Auftritt
Linz: Die Tablettendosis zählt
Landestheater Linz: „Die Sedierten“ (UA) von Martin Plattner. Regie Stephan Suschke, Bühne Momme Röhrbein, Kostüme Angelika Rieck
Erschienen in: Theater der Zeit: Wir sind die Baumeister – Ein Schwerpunkt über Theater und Architektur (11/2020)
Assoziationen: Landestheater Linz
Sie machen sich noch an Wählscheibentelefonen zu schaffen und leben auch sonst im Mief einer abgelaufenen Zeit: Vier Nachbarinnen einer bescheidenen Vorgartensiedlung, die in Martin Plattners Stück „Die Sedierten“ die Abgehängten darstellen, vom System zwar politisch korrekt am Leben gehaltene, aber im Unglück und Hass auf sich selbst (und alles andere erst recht) schmorende Frauen. Schon bald am Beginn fällt der Begriff Abort – das Signalwort für das genuin österreichische Genre der Fäkaliendramen. In Stephan Suschkes Uraufführungsinszenierung in den Linzer Kammerspielen wird es zwar nie so schmutzig wie üblicherweise in nämlichen Dramen Werner Schwabs. Doch wandelt der Tiroler Dramatiker Plattner hier klar auf den Spuren seines steirischen Vorgängers. Wie in dessen Kultstück „Die Präsidentinnen“ stülpt sich auch hier die innere Lebensbefindlichkeit in sprachlichen und optischen Gewaltakten nach außen.
Plattners metrisch geordnete Sprache, die zwanghaft alles Lebendige verdinglicht, weil sich die Figuren selbst wie Gegenstände begreifen – diese Kunstsprache braucht Raum. Und Regisseur Suschke gewährt ihn, ohne gleich eine Sprechoper daraus zu machen. Da heißt es „Komm außer Haus ich? / Auf den Weg-Gehsteig muss ich.“ Oder: „Zieh zu mich / wie ein Vorhang.“ Suschke schlägt nicht in die voyeuristische Kerbe, sondern platziert die Mieterinnen in drei eng nebeneinander angeordneten, schlichten, aber im Grunde wertfreien Wohnwaben mit Glasfront samt vorgelagerten Thujen und Terrassen. Die Verarmung ist nicht vorrangig materieller, sondern vielmehr zwischenmenschlicher Natur. Hier läuft also kein 08/15-Sozialdrama ab.
Eine „Frau vom Fenster“ (Eva-Maria Aichner) bewohnt mit ihrer Halbschwester, die zugleich eine Nachtschwester ist (Gunda Schanderer), in giftiger Verwandtschaft gemeinsam eine der Wohnstuben. Daneben trauert die lichtscheue „Frau hinter Rollladen“ (Katharina Hofmann) ihrem schlimmen Casanova-Gatten hinterher. Und die „Frau auf Gartenliege“ (Johanna Orsini-Rosenberg) versucht, ihre Wallungen in Schach zu halten und nützt jede Gelegenheit, ihren im dazugehörigen Müllcontainerverschlag hausenden Sohn (Jakob Kajetan Hofbauer) zu demütigen. Sie nennt ihn – apropos Verdinglichung – „ang’rotzes Sacktuch“. Er schnüffelt sich Tag für Tag mit Pattex in den Deliriumshimmel, über den er in einer schönen Videoprojektion auch einmal Big-Lebowski-like schwebt.
Die richtige Tablettendosis ist alles, was an dieser Wohnadresse noch zählt. Und Plattner katalogisiert die Farbpracht dieser Existenzregulatoren quer durch die Dialoge in allen Gelbtönen: „Hinigerkanarienvogelgelb“, „Zigarettenfingergelb“, „Gummihandschuhgelb“ – und bitte nicht zu vergessen die „klosteingelben Schlafanstoßer“! Das Sprechen miteinander ist ein Monologisieren nebeneinander, dominiert von unheimlichen Substantivierungen („Restlebenverwalterinnen“, „Ver- antwortungsgefühliges“). Die Satzenden rasten ein wie Gefängnistüren: „Mein Sprechen mit dir ist nun beendet.“ So klar wie hier hört man Werner Schwab in der zeitgenössischen österreichischen Dramatik selten heraus. Und vielleicht ist das schon der Hauptgrund, warum dieser Abend auch wie ein Déjà-vu wirkt.
Die Vereinsamung, so könnte man sagen, sieht heute allerdings schicker aus, als sie Schwab und mit ihm das Poptheater der 1990er bildlich geprägt haben. Die Welt ist aseptischer, die Oberflächen sind glatter geworden. Bodentiefe Fenster schützen aber auch nicht vor dem Alleinsein. Die Medikamente sind die letzten Gesellen. Dereguliert lassen die Protagonistinnen alles Gehässige, das man heute vor allem in Onlineforen findet, an ihrer jeweiligen Nächsten aus. Halb mechanisch, halb menschlich – schwankend zwischen Angsthemmern, Schmerzmitteln und Stimmungsaufhellern – spricht „es“ aus den Figuren heraus. Eine beachtliche Lesart: an den Rand gedrängte Frauen, die zu Avataren ihrer selbst geworden sind. //