Erzählaufführungen« (Tecklenburg, 2014, S. 17) – mündliches Berichten einer Figur, Anvertrauen von Geheimnissen in One-on-Ones, Spurensuche der in die Szenografie eingelassenen Nachrichten und Zeichen oder von Zuschauer*innen ausgehende Erzählimpulse –, die sich in und mit der Zeit entfalten (vgl. ebd., S. 148ff.). Dabei erhalten neben den Figuren auch Wahrnehmungen von Räumen, Klängen, Düften, Gerüchen, Blicken sowie emergierende Atmosphären das Potential, zu bedeutungstragenden und erzählenden Instanz für die die fiktive Welt dominierende Narration zu werden.
Es gibt innerhalb des gesichteten Korpus 25 Produktionen, die in analoger Weise verfahren, die sich also nicht nur als Manifestationen des in Kapitel 2.1 beschriebenen immersiven Aufführungsdispositivs betrachten lassen, sondern darüber hinaus – und damit im Gegensatz zu den zu Beginn dieses Kapitels vorgestellten, partizipativen Performances und Theaterarbeiten – zusätzlich mit der Etablierung einer fiktiven Weltversionarbeiten, die szenografisch entworfen, als multisensorischer Erfahrungsraum gestaltet und für die Dauer der Aufführung im Modus theatraler Fiktion52 als Wirklichkeit behauptet wird. Damit geht einher, dass Zuschauer*innen nicht mehr nur in das geteilte Aufführungsgeschehen, sondern überdies auch in die ästhetische Illusion einer geschlossenen alternativen Welt involviert werden. Im deutschsprachigen Raum entwickelt zuvorderst das dänisch-österreichische Kollektiv SIGNA derlei Arbeiten. Mit Besuch ihrer Produktionen werden Zuschauer*innen entweder zu fiktionalisierten Angestellten eines fiktiven Unternehmens (Söhne & Söhne, 2015), zu Besucher*innen eines Tags der offenen Tür im fiktiven Verein Canis Humanus (Wir Hunde/Us Dogs, 2016), zu Teilnehmer*innen eines Kurses zur Empathie-Steigerung in einer fiktiven Sozialstation (Das halbe Leid, 2017) oder zu Gästen eines Tags der offenen Tür der fiktiven Sekte der Himmelfahrer (Das Heuvolk, 2017).
Auch SIGNAs langjähriger Bühnenbildner Thomas Bo Nilsson entwickelt seit 2014 eigene Produktionen, die SIGNA-Arbeiten in vielerlei Hinsicht ähneln. So betraten Zuschauer*innen von Meat durch die Hintertür eines nachgebauten Spätis eine im Studio der Berliner Schaubühne mit Kulissen errichtete Stadt mit Nagelstudio, Imbiss, Kneipe, Nachtclub und einigen Wohnungen, die die fiktionalisierte Lebenswelt des kanadischen Pornodarstellers und Psychopathen Luka Rocco Magnotta repräsentierte. Magnotta war berühmt-berüchtigt für seine Internetvideos, in denen er sich als Tierquäler inszenierte. Auch den Mord an einem chinesischen Studenten stellte er ins Netz, bevor er 2012 in Berlin gefasst wurde.53 Und in Nilssons Dekameron (2018)54 wurden Zuschauer*innen zu Ehrengästen der ins kleine Haus des Berliner Ensembles installierten Weihestätte des fiktiven Clans Saluzzo. In verschiedenen Schreinen, die von wohlhabenden Menschen vor ihrem Ableben erworben worden waren, mussten Performer*innen deren letzte Wünsche erfüllen und uns teilnehmenden Zuschauer*innen – in loser Analogie zu Boccaccios Dekamerone – bestimmte Liebesgeschichten aus der Perspektive lebensgroßer Puppen vorspielen oder nacherzählen.55
Auch die studierte Szenografin Mona el Gammal war für einige Produktionen als Bühnenbildnerin bei SIGNA tätig, bevor sie mit Haus//Nummer/Null (2013) und Rhizomat (2016) ihre eigenen immersiven narrative spacesproduziert hat. Es handelt sich dabei um komplexe Rauminstallationen, in denen ausgehend von der Architektur, den in Szene gesetzten Requisiten, Möbeln und Materialien sowie einer Parcours-Dramaturgie, die den vereinzelten Gast über Lichtstimmungswechsel, Toneinsätze und Türschließmechanismen durch die fiktive und äußerst dystopisch anmutende Einrichtung »Institut für Methode« navigiert, Geschichten erzählt werden, ohne dabei mit einem menschlichen Gegenüber in Kontakt zu kommen.
Außerdem haben sich in den vergangenen Jahren Gruppen ehemaliger SIGNA-Performer*innen in verschiedenen Konstellationen in der freien Szene Berlins zusammengefunden, um eigene immersive Theater- und Performanceprojekte zu realisieren, darunter Simon Salem Müller, Marie S. Zwinzscher, Amanda Babaei Vieira und Wanja Neite für The Crystal Heaven Lounge (2017), Avi Bolotinsky und Ivana Sokola alias pathos2000 mit SIGNA-Performer*innen wie Frederick von Lüttichau oder Andreas Schneiders für Wald der verlorenen Väter (2020) sowie u. a. Raphael Souza Sá und Marie S. Zwinzscher unter der Leitung der amerikanischen Künstlerin Stevie Stevie für Dream World Order (2020). Auch Performancemacherin Jos Porath, die bei SIGNAs Wir Hunde als Bühnenbildhospitantin und Performerin dabei war, hat unterdessen weitere immersive Projekte in der freien Szene Berlins realisiert, so u. a. die Home-Trilogie (2017), Like there’s no tomorrow (2018) oder – gemeinsam mit Marie S. Zwinzscher – Last Resort (2021). Aktuell haben sich Zwinzscher und Porath gemeinsam mit Wanja Neite und den ehemaligen SIGNA-Mitgliedern Olivia Schrøder und Camilla Lønbirk für das immersive Projekt Ex Voto zusammengefunden.
In Deutschland gibt es jenseits des breiten SIGNA-Umfeldes sonst nur noch das Künstler*innen-Kollektiv The Agency, das z. B. mit der Produktion Medusa Bionic Rise (2017) eine vergleichbare Performanceinstallation mit einem zugrunde liegenden, die Aufführung bestimmenden theatralen Als-ob einer alternativen Weltversion entwickelt hat. Im deutschsprachigen Bereich wären sonst nur noch Paulus Manker (vgl. Kap 2.3.1) und das queere Wiener Kollektiv Nesterval zu nennen, die bislang mit vergleichbaren Produktionen aufgefallen sind. Manker hat neben Alma zuletzt auch Die letzten Tage der Menschheit als immersives Theatererlebnis inszeniert. Nesterval produzierten zunächst interaktive Schnitzeljagd-Formate im Stadtraum, bevor sie sich auf ihr sehr eigenes Hybrid aus Game-Theater und immersivem Theater spezialisiert haben. So waren Zuschauer*innen in Das Dorf (2018) zu einer fiktiven Hochzeit geladen, die kurzfristig zum Leichenschmaus umfunktioniert wurde; es galt dann, über spielerische Rückblenden herauszufinden, wer Anna-Liisa umgebracht hat, und auf diesem Wege die sehr konservative Dorfgemeinschaft kennenzulernen.
In Großbritannien gibt es seit der Gründung von Punchdrunk und ihren ersten großen Erfolgen wie The Mask of the Red Death (2007) und The Drowned Man (2013) eine sehr viel dichtere Szene, in der Gruppen wie z. B. CoLab Theatre oder Les Enfants Terribles zuvorderst immersive Produktionen entwickeln. Auch hier werden Zuschauer*innen in komplexe Rauminstallationen, in die wiederum fiktive Narrationen eingebettet sind, eingelassen und über vielfältige Strategien der Fiktionalisierung beteiligt. Bei Montagues versus Carpulet (2017) von CoLab Theatre finden sich Zuschauer*innen im zweigeteilten Publikum entweder als fiktionalisierter Teil der Familie Carpulet oder der Montagues wieder. Über gemeinsames Tanzen im Club, Fake-Drogenkonsum, andächtigen Kapellenbesuchen und kollektiv ausgetragenem Konkurrenzdrang gegen die jeweils andere Familie wird ein Gruppenzugehörigkeitsgefühl erzeugt, derweil sich die beiden Protagonist*innen gelegentlich aus den Gruppen lösen, um ikonische Szenen aus Shakespeares berühmter Tragödie Romeo und Julia zu spielen. Das Publikum wird in den Konflikt der Familien und Liebenden hineingezogen und ist aufgerufen, ihn bis zum finalen Tanz-Battle auch gemeinsam mit ihnen auszuagieren. Bei Alice’s Adventures Underground(2015) von Les Enfants Terribles durchschreiten Zuschauer*innen auf den Versen von Alice ein minutiös durchgestaltetes, fiktives »Wonderland«, in dem sie auf die aus Lewis Carrolls Romanen sowie unzähligen Verfilmungen bekannten Figuren wie Humptey-Dumptey, den Tweedle-Zwillingen oder die Grinsekatze stoßen. Auch werden sie selbst konsumierender Gast an der großen Tafel der Teeparty und sitzen im Zeugenstand des Gerichts der Königin.56
Spätestens mit dem Umzug von Punchdrunks Sleep no more 2011 nach New York kam es auch in den USA zu einem Anstieg immersiver Theaterproduktionen. Zu den erfolgreichsten gehört hier sicherlich Then she fell(2012) von Third Rail Project, eine weitere Adaption von Lewis Carrolls Alice in Wonderland.57 An dieser Übersicht immersiven Theaters im engen Sinn wird deutlich, dass es sich als rezente Form zeitgleich im Verlauf der vergangenen 15 Jahre an verschiedenen (vornehmlich) europäischen Standorten herausgebildet hat und von Künstler*innen (weiter-)entwickelt wurde, die sowohl aus dem Theater, häufig(er) aber aus der bildenden und installativen Kunst sowie aus der Szenografie, dem Game Design oder der Show- und Veranstaltungsbranche kommen.58
In all diesen Produktionen manifestiert sich das in Kapitel 2.1 beschriebene immersive Theaterdispositiv. Sie fordern von ihren Zuschauer*innen nicht nur physische Mobilität, sondern auch explizite Mitwirkung (z. B. durch reges Einbringen in Gesprächssituationen oder durch konkrete Handlungsimpulse) inklusive eigenständiger Entscheidungen (z. B. an welche szenischen Orte man sich wann und für wie lange begibt) und Positionierungen (z. B. in ethisch heiklen Situationen, die potentiellen Haltungsdruck seitens der situativ eingebundenen Gäste erzeugen). Überdies arbeiten sie alle mit der Etablierung einer fiktionalen Weltversion, sodass Zuschauer*innen nicht mehr nur in das geteilte Aufführungsgeschehen, sondern auch in die als Wirklichkeit behauptete diegetische Welt involviert werden. Aufführungen immersiven Theaters im engeren Sinn schließen damit paradoxerweise im Hinblick auf die Aktivierung und Mobilisierung der Zuschauenden – wie in Kapitel 2.1.1 ausgeführt – an Traditionen der Avantgarden an, im Hinblick auf die Hervorbringung mimetischer Weltversionen allerdings auch an klassische Formen des Illusionstheaters.59 Mit Blick auf neue transmediale Formen des Geschichtenerzählens weisen sie allerdings auch Parallelen zu populären Unterhaltungsformaten wie den vorgestellten dark tourism-Simmings, Themenparks, Fun oder Haunted Houses sowie Open-World-Games auf.
Wie im klassischen Illusionstheater wird über Handlungen von Figuren60 eine Weltversion nach bestimmten ästhetischen (sich freilich historisch im Wandel befindlichen) Kriterien als vermeintlich geschlossene theatrale Repräsentation nachgeahmt. Während sich nun aber konventionelle Theateraufführungen klassischer Dramatik wie z. B. des bürgerlichen Trauerspiels dadurch auszeichnen, dass es qua räumlicher Trennung von Bühne und Zuschauerraum zu einer Trennung zweiter Welten kommt, die vorsieht, dass Zuschauer*innen aus der räumlichen Distanz ihrer Lebenswirklichkeit auf die repräsentierte Weltversion auf der Bühne schauen, ohne zu irgendeinem Zeitpunkt Zugriff auf sie zu haben (vgl. Cavell nach Rebentisch, 2003, S. 29), gibt es im immersiven Theater eben nur noch den einen gestalteten (Erfahrungs-)Raum, in dem fiktive Weltversion und Wirklichkeit der miteinander geteilten, sozialen Aufführungssituation konsequent miteinander verflochten werden. Zuschauer*innen werden im immersiven Theater an dem im Modus theatraler Fiktion (re-)präsentierten, diegetischen Mikrokosmos beteiligt. Dies bringt eine Ausweitung des Bühnenbilds hin zur szenografischen Gestaltung einer komplexen szenischen Umgebung mit sich, die mobilisierte Zuschauer*innen und Darsteller*innen physisch einschließt. Und dies bringt auch mit sich, dass Zuschauer*innen mit Übertreten der Schwelle des Aufführungsraums gleichfalls fiktionalisiert werden, indem sie qua Adressierung der Logik der fiktiven Weltversion entsprechende Funktionen – als Tourist*in, Besucher*in eines Tages der offenen Tür, Familienmitglied, potentielles Neumitglied einer Vereins- oder Glaubensgemeinschaft etc. – zugewiesen bekommen und auf diese Weise Teil der diegetischen Welt werden.
Der Anschluss an die in Kapitel 1.3 mit Alvarez und Magelssen vorgestellten Beispiele angewandten Theaters aus dem Bereich des dark tourism oder der kulturellen Einrichtung des Themenparks besteht darin, dass teilnehmende Zuschauer*innen zu Besucher*innen einer in sich geschlossenen, durchgestalteten Weltversion werden, die eine (reale oder fiktionalisierte) Lebenswelt als zuweilen ästhetisch überhöhte, gestaltete Wirklichkeitskopie entwirft. Immersives Theater schließt damit an das im Immersionsdiskurs dominant verhandelte Motiv eines Weltenwechsels an. Dieser erfolgt nun aber nicht imaginär wie bei der erzählenden Literatur, (kinästhetisch) einfühlend wie beim Film oder über die an einen Avatar gebundene Inkorporierung in eine virtuelle Spielwelt, sondern gesamtleiblich in eine thematisch gestaltete und von komplexen Narrationen und Narrativen durchzogene Wirklichkeitssimulation.
51 Aus meinem Erinnerungsprotokoll der Sichtung von The Shells – Ausflug nach Neu-Friedenwald am 16.6.2015 im Greenhouse in Berlin-Tempelhof.
52 Hier sei mit Theresia Birkenhauer auf die doppelte Fiktionalität einer Theateraufführung hingewiesen: Es gibt einerseits die »dramatische Fiktion als Erfindung einer diegetischen Welt« (wie der eines Dramas, Romans oder – wie in den meisten Beispielen immersiven Theaters – einer eigens erdachten Narration, die der Inszenierung zugrunde liegt) und andererseits die »theatrale Fiktion als Behauptung einer eigenen Realität der Aufführung«, die in der Theatertheorie meist nicht mit dem Begriff der Fiktion, sondern dem der (ästhetischen) Illusion verhandelt wird, vgl. Birkenhauer, 2005, S. 107. In der SIGNA-Forschung kursieren verschiedenste Begriffe, um diese fiktiven, durchgestalteten Weltversionen zu erfassen: So spricht Benjamin Wihstutz von einer »abgeschiedene[n] Illusionswelt« (Wihstutz, 2012, S. 98), Pamela Geldmacher von einer »Para-Realität« (Geldmacher, 2014, S. 58), Nina Tecklenburg von einem »diegetischen Kosmos«, der die »ästhetische Illusion einer abgeschlossenen Welt erschafft« (Tecklenburg, 2014, S. 148) und in englischsprachigen Aufsätzen findet man häufig die recht allgemeine Wendung der »fictional worlds« (vgl. u. a. Bregović, 2011).
53 Innerhalb des engeren Korpus immersiver Theateraufführungen ist dies neben Alma von Paulus Manker die einzige Arbeit, die sich konkret an wahren Begebenheiten und nicht-fiktionalen Personen orientiert.
54 Dekameron entstand in Kooperation mit dem Theater RambaRamba in Berlin. Damit ist es die einzige, mir bekannte Produktion immersiven Theaters, die Schauspieler*innen mit Behinderung in ihren Cast involviert (und auf diese Weise eine Weltversion repräsentiert, in der abled bodies nicht die Norm sind).
55 Zwei weitere immersive Theaterarbeiten, die Thomas Bo Nilsson am Schauspielhaus Wien realisierte, an denen ich selbst allerdings nicht teilnehmen konnte, waren die auf mehrere Tage angelegte, durationale Inszenierung Cellar Door (Wien 2016) sowie Jinxxx (Wien 2016). Im Gegensatz zu SIGNA experimentiert Bo Nilsson in seine Produktionen gezielt mit der Ausweitung der fiktiven Weltversion ins Netz, z. B. indem Besucher*innen die Installation zeitgleich auch online besuchen können oder indem Figuren Fake-Profile in sozialen Netzwerken haben und man ihnen auf diese Weise noch über die Aufführungsdauer hinaus folgen kann.
56 Alice’s Adventures Underground ist die einzige Produktion im Korpus, bei der man dezidiert in eine phantastische Welt eintaucht. Alle anderen sind – selbst, wenn es wie bei Montagues versus Carpulets oder Dekameroneine literarische Vorlage gibt – eher an der Realisierung einer fiktionalisierten Lebenswelt interessiert, die ästhetisch zwar zumeist ins Hyperreale weist, aber doch in ihren außertheatralen Weltbezügen erkennbar bleibt.
57 Es ist auffällig, wie häufig für immersive Theaterformen Lewis Carrolls Alice in Wonderland als zentrale Referenz und zu gestaltende Weltversion gewählt wird. Neben Then she fell und der eben besprochenen Produktion Alice’s Adventures Underground von Les Enfants Terribles hatte ich auch schon auf die Kinder- und Jugendtheaterproduktion I in Wonderland von posttheater verwiesen. Darüber hinaus beschäftigten sich auch Nesterval für eine ihrer ersten Produktion im Wiener Stadtraum unter dem Titel Where the f*** is Alice (2017) mit dem Stoff. Gleiches gilt für das Game-Theater-Kollektiv Prinzip Gonzo, das auf der Berliner Performersion Re:Wonderland (2016) zeigte. Und während der Corona-Pandemie inspirierte der Stoff auch das Kollektiv borgtheater zur Erprobung eines interaktiven Online-Theaterformats unter dem Titel Mein freier Wille (2021).
Meines Erachtens drängt sich dieser Stoff für das Experimentieren mit einer immersiven Theaterform u. a. deshalb auf, weil die diegetische Welt von Alice in Wonderland über die Erfahrungen ihrer Protagonistin bereits das Motiv eines In-eine-andere-Welt-Eintauchens mit einem konstitutiven Verwischen der Grenze zwischen Realität und Fiktion selbst zum Gegenstand macht und auf diese Weise als künstlerisches Beispiel für (medien-)philosophische Fragen nach dem Realitätsgehalt von Wirklichkeitskonstruktion – oder dem Wirklichkeitsgehalt von Realitäten – paradigmatisch erscheint.
58 Über die genannten hinaus, scheinen mir – leider ungesehen – auch die Arbeiten des irischen Kollektivs ANU production sowie die des in London ansässigen Kollektivs ZU-UK (wie Hotel Medea, 2009) in meinem engeren Sinn immersives Theater zu sein. Gleiches gilt für die bislang prominenteste französischsprachige immersive Theaterproduktion Helsingør (2019) von Le Secret, die auf Shakespeares Hamlet basiert. Eine Liste aller von mir gesichteten Produktionen des engen Korpus findet sich im Anhang.
59 Auf diesen Umstand verweisen auch die Theaterwissenschaftler*innen Joy Kalu (vgl. Kalu, 2017, S. 73) sowie Nikolaus Müller-Schöll in seinem Vortrag »Illusion der Immersion – Immersion in der Illusion. Refugien der Diversität im Gegenwartstheater« im Rahmen der Tagung Building Worlds. Immersive Praktiken in Kunst und Design an der Hochschule Hannover 2018.
60 Mit Ausnahme von Sleep no more haben wir es in allen Inszenierungen des Korpus mit Schauspieler*innen zu tun, die vorab konkrete Rollen zugewiesen bekommen, die sie innerhalb der Aufführung verkörpern. Dabei gilt das Gebot, zu keinem Zeitpunkt der Aufführung aus der Rolle zu fallen. Aus diesem Grund spreche ich im Zusammenhang von immersivem Theater im engeren Sinne (mit Ausnahme von Sleep no more und 3/Fifths) auch tendenziell eher von Darsteller*innen als von Performer*innen.