5 Soziale Emotionen in den Probenprozessen
Interaktionsrituale in den Probensituationen
von Viktoria Volkova
Assoziationen: Wissenschaft

In den vorangegangenen Kapiteln habe ich den Probenprozess als ein Geschehen dargestellt, das sich aus vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Ereignissen zusammensetzt. Diese Ereignisse stellen die maßgeblichen Elemente einer Inszenierung bereit. Entscheidend ist, dass diese Elemente im Lauf des hochgradig repetitiven Probenprozesses sukzessiv modifiziert und verfeinert werden, um schließlich in die Endfassung der Aufführung einzugehen. Wie in der Einleitung dieser Arbeit bereits vermerkt wurde, bestimme ich die Probensituation als die elementare Analyseeinheit eines Probenprozesses. Was genau unter einer Probensituation zu verstehen ist, hat meines Erachtens Konstantin Stanislawski im ersten Teil seines Werks Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst im schöpferischen Prozess des Erlebens – wenn auch nur indirekt – verdeutlicht. Jeder, der mit diesem in Form eines Tagebuchs verfassten Werk vertraut ist, weiß, dass der Regisseur Torzow seinen Schauspielschülern im gesamten Studienjahr immer wieder dieselben Etüden vorzulegen pflegt, um anhand dieser Übungen neue Begriffe und Psychotechniken einführen zu können, die er mit seinen Schülern anschließend gemeinsam durcharbeiten kann. Während dieses Zeitraums schafft der Regisseur für seine Studierenden mithin etliche Studiensituationen,1 die für die Schüler zwar einerseits nicht unbekannt sind, aber andererseits immer wieder unvorhersehbare Herausforderungen provozieren. In diesen Studiensituationen sollen die Studenten (oft auch anhand eigener Fehler) lernen, die im Schauspielunterricht stets entstehenden Herausforderungen bewältigen. Offensichtlich bereitet Torzow (der bekanntlich als Prototyp von Stanislawski selbst gilt) seine Schüler mit diesen Maßnahmen darauf vor, dass sie später als professionelle Schauspieler an jedem Probentag auch immer wieder mit den Szenen konfrontiert werden, die aufgrund der Probenereignisse, -kommunikationen und -(wechsel-)beziehungen modifiziert und weiterentwickelt werden. Die Studenten sollen schon im Unterricht lernen, dass die Konfrontation mit diesen Ereignissen während der Proben immer spontan und völlig unerwartet beginnt, dass die Aufmerksamkeit der Teilnehmer dabei quasi »ertappt« wird und dass sie als Schauspieler für diesen Vorgang des Zustandekommens einer Szene in erster Linie verantwortlich sind. Sie als Schauspieler sollen auf diesen Vorgang direkt Einfluss nehmen. Mit anderen Worten: Torzow bereitet seine Schüler auf Probensituationen vor. Eine Probensituation kann – genauso wie eine Studiensituation – an einem Proben- oder Studientag unter gewissen Bedingungen beginnen, danach für eine Weile »in Vergessenheit geraten« und an einem anderen Proben- oder Studientag plötzlich mit neuer Intensität und anderen Qualitäten wieder auftauchen. In Stanislawskis Werk greifen die Schüler im ersten Studienjahr z. B. die Etüde einer »Geldverbrennung« immer wieder auf. Über die Umstände, unter denen der Regisseur Torzow diese Etüde vorbrachte, heißt es:
[…] Ich erzähle Ihnen jetzt eine erschütternde Tragödie, die Sie hoffentlich die Zuschauer vergessen läßt.
Sie spielt ebenfalls in Maloletkowas Wohnung. Sie hat inzwischen Naswanow geheiratet, der als Kassierer bei irgendeinem Amt arbeitet. Sie haben ein entzückendes Baby. Die Mutter ist hinausgegangen, um das Kind zu baden, der Vater ordnet seine Akten und zählt das Geld nach – wohlbemerkt: Es sind Dienstpapiere und amtliche Gelder. Er war am Abend durch Dienstwege aufgehalten worden und hatte es nicht mehr geschafft, sie im Amt abzugeben. Ein Haufen abgegriffener, schmutziger Geldscheine liegt auf dem Tisch.
Vor Naswanow steht Maloletkowas jüngerer Bruder, er ist bucklig, schwachsinnig – ein Halbidiot. Er sieht zu, wie Naswanow die bunten Papierstreifen – die Banderolen – von den Geldbündeln abreißt und in den Kamin wirft, wo sie in hellen Flammen rasch verbrennen. Dem Schwachsinnigen gefällt dieses lustig aufflackernde Feuer.
Das Geld ist gezählt. Es sind über zehntausend Rubel.
Da der Mann mit seiner Arbeit fertig ist, ruft ihn die Maloletkowa zu sich ins Nebenzimmer, damit er das Kind bewundere, das sie dort badet. Naswanow geht weg, der Idiot wirft, so wie er es gesehen hat, weiterhin Papierchen ins Feuer. Und weil keine Banderolen mehr da sind, wirft er die Geldscheine hinein. – Die brennen ja noch lustiger als die bunten Streifen! Hingerissen von diesem Spiel, hat der Idiot das ganze Geld ins Feuer geworfen und die Rechnungen und die übrigen Papiere dazu – den ganzen staatlichen Besitz.
Naswanow kommt zurück, als der letzte Stoß Feuer fängt. Als er begreift, was los ist, stürzt er außer sich auf den Buckligen zu und stößt ihn heftig vom Tisch zurück. Der Idiot fällt hin und schlägt mit der Schläfe auf das Kamingitter. Wie ein Irrsinniger reißt Naswanow das letzte, schon halb verbrannte Bündel aus der Glut und stößt einen verzweifelten Schrei aus. Die Frau kommt herbeigelaufen und erblickt den vor dem Kamin liegenden Bruder. Sie versucht ihn aufzurichten, es gelingt ihr aber nicht. Als sie das Blut auf seinem Gesicht sieht, befiehlt sie ihrem Mann Wasser zu holen. Aber Naswanow starrt verständnislos vor sich hin, er ist gelähmt vor Entsetzen. Da stützt die Frau selber nach Wasser, und sofort ertönt aus dem Nebenzimmer ihr Schrei – ihr Kind, ihr geliebtes, entzückendes Baby ist in der Badewanne ertrunken.
Wenn Sie diese Tragödie nicht vom schwarzen Loch des Zuschauerraums ablenkt, dann sind ihre Herzen aus Stein.2
Mithilfe dieser Etüde arbeiteten die Schüler während des gesamten ersten Studienjahrs diverse Aspekte der schauspielerischen Psycho- und Körpertechnik durch. Diese Aspekte bezogen sich etwa auf die Förderung der szenischen Aufmerksamkeit, die Fähigkeit zur Muskelentspannung, die Sensibilisierung für Momente der Wahrhaftigkeit oder die Rolle des Unbewussten für das Agieren auf der Bühne. Immer wieder wurde diese Etüde aufgegriffen: bald im Vorfeld eines neuen Themas, bald als dessen Fortsetzung und Erweiterung. Auch bildeten sie die Grundlage für lebhafte Diskussionen über die Fehler, die die Studenten während ihrer zahlreichen Übungswiederholungen begingen. Oft gaben sie den Schülern zudem Anlass zu Fragen an ihren Lehrer. Während des Vollzugs dieser (aber auch anderer) Etüde(n) richteten der Regisseur und sein Assistent in der Regel etliche Kommentare und Fragen an die Schüler, sodass der Prozess des Bühnenspiels immer wieder unterbrochen und die Aufmerksamkeit auf den Interaktionsprozess selbst gerichtet wurde. Die Interaktionen über die gespielten Etüden fanden mit großer Regelmäßigkeit statt: Kein Studientag verging ohne intensive Diskussionen über den Ablauf und die Ergebnisse der vollzogenen Übungseinheiten. Die in diesem Zusammenhang entstandenen Interaktionen besaßen zum einerseits einen dezidiert rituellen Charakter; andererseits bildeten sie insofern den wohl wichtigsten Inhalt des Schauspielstudiums, als in dessen Verlauf keine einzige physische oder geistige Handlung der Schüler jemals ohne eine bestimmte vertrauliche3 Interaktion begleitet wurde. Schematisch könnte man die in Stanislawskis Werk geschilderten Studiensituationen folgendermaßen darstellen:
1.Anfang der Etüde – Unterbrechung – Interaktion – spontane Trainingsübung – Interaktion – Wiederholung der unterbrochenen Etüde;
2.Interaktion – Wiederaufnahme einer bekannten Etüde – Unterbrechung – Interaktion – neue Trainingsübung oder eine andere Aufgabe – Interaktion – Wiederaufnahme der unterbrochenen Etüde;
3.ein unvorteilhafter Auftritt der Studierenden – Interaktion – Aufgriff einer anderen Etüde – Interaktion – Wiederaufnahme der beiden Stellen usw.
Was sämtliche Studiensituationen eint, sind die diese sowie den ganzen Studienverlauf prägenden Interaktionen. Genauso wie die in Stanislawskis Werk beschriebenen Studiensituationen waren auch die Probensituationen in den von mir besuchten Probenprozessen strukturiert: Während eine Szene auf der Bühne gespielt wurde, konnte der Regisseur diese unterbrechen, seinen Kommentar dazu abgeben, auf die Bühne steigen, dort mit den Schauspielern diskutieren, dann die Szene sogar abbrechen, um anschließend über eine andere Szene zu sprechen und die unterbrochene Szene erst einige Tage später wieder aufzunehmen. Eine Szene konnte aber auch im Vorfeld des Bühnenspiels diskutiert, danach gespielt, dann kurz unterbrochen und anschließend fortgesetzt werden. Bedeutsam ist an dieser schematischen Beschreibung des Probenverlaufs der repetitive und rituelle Charakter der Interaktionen der Künstler. Warum alle Interaktionen im Probenprozess rituell sind, habe ich ansatzweise bereits im vorangegangenen Kapitel unter Rückgriff auf einige einschlägige Emotionstheorien angedeutet. Diese Ausführungen möchte ich nun in Rekurs auf Randall Collins’ emotionssoziologische Überlegungen vertiefen. Collins ist für meine Studie insofern grundlegend, als er die Mechanismen auslotet, vermittels derer dauerhafte Emotionen in Interaktionsprozessen zu entstehen vermögen. Der Schlüsselbegriff seiner Emotionstheorie ist der der emotionalen Energie (emotional energy):
E[motional] E[nergy] gives energy, not just for physical activity (such as the demonstrative outbursts at moments of acute joy), but above all for taking the initiative in social interaction, putting enthusiasm into it, taking the lead in setting the level of emotional entrainment. Similarly, sadness or depression is a motivational force when it is a long-term mood, reducing the level of activity, not only bringing physical listlessness and withdrawal (at its extreme, the avoidance of being awake), but making social interaction passive, foot-dragging, perfunctory. Emotional energy, in I[nteraction] R[itual] theory, is carried across situations by symbols that have been charged up by emotional situations. Thus E[motional] E[nergy] is a central part of the arousal of symbols that humans use to talk and to think with.4
Nach der Beschreibung von Turner und Stets entsteht der Eindruck, als würde die emotionale Energie, dieser für Collins’ Theorie grundlegende Begriff, wie ein vor allen Augen versteckter Motor in einer jeden sozialen Interaktion in einer jeden Lebenssituation wirken:
Collins’ […] theory is about longer term emotional energy that builds up and is sustained across situations rather than the more transient emotions such as joy, embarrassment, fear, and anger that arise in a particular situation. The theory is less about immediate emotional arousal than about the more enduring emotions that give people high or low levels of energy in diverse situations, that keep their enthusiasm up or bring it down, and that make them initiate or fail to instigate interactions.5
Bemerkenswert ist die Tatsache, dass auch Collins die besondere Rolle der Situation hervorhebt, um zu zeigen, dass sie die Einheit ist, in der emotionale Energien in Erscheinung treten. Es sind nicht die transitorischen Emotionen »in a particular situation«, sondern die langfristigen Emotionen »in diverse situations«, die über eine unbestimmte Zeitdauer den Enthusiasmus der Menschen tragen und diese weiter miteinander interagieren und/oder vergangene Interaktionen ins Gedächtnis rufen lassen. Langfristige Emotionen sind an andauernde Lebenssituationen gebunden. Im Folgenden möchte ich Collins’ Theorie in drei Schritten für die Erforschung von Probensituationen fruchtbar machen. In einem ersten Schritt sollen die von Collins als wesentlich erachteten Komponenten eines Interaktionsrituals herausgestellt werden. Danach arbeite ich die Kriterien heraus, nach denen die Komponenten der Interaktionsrituale in den Probensituationen herausgegliedert werden können. Im dritten Schritt wende ich mich schließlich anhand meiner zahlreichen Probennotizen und -aufnahmen solchen Probensituationen zu, in denen besondere emotionale Ereignisse zum Vorschein kommen.
5.1.1Randall Collins’ Komponenten der Interaktionsrituale
Randall Collins teilt den gesamten Prozess der Interaktionsrituale in zwei Blöcke ein: einerseits in die Bestandteile (»ingredients«) und andererseits in die Ergebnisse (»outcomes«) von Ritualen. Im ersten Block gliedert er vier Komponenten von Interaktionsritualen heraus: 1) den Aspekt der körperlichen Ko-Präsenz (»co-presence of bodies«), 2) die Ausgrenzung von Fremden (»barriers to outsiders«), 3) den gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus (»mutual focus of attention«) sowie 4) geteilte Stimmungslagen (»shared mood«). Hinter dieser Struktur steht die Überzeugung, dass gemeinsam vollzogene Handlungen einen prägenden Einfluss auf die kollektive Aufmerksamkeit von Akteuren ausüben, wobei transitorische (d. h. kurzfristige) Emotionen für die im Zuge dessen aufkommenden geteilten Stimmungslagen tonangebend sind. Zwischen dem gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus und der geteilten Stimmung der Beteiligten entsteht mithin ein reziprokes Verhältnis. Wie in Kapitel 4.2, Anm. 43 bereits bemerkt wurde, bauen die Teilnehmer eines Rituals eine Resonanzbeziehung auf, durch die ihre Handlungen eine leiblich-affektive Rhythmisierung erfahren. Diese Rhythmisierung intensiviert die ohnehin zunehmende Wechselwirkung zwischen geteilter Aufmerksamkeit und geteilter Stimmungslage. Der erste Block (Bestandteile der Rituale) ist mit dem zweiten Block über das Motiv der kollektiven Efferveszenz verbunden. Leiblich-affektive Rhythmisierung und kollektive Efferveszenz gelten hier als Variablen bzw. Hauptmechanismen, über welche die Rituale erfolgen. So ermöglichen diese Mechanismen vier (dem zweiten Block zugehörige) Ergebnisse der Rituale: 1) Gruppensolidarität (»group solidarity«), 2) gestiegene emotionale Energie jedes einzelnen Beteiligten (»enhanced emotional energy for individuals«), 3) die die sozialen Verhältnisse markierenden Symbole (als sakrale Objekte) (»symbols marking social relationship (as sacred objects)«) sowie 4) Ärger über etwaige Angriffe auf diese Symbole (»righteous anger for violations of respect for symbols«). Soziale Verhältnisse werden durch gestiegene Gruppensolidarität und emotionale Energie zur sakralen Kategorie erhoben. Dadurch steigt auch die Bereitschaft der Beteiligten, das sakrale Symbol der Gruppe vor äußeren Angriffen zu schützen.
Collins’ Modell der Interaktionsrituale ist auf verschiedene soziale Gruppenprozesse übertragbar. Im Folgenden schlage ich vor, dieses Modell ebenfalls auf die Interaktionsrituale der theatralen Probenprozesse anzuwenden. Zu diesem Zweck werde ich im dritten Schritt die elementaren Einheiten des Probenprozesses – die Probensituationen – herausgliedern. Aber noch vor der Lektüre der Probenprotokolle sollen diejenigen Kriterien deutlich markiert werden, die nun im Schritt zwei in Anlehnung an Collins für die Komponenten der Interaktionsrituale der Probensituationen spezifiziert werden.
5.1.2Zu den Kriterien, nach denen die Komponenten der Interaktionsrituale in den Probensituationen identifiziert werden können
Die wörtliche und oft auch videodokumentierte Wiedergabe der Interaktionen und des Vorgehens in den Probensituationen an drei Berliner Theatern wird die Art und Weise illustrieren, wie die kollektiv-affektive Erregung(kollektive Efferveszenz) und leiblich-affektive Rhythmisierung auf die Gruppensolidarität, auf die gestiegene emotionale Energie jedes einzelnen Beteiligten und auf die rituellen Symbole des Probenteams eingewirkt haben.
Das erste Kriterium ist das der kollektiv-affektiven Erregung (kollektiven Efferveszenz) des Probenteams. Es lässt sich als ein kohärentes Wohlgefühl der Probenden beschreiben, das normalerweise deren leiblich-affektiver Rhythmisierung vorangeht, denn die Schauspieler müssen sich zunächst in der Gesellschaft ihrer Kollegen wohl und unbefangen fühlen. Erst beim Empfinden dieses gemeinsamen Wohlgefühls bzw. nach der Verankerung des individuellen Verständnisses jedes einzelnen Spielers darüber, dass man hier und jetzt mit diesen Menschen nicht umsonst weilt und dass man dieser Menschengruppe durch seine Tätigkeit Nutzen bringt, entsteht in jedem probenden Schauspieler – und d. h. kollektiv – geistige (sich im kollektiven Unterbewusstsein eingenistete) Verpflichtung, die Ritualität ihrer Interaktionen im gesamten Probenprozess zu bewahren.
Das zweite Kriterium ist das der leiblich-affektiven Rhythmisierung des Probenteams. Diese ist am besten anhand der Videos zu beobachten. Die Videoaufzeichnungen (in denen die Bewegungen und Handlungen der Schauspieler bei Bedarf in einem verlangsamten Tempo abgespielt werden können) ermöglichen es, den Prozess der Szenenprobe zu verfolgen und zwar im Detail, wie sich die Teilnehmer im Szenenverlauf nicht nur emotional (wenn z. B. beim Proben ein lachender Schauspieler die anderen zum Mitlachen bringt u. ä.), sondern auch physisch (wenn alle Teilnehmer aufgrund einer positiv emotionalen Vorarbeit während der Szene zu tanzen beginnen, ein Kinderspiel aufgreifen o. ä.) auf ein und dieselbe »Frequenz« einstellen. Aber selbst wenn ich einige Szenen an manchen Probentagen nicht filmen durfte, besteht für mich als Beobachterin die Möglichkeit, die betreffenden Szenen anhand der verankerten Protokolle im eigenen Gedächtnis wiederzubeleben bzw. als eine visuelle Reihe abspielen zu lassen. Das Gedächtnis (sowohl das emotionale als auch das visuelle) spielt hiermit – neben der Videokamera – die Rolle eines aktivierbaren Speichers: Was vom Probenbeobachter in den Proben einmal gesehen/miterlebt wurde, ist in seinem Gedächtnis zugleich abgespeichert bzw. kann bei Bedarf zu einem späteren Zeitpunkt abgerufen sowie geschildert bzw. zu verschiedenen Zwecken eingesetzt werden. Anhand dieser zwei Kriterien wurden in Anlehnung an Collins folgende drei eingangs in diesem Unterkapitel genannte Komponenten der Interaktionsrituale in den Probenprozessen an drei von mir besuchten Berliner Theatern identifiziert: Gruppensolidarität, emotionale Energie und rituelle Symbole des Probenteams.
Die erfolgreichen Versuche der Schauspieler und der Regisseure, trotz mancher Unstimmigkeiten im Probenprozess zu einer gemeinsamen künstlerischen Entscheidung zu kommen, die Einigkeit bei allen Beteiligten stiftet, zeugen in Bezug auf die theatralen Probenprozesse von der Gruppensolidarität des Probenteams. Um bei der Definition der Gruppensolidärität eines theatralen Probenteams präziser zu sein, könnte im Vorfeld der Angaben mit detaillierten und illustrierenden Schilderungen der Probensituationen eine folgende auf eigenen Probenbeobachtungen basierende Überlegung angeführt werden. Um Gruppensolidarität eines Probenteams geht es beispielsweise dann, wenn ein (oder mehrere) Darsteller beim Spielen der einen oder anderen mise-en-scéne mit den Intentionen des Regisseur anfänglich nicht einverstanden ist, aber nach dem Aufgreifen von gemeinsamen, konsolidierenden Aktivitäten (sei es eine Diskussion, ein treffender Witz, eine illustrierende Bewegung bzw. Handlung eines weiteren Probenmitglieds o. ä.) eine beiderseitig passende künstlerische Entscheidung getroffen wird.
Die emotionale Energie des Probenteams – die Schlüsselkomponente jeder sozialen Interaktion – wird am treffendsten durch den Impetus geschildert, mit dem jeder einzelne Beteiligte beim kollektiven Kreieren der Szene eigene Initiative für Interaktionen und Handlungen übernimmt. Die persönliche Initiative jedes einzelnen Darstellers, neue Ideen und Vorschläge mit den Mitspielern zu teilen, über diese Ideen zu diskutieren, Aktivitäten der Gruppe zu bestimmen (z. B. ein Kinderspiel zu initiieren, ein Musikinstrument zu spielen, einen Zeitungsartikel vorzulesen usw.), gilt als innere Triebkraft der Interaktionsrituale in Theaterproben.
Als Beispiel für die zum Einsatz gekommenen Symbole gelten die wirklichkeitstransformierenden (performativen) Sätze und Handlungen6 der Beteiligten, die den Probenvorgang tagtäglich veränderten. Diese performativen Sätze und Handlungen werden im Unterkapitel 5.1.3 wiedergegeben.
5.1.3Probensituationen am Deutschen Theater Berlin, dem Berliner Ensemble und an der Schaubühne am Lehniner Platz
Probensituationen illustrieren emotionale Ereignisse, aus denen einzelne Szenen des gesamten Stücks gestaltet werden. Die alltäglichen Interaktionen der Künstler weisen einen repetitiven und insofern immer auch einen rituellen Charakter auf. Die notwendige Repetitivität der Interaktionsvorgänge geht unter ständig wandelnden – und deswegen so riskanten – Umständen vonstatten. Wie in den vorangegangenen Kapiteln bereits erörtert wurde, markiert die Probensituation einen Standort, an dem Ereignisse herangezogen werden, die entweder irgendwann bereits stattgefunden oder aber schon begonnen haben und deren Inhalte den Probenden insofern zugänglich sind, sodass man diese Ereignisse für die Erarbeitung der Inszenierungsstrategien und Bühnenkonstellationen einsetzen kann. Es können durchaus Ereignisse sein, die sich auf die Gegenwart oder Zukunft beziehen und die in der Folge von Diskussionen zu weiteren Handlungen für den Probenprozess verwendet werden können.
Bei meiner Suche nach einer adäquaten Klassifikation der von mir beobachteten Probensituationen orientierte ich mich an den emotionalen Ereignissen, die sich mir während meiner Feldforschung boten. Ich habe die beobachteten emotionalen Ereignisse als Liebe, Verachtung, Stolz und Eifersucht markiert. Dabei bezog ich mich u. a. auf die Theorie der somatischen Marker (»somatic marker hypothesis«), die von dem Neurologen und Emotionsforscher Antonio Damasio eingeführt wurde.7 Damasios langjährigen Laboruntersuchungen zufolge markieren Individuen ihre emotionalen Reaktionen mithilfe der Sprache auf symbolischem Weg: Individuen benennen ihre Gefühle immer als etwas. Auf diese Weise werden körperlichen Reaktionen bzw. den Wahrnehmungen von Situationen und Ereignissen gewissermaßen »Etiketten« angeheftet. Um mit Damasio selbst zu sprechen, geschieht solches »Etikettieren« folgendermaßen:
Wenn wir an die primären Emotionen denken [bei Damasio sind es Freude, Trauer, Furcht, Ärger, Überraschung und Ekel – V. V.], fällt uns die Erörterung des Problems leichter, aber wir dürfen darüber nicht vergessen, dass es zahlreiche andere Verhaltensweisen gibt, die mit dem Etikett »Emotion« versehen worden sind. Dazu gehören die sogenannten sekundären oder sozialen Emotionen: Verlegenheit, Eifersucht, Schuld, Stolz und andere.8
Das Gehirn empfängt Signale aus dem Körper und registriert diese in den sogenannten »Gehirnkarten«, und zwar als das, was man Emotion nennt. Aber nicht alle Emotionen entstehen unmittelbar im Körper. Damasio bezeichnet die Bildung komplexerer Emotionen als »Als-ob-Körperschleife«:
Interessanterweise liegen nicht allen Gefühlen echte Reaktionen des Körpers auf äußere Reize zu Grunde. Manchmal werden solche Veränderungen auch nur in den Gehirnkarten simuliert. Ich nenne das die »Als-ob-Körperschleife«. Wenn wir zum Beispiel Mitleid mit einem Kranken empfinden, dann vollziehen wir dessen Schmerzen zu einem gewissen Grad innerlich nach.9
Die »Als-ob-Körperschleife« erlaubt einer Person, ein Gefühl nicht unbedingt körperlich zu empfinden, sondern die Markierungen bzw. »Etiketten« von bereits zuvor erlebten Emotionen auf andere Situationen zu übertragen: »[…] a person who thinks about relationships that he or she has labeled ›love‹ is likely to reexperience in somewhat diluted form the same physiological reaction as when the object of love is actually present.«10 Damasio führt aus:
Es ist, »als ob« der Körper sich verändern würde, was aber nicht der Fall ist. Der Mechanismus der »Als-ob-Körperschleife« umgeht den Körper im engeren Sinn teilweise oder vollständig, wobei ich die Auffassung vertrete, dass die Umgehung des Körpers Zeit und Energie spart – was unter bestimmten Umständen durchaus hilfreich sein kann. Die »Als-ob«-Mechanismen sind nicht nur wichtig für Emotion und Gefühl, sondern auch für eine Klasse von kognitiven Prozessen, die man als »innere Simulation« bezeichnen könnte.11
Die »Etiketten«, die wir an unsere emotionalen Erfahrungen anhängen, sind darüber hinaus zum Teil auch kulturell vorgegeben:
Ungeachtet der Tatsache, dass die emotionalen Mechanismen einem gewissen Maß an biologischer Vorprogrammierung unterliegen, haben Entwicklung und Kultur wesentlichen Anteil am Endprodukt. Aller Wahrscheinlichkeit nach nimmt der Einfluss von Entwicklung und Kultur auf die vorprogrammierten Mechanismen folgende Formen an: Erstens, sie prägen das, was nachher den angemessenen Auslöser einer gegebenen Emotion darstellt; zweitens, sie prägen einige Aspekte des emotionalen Ausdrucks; und drittens, sie prägen die Kognition und das Verhalten, die auf die Manifestation einer Emotion folgen.12
Diese von Kultur geprägten »Etiketten« und Marker, mit denen wir unsere emotionalen Erfahrungen versehen, ermöglichen uns zugleich das Nachempfinden unserer eigenen Emotionen in ähnlichen Situationen oder das Mitempfinden von den Emotionen anderer Menschen: Dabei tun wir so, als ob wir in diesen Situationen etwas empfänden, das wir einmal schon empfunden haben:
Thus, culture provides labels and markers for emotional experiences while at the same time the use of the cultural symbols allows individuals to experience emotions ›as if‹ they were once again in the situation that generated the physiological reactions that generated those emotions.13
So sind komplexe Emotionen wie Liebe, Stolz, Eifersucht etc. nicht nur auf die körperlichen Reaktionen des Individuums, sondern auch – und vor allem – auf soziale Erfahrungen und Ereignisse zurückzuführen, in die das Individuum verwickelt ist. Entsprechend bezeichne ich das komplexe Phänomen des emotionalen Ereignisses als eine soziale Emotion14 und widme diesem im weiteren Verlauf des Textes ein eigenes Unterkapitel.
Emotionale Ereignisse der drei Probenprozesse habe ich in die Probensituationen gruppiert: Die Struktur einer jeden Probensituation besteht also aus den in den Proben vonstattengehenden emotionalen Ereignissen. Die Gliederung jeglicher Inszenierung in Szenen erlaubt es, die emotionalen Ereignisse entsprechend einer bestimmten Probensituation zu systematisieren. So entstanden in Dimiter Gotscheffs Inszenierung Krankenzimmer Nr. 6 Szenen wie »Liebeserklärung« (Liebe), »Mann, tut das weh!«, »Sie hören von mir kein Wort mehr« (Verachtung), »Aufstand« (»Der Doktor ist gekommen!«) (Verachtung), »Auch wenn Sie mir zweihunderttausend geben würden«, »Das Abc« (Stolz).15 In Thomas Langhoffs Endstation Sehnsucht gab es Szenen wie »Bekanntschaft bei den Kowalskis«, »Ausgehen in die Stadt«, »Unterhaltung bei den Kowalskis« (Liebe), »Überlebender der Steinzeit«, »Steinbock – der Bock!«, »Er ist unerträglich grob«, »Papageien-Witz« (Verachtung), »der Kampf um Stella« (Eifersucht).16 In Thomas Ostermeiers Aufführung Der Tod in Venedigentstanden Szenen wie »Viel, fast beständig sah Aschenbach den Knaben Tadzio«, »Neuerdings begnügte er sich nicht damit, Nähe und Anblick des Schönen der Tagesregel und dem Glücke zu danken«, »Aschenbachs Traum« (Lied: »Ich bin der Welt abhanden gekommen«), »In dieser Nacht hatte er einen furchtbaren Traum« (Liebe).17 Alle diese Szenen entstanden während der langen Probensituationen. Die Art und Weise, wie die Probensituationen im Laufe der Probenzeit geschaffen wurden, habe ich in meinem Notizheft festgehalten.
Im Folgenden wird die Struktur der Probensituationen gezeigt. Dabei werde ich neben dem Datum und Ort der Probe auch noch die entsprechende Textstelle angeben. Den Kern einer Probensituation bilden zum größten Teil die Schilderungen des Szenenverlaufs und zitierte Interaktionen der probenden Künstler, aber auch die Aussagen, die mir die Schauspieler in manch einem Interview anvertraut haben. Da aber die meisten Beschreibungen des Szenenverlaufs und der Interaktionen der Kunstschaffenden im Kapitel 6 (Tabelle) in voller Länge angeführt werden, wird in diesem Schritt auf wiederholte Schilderungen verzichtet. Es werden im Weiteren die genauen Textstellen der Tabelle im Kapitel 6 genannt, an die sich der Leser beim Schaffen eines Bildes darüber, was eine Probensituation darstellt, orientieren soll. Die Schilderungen der Interaktionen und des Szenenverlaufs werden hier, im Schritt drei, angeführt. Jedoch wird für jede der vier sozialen Emotionen (Liebe, Verachtung, Eifersucht, Stolz) im Folgenden je nur ein Beispiel aus jeder Inszenierung genommen, um so womöglich unnötige Wiederholungen in Probenprotokollen und in der Tabelle zu vermeiden. Die Emotionen Liebe und Verachtung, die in der vorliegenden Untersuchung am häufigsten vorkommen, werden an Szenen aus zwei verschiedenen Inszenierungen berücksichtigt.
DEUTSCHES THEATER BERLIN
Erste Probensituation
Katrin Wichmann – Samuel Finzi, Szene: »Liebeserklärung« (Liebe)
18.1.2010, 8. Probentag, Leseprobe, Ballhaus Rixdorf
Gotscheff (nachdem er einen Ausschnitt aus einem Zeitungsartikel über Anton Čechov vorgelesen hat): »Man sieht nur das Lächeln von Čechov. Margit [Bendokat] muss einen Punkt haben – die Einzige, die den Stuhl haben muss. Entweder ist es ein Ruhepunkt oder ein unruhiger Punkt. Alle Räume von Katrin [Wichmann] sind poetischer Natur.«
19.1.2010, 9. Probentag, Leseprobe, Ballhaus Rixdorf
Der Co-Regisseur Ivan Panteleev und Katrin Wichmann lesen Auszüge aus Čechovs Erzählung Die Braut vor.
Wichmann: »Vielleicht soll ich meinen Text mit Gesang und Tanz sprechen?«
Gotscheff: »Ja!«
Gotscheff arbeitet inzwischen mit Margit Bendokat, Harald Baumgartner und Andreas Döhler.
Danach liest Katrin Wichmann ihren Text vor (selbstbewusst, eifrig, sicher): »Ich möchte leben! Leben, leben! Ich will Frieden, Ruhe, ich will Wärme, dieses Meer da! Oh, wie gern möchte ich auch Ihnen diese leidenschaftliche Gier nach dem Leben einflößen! Ein lebendiger Mensch muss sich aufregen und in Verzweiflung geraten, wenn er sieht, wie er selbst zugrunde geht und wie ringsum andere zugrunde gehen.«
Gotscheff: »Katrin, lies das naiv!«18
21.1.2010, 11. Probentag, Leseprobe, Ballhaus Rixdorf
Zunächst wurden die Szenen mit Harald Baumgartner und die Szene »Das Čechov-Abc« durchgearbeitet.
Erst dann kam Katrin Wichmann an die Reihe. Sie las einen neuen Text, den sogenannten Text der Liebeserklärung vor. Während Wichmann vorlas, sagte Gotscheff: »Lies schneller!« Wichmann las schneller, während Samuel Finzi und Wolfram Koch zu ihr rutschten und sie bewundernd anstarrten.
25.1.2010, 14. Probentag, Leseprobe, Ballhaus Rixdorf
Allgemeine Besprechung. Gotscheff gibt allen Schauspielern Regieanweisungen, während sie zum ersten Mal ihre Ausgangspositionen im Raum einnehmen.
Gotscheff (an Wichmann): »Katrin, du hast eine Mädchenstimme. Du bleibst mehr unter deiner Glocke. Das Ganze kommt bei dir aus der Naivität.«
Fortsetzung der Leseprobe.
Während Wichmann ihren Text »Ich möchte leben« vorliest, sagt ihr Gotscheff: »Mit mehr Druck!« Wichmann liest weiter »mit mehr Druck« vor, dabei sagt ihr Gotscheff: »Katrin, nicht in Form von einem Dialog, sondern bleib bei dir!«
Gotscheff unterbricht sie oft, während sie vorliest. Bald sagt er einwilligend »Schön, schön«, bald unterbricht er sie wieder und macht ihr etwas mimisch und gestisch vor.
27.1.2010, 16. Probentag, Bühnenprobe, Ballhaus Rixdorf
Vor der Probe spricht Gotscheff mit den Schauspielern im vertrauten Kreis und liest ihnen einen Auszug von Kasimir Malewitsch vor. Dann lässt der Regisseur Samuel Finzi »den Raum eröffnen«: »Sancho19, eröffne den Raum!«
Danach geht Gotscheff zu Katrin Wichmann, die vor dem Schuh hockt. Er zieht sie hoch und ab diesem Moment steht sie, ihr Gesicht dem Saal zugewandt, und spricht ihren Text »Ich möchte leben« leise in den Saal. Gotscheff macht dabei schwingende Handbewegungen, als wollte er dem von ihr gesprochenen Text mehr Naivität und Leichtigkeit verleihen.20
28.1.2010, 17. Probentag, Bühnenprobe, Ballhaus Rixdorf
Innerhalb von 36 Minuten21 spielen die Darsteller die Szenen (wie sie in der damaligen Textfassung existierten), ohne ein einziges Mal vom Regisseur unterbrochen zu werden. Die Szene »Liebeserklärung« verlief so: Katrin Wichmann, gekleidet in ein Hochzeitskleid, mit einem luftigen zweiteiligen Brautschleier auf dem Kopf (der eine Teil des Schleiers verdeckt ihr Gesicht) geht von einem Bühnenende zum anderen, ein russisches Lied (Warjag) vor sich hin summend. Sie lächelt dabei, richtet immerzu ihren Schleier auf dem Kopf und schaut Doktor Ragin anbiedernd an. Der Doktor steht auf der Vorderbühne und schaut ihr interessiert zu, weil er anscheinend noch nicht versteht, was der Gesang und ihr Anlächeln bedeuten sollen. Wichmann beendet das Lied und geht auf den Doktor zu, dabei macht sie einen lauten »romantischen« Seufzer. Dann spricht sie den Text der Liebeserklärung (siehe Kapitel 4.1, Anm. 20). Während sie den Text spricht, macht sie den Eindruck einer Frau, deren Herz voller Sehnsucht ist. Sie wirkt, als suche sie nach jemanden, dem sie ihr Herz ausschütten kann und der aus ihrer Sicht eine passende Partie für sie sein könnte. Sie macht keinen irrsinnigen Eindruck (wobei die Handlung in einer Irrenanstalt spielt), sondern scheint nur einsam und unglücklich zu sein. Wichmann spricht den Text selbstbewusst, mit Würde und einem bestimmten Maß an Verlegenheit (ab und zu lacht sie verlegen auf und senkt den Blick), weil der Text an sich sehr aufrichtig ist. Körperlich macht sie nicht viel: Sie steht rechts vom Doktor und schwingt bei besonders emotionalen Textstellen mit den Armen. Auf den Doktor schaut sie nur ab und zu.
2.2.2010, 21. Probentag, DT-Probebühne
Nachdem Gotscheff eine Pause eingelegt hat, geht Katrin Wichmann auf ihn zu und erklärt ihm, ihr scheine, dass sie zu viele »kluge« Worte nach Helfen Sie mir! sagen würde.
Wichmann: »Ich werde nach Ich möchte leben, leben nichts mehr sagen. Da ist schon alles drin. Ich fühle, dass ich hier nichts mehr sagen soll. Ihr Gefühl ist ohnehin stark.«
Gotscheff erwidert, er finde nicht, es sei zu viel Text. Er versucht Wichmann zu überzeugen.
8.2.2010, 26. Probentag, DT-Probebühne
Nach einigen Probenversuchen und einer langen Diskussion über den Einfluss der Patienten auf den Doktor:
Gotscheff (an alle Schauspieler): »Es entsteht ein neues Bewusstsein über sich selbst und über die eigene Lage. Es entstand jetzt eine merkwürdige Einfachheit von euch allen, was mir sehr gut gefallen hat. Wenn ihr auf den Arzt nicht so viel Druck macht, dann hat der Arzt mehr Material für sich. (an Katrin Wichmann): Wenn zum Beispiel du, Katrin, nicht mit der ›Atemlosigkeit‹22 erzählst, dann hat nicht nur Doktor, sondern wir alle mehr Material. (an alle) Was sich öffnet – von jedem von euch –, ist die existentielle Einfachheit.«
16.2.2010, 34. Probentag, DT-Hauptbühne23
(Samuel Finzi und Wolfram Koch waren an diesem Probentag abwesend.)
Vor der Szene mit Wichmanns »Liebeserklärung« wurde die Szene mit der hinunterfahrenden Maschinerie gespielt (alle Insassen der Psychiatrie sprachen ihre Texte bruchstückhaft vor sich hin, als würden sie auf diese Weise miteinander kommunizieren). Der Regisseur rief den Spielenden nur ab und zu ermunternde Worte zu (»Sehr gut, Almut!«, »Bravo, Harald!«, »Sehr gut, Katrin!«), ohne sie völlig zu unterbrechen. Für den fehlenden Wolfram Koch schrie Gotscheff an der entsprechenden Stelle »Mann, tut das weh!«. Ohne Unterbrechung folgte der Text von Harald Baumgartner. Nach Baumgartners Text erhob sich Katrin Wichmann von ihrer Ausgangsposition und sprach Almut Zilcher mit einigen Sätzen an, die einen Übergang zu ihrem Text der Liebeserklärung markierten. Als Wichmann schweigsam zur Vorderbühne ging, sagte ihr Gotscheff vom Saal aus: »So, jetzt rauf du, Katrin!«
Wichmann schritt unsicher zur Vorderbühne, heimlich und schüchtern auf Margit Bendokat (der Wärter Nikita) schauend, die auf der linken Seite der Vorderbühne auf einer Kiste saß. In diesem Moment sagte Gotscheff zu Bendokat: »Etwas von Margit.« (Er ahmte dabei ein böses »Gewieher« nach.) »Hey, Mensch, wink ihr ein bisschen.« (Wie ein Bösewicht und Schurke lachte Bendokat und winkte Wichmann zu, als ob sie sie zu sich riefe.)
Auf der Vorderbühne rechts begann Wichmann das russische Lied Warjag (Pleščut cholodnye volny) zu singen. Sie imitierte die russischen Worte nur, in Wirklichkeit gab sie nicht existierende Worte – weder russische noch deutsche – von sich. Während einer Mikropause, nachdem Wichmann die erste Strophe gesungen hatte, die mit dem symbolischen Abspielen der Musik durch »la-la-la-la« endete, imitierte Gotscheff für Bendokat ihr bösartiges Lachen. Bendokat ahmte ihn nach. Dann sang Wichmann die zweite Strophe des Lieds. Kaum hatte sie den letzten Satz gesungen, senkte sie den Kopf, als hätte sie etwas Falsches gemacht. Es entstand eine kurze Pause. In dieser Mikropause sagte ihr Gotscheff aus dem Saal: »Katrin, du singst wunderbar, aber wenn du Margit hörst […]« [Er sprach zu leise, sodass seine Worte nicht mehr hörbar waren. Aber seine schwingende Hand zeugte davon, dass er Wichmann eine andere Stelle auf der Bühne zeigte, auf die sie wohl gehen sollte, sobald sie Margit Bendokats Kichern wahrnahm.]
Nach einer kurzen Weile wurde die Szene der Liebeserklärung wiederholt. Gotscheff fragte Wichmann, ob sie die Szene von Anfang an beginnen möchte. Wichmann stand schon in ihrer Position bereit und sagte leise »Ja«. Gotscheff wandte sich an Bendokat: »Margit!«, und sie, links auf der Vorderbühne auf der Kiste sitzend, begann wieder frech zu kichern und mit beiden Beinen wie ein kleines Mädchen gegen die Kiste zu schlagen. Katrin Wichmann sang die erste Strophe und als sie beim »la-la-la-la-la« war, schrie Gotscheff plötzlich: »Margit!« und ahmte ein wildes, spöttisches Lachen nach, sodass Bendokat dieses Lachen sofort von ihm übernahm. Gleichzeitig flüsterte der Regisseur Wichmann zu: »Ja, du bist gut, Katrin! Du bist gut!« Am anderen Bühnenende stand Wichmanns Figur mit gesenktem Blick, beschwertem Atem und kurz davor, in Tränen auszubrechen. Man sah ihr aber an, dass sie sich anstrengen musste, ihre Emotionen zu unterdrücken. Als Bendokats Wärter Nikita zu lachen aufhörte, setzte Wichmanns Figur das russische Lied mit neuer Kraft fort. Aber mitten im Singen versagte ihre Stimme wegen der zu hohen Töne, sodass sie das Lied kurz unterbrechen und sich räuspern musste. Im nächsten Augenblick sang sie die Strophe trotzdem bis zum Ende, veränderte aber ein wenig deren Melodie, senkte, all dies nachvollziehend, den Blick und hörte mit dem Singen komplett auf. Bendokats Wärter Nikita kicherte und äffte ihren Gesang gemein nach. Im nächsten Moment entstand eine Mikropause. Gotscheff flüsterte Andreas Döhler etwas zu, der hinter Katrin Wichmann auf der Hinterbühne weiterhin vom einen Fuß auf den anderen trat und der ganzen Szene mitleidig zusah. (Almut Zilcher stand mittig und schaute Katrin Wichmann ebenfalls zu, aber eher mit einem bewundernden Gesichtsausdruck. Harald Baumgartner stand weiter hinter Zilcher und schaute dem Geschehen nicht zu.) Sobald Döhler etwas zu sagen versuchte, unterbrach ihn Gotscheff mit einem lauten »Ok, halt!«. Der Regisseur rannte zum Bühnenrand zu Wichmann, flüsterte ihr etwas zu und schwang dabei mit den Armen, so als würde er ihr bedeuten, dass sie weiter »kämpfen« sollte. Wichmann begann sofort damit, ihren Text der Liebeserklärung zu sprechen. Nach ihrem Satz Wissen Sie was, ich hatte noch nie im Leben eine Liebesaffäre begann der Wärter Nikita sie gemein auszulachen und frech zu kichern: »Olle Jungfrau!« In diesem Moment brach Andreas Döhler, unerwartet für alle, in Wut aus: »Halt das Maul! Ruhe!« Bendokat wurde still. Wichmann fuhr fort zu sprechen. Jetzt klang sie viel sicherer. Almut Zilchers Figur hörte ihr mit buchstäblich geöffnetem Mund voller Bewunderung zu. Nachdem Wichmann den Text beendete, applaudierte Zilcher und sagte: »Das ist gut! Bravo! Sie haben wirklich Talent, Sie sollen zum Theater gehen! Gut!«24
Im Anschluss an die Szene fand eine Besprechung auf der Bühne statt:
Bendokat (an Gotscheff): »Wie weit ist es, dass ich stören kann? Durch diese Störung (sie zeigt auf die Beine) muss sie [Katrin Wichmann] ja ihre Konzentration [anstrengen].«
Döhler: »Es ist total schön, das würde ich einsetzen [meint Bendokats Störung mit dem klopfenden Bein]. Man freut sich noch einmal auf die Chance, das Lied zu hören.«
Wichmann: »Mitko25, soll ich mal versuchen, dass wenn ich anfange, dann Harald, dass ich dann wieder das gleich sage, dass ich noch nie eine Liebesaffäre hatte? Das war doch ganz gut.«
Gotscheff: »Ja, ja, ja! Versuch es. Du kannst versuchen, was du willst. Katrin, wo stehst du jetzt? Harald, wie war der Übergang?«
Überlegungspause.
Wichmann: »Kam Harald zu mir oder danach?«
Regieassistentin: »Nein, es gab den Text: Almut: ›Piff-paff‹, worauf Katrin sagte: ›Ich dachte immer, eine Schauspielerin ist über alles erhaben.‹ Dann kam wieder Almut und Katrin kam dann zu ihrem Text.«
Wichmann: »Ja. Dann lassen wir es noch einmal machen.«
Gotscheff: »Ja.«
Wichmann setzte sich zwischen Andreas Döhler (der auf der Hinterbühne stand) und Harald Baumgartner (der mittig saß). Nach ihrer Phrase »Ich dachte immer, eine Schauspielerin ist über alles erhaben«, die sie an Almut Zilcher richtete, begann sie ihren Text zunächst in der Bühnenmitte zu sprechen. Dabei sagte ihr Gotscheff: »Katrin, geh zu Andreas.« Wichmann gehorchte, ging auf die Hinterbühne und richtete die ersten drei Sätze ihres Textes an Andreas Döhler. Dann ging sie zurück zur Bühnenmitte und setzte den Text dort fort.
Nach »Das ist gerade zu unangenehm« ging sie zur Mitte der Vorderbühne. Margit Bendokats Figur begann erneut zu kichern. Darauf folgte diese Interaktion:
Gotscheff: »Margit, nicht jetzt. Zuerst sagt Katrin ›zu unangenehm‹, dann geht sie nach vorne, singt und dann kannst du lachen.«
Bendokat: »Erst singt?«
Gotscheff: »Ja. Katrin, sehr gut. Noch einmal.«
Wichmann: »Also ›Hier spürt man es sehr stark‹.«
Gotscheff: »Das zu Andreas.«
Wichmann: »Alles zu Andreas?«
Gotscheff: »Nein, nein!«
Wichmann: »Zuerst zu Andreas und dann dort.«
Noch während ihres Gesprächs mit Gotscheff ging Wichmann zu Döhler und begann schon beim Gehen ihn mit ihrem Text anzusprechen. Dann bewegte sie sich zur Bühnenmitte, von wo sie alle anwesenden Schauspieler ansprach. Nach der Textstelle »In der Stadt, wenn du in einem Zimmer sitzt, dann bemerkst du diese Wissenslücke nicht. Aber hier – hier spürt man sie stark! Das ist geradezu unangenehm« sagte Almut Zilcher für alle unerwartet: »Im Zimmer sitzen und die Rolle lernen würde mir auch besser gefallen.« Wichmann ging auf die Vorderbühne und sang die erste Strophe des Lieds. Wie geplant, ahmte Margit Bendokat ihr »la-la-la« nach. Darauf sang Wichmann gleich die zweite Strophe. Bendokat begann mit dem Bein gegen die Kiste, auf der sie saß, zu klopfen und die Singende dadurch zu stören. Dabei musste Wichmann drei Mal einen Satz singen, sang ihn aber doch bis zum Ende, worauf sie gleich ihren Text (ab »Ich liebe Sie«) weitersprach. Bei »Und Ihr Knotenstock erscheint mir schöner als jeder Baum« grölte Bendokat wie für die »Störung« zuvor abgesprochen. Nach dem Textschluss applaudierte Almut Zilcher mit Bewunderung: »Bravo, bravo! Sie sind wirklich talentiert! Sie sollen zum Theater gehen!«
23.2.2010, 40. Probentag, DT-Hauptbühne
Bei der Phrase »Ich liebe ihn schon seit sechs Jahren« steht Katrin Wichmann auf, schaut mit weit geöffneten Augen Samuel Finzi an. Wichmann steht auf der Hinterbühne, Finzi sitzt auf der Vorderbühne links. Beim Sprechen hilft sich Wichmann mit den Händen. Gotscheff unterbricht sie, läuft zu ihr auf die Bühne, sagt etwas zu ihr, läuft zurück. Aus dem Saal ruft er: »Geh nach vorne!«
Die Szene der Liebeserklärung wurde erst während des ersten Durchlaufs wiederholt. Sie wurde nicht mehr getrennt von den anderen Szenen geprobt.
Aus den Probenschilderungen ist ersichtlich, dass eine große Gruppensolidarität der Künstler die Hauptkomponente beim Herstellen der Interaktionsrituale der ersten Probensituation am DT war. Selbst im ersten Probenstadium, während der Leseproben (am 18.1., 19.1., 21.1. und 25.1.2010), zeigten die Schauspieler eine besonders große Solidarität miteinander sogar in jenen Szenen, in denen nicht alle Beteiligten mitspielen mussten. Vgl. z. B. am 21.1.2010 den Vorfall, als Wolfram Koch und Samuel Finzi, ohne sich vorher verabredet zu haben, die vorlesende Katrin Wichmann umringten, von beiden Seiten zu ihr heranrutschten und sie musterten. Das parallele Zusammenrutschen illustriert die leiblich-affektive Rhythmisierung der beiden Akteure. Fälle wie dieser trugen zum inneren Zusammenhalt der Gruppe bei. Kollektive Efferveszenz, die sich in erster Linie durch die räumliche Nähe der Schauspieler und des Regisseurs am runden Tisch während der wochenlangen Leseproben ausdrückte, trug zum immer festeren Zusammenhalt der Künstlergruppe bei. Dies ließ sich auch während der Bühnenproben – in der zweiten (intensivsten) Probenphase – gut verfolgen. Am 27.1.2010, dem ersten Bühnenprobentag, traten die beteiligten Schauspieler erstmals auf der Probebühne auf, was den Einstieg in die gemeinsame Aktion markierte. Die räumliche Nähe der Schauspieler Katrin Wichmann und Samuel Finzi in der Szene »Liebeserklärung« an jenem Tag bildete den Kern der Vorgehensweise, die der Regisseur Dimiter Gotscheff an folgenden Probentagen intensiv entwickelte. Und zwar wies er bereits am nächsten Probentag (dem 28.1.2010), an dem die Szene »Liebeserklärung« weitergeprobt wurde, darauf hin, dass in dieser Szene alle Figuren (nicht nur die von Wichmann und Finzi) »einen bewegenden Einklang« brauchen. In diesem Moment begannen alle Figuren sich in diesem geschlossenen Raum intensiver an der Dynamik der Szene der »Liebeserklärung« (die eigentlich ursprünglich nur zwischen den Figuren von Wichmann und Finzi geplant worden war) zu beteiligen. So bemerkte der Regisseur bereits am 8.2.2010 nach mehreren Probenversuchen dieser Szene »eine merkwürdige Einfachheit von euch allen«. An diesem Tag wurde es (dem Regisseur und den Darstellern selbst) durch die räumliche Nähe der Akteure und ihre während des Bühnenprobens gesteigerte emotionale Energie spürbar, dass »wir alle [hervorgehoben von mir, V. V.] mehr Material« für die Szene haben. So waren beim nächsten Aufgreifen dieser Szene am 16.2.2010 bereits alle beteiligten Darsteller in sie involviert. Der Einklang, den der Regisseur am Anfang so lange gesucht hat und in dem die Akteure in diesem Probenstadium spielten, erzeugte beim Proben der Szene zunächst einmal eine hohe emotionale Energie jedes einzelnen Schauspielers (die die Kommunikation zwischen ihnen ungezwungen und leicht machte), dann ein kollektives Bewusstsein über die dominierende Emotion der Szene, was in der Folge zu einer kollektiven Efferveszenz führte.
Zweite Probensituation
Wolfram Koch – Samuel Finzi, Szene: »Mann, tut das weh!«, »Sie hören von mir kein Wort mehr« (Verachtung)
12.1.2010 (3. Probentag, Ballhaus Rixdorf) bis inkl. 14.1.2010 (5. Probentag, Ballhaus Rixdorf)
An diesen Probentagen wurde die Szene kein einziges Mal vorgelesen oder geprobt, weil die Textfassungen (mit den betreffenden Passagen dieser Szene) drei Mal geändert wurden.
18.1.2010, 8. Probentag, Leseprobe und Diskussion im Ballhaus Rixdorf
Wolfram Kochs Text erschien in der sechsten (vollständigen) Textfassung bereits als Monolog, aber immer noch mit einzelnen unterbrechenden Phrasen und Geräuschen von anderen Beteiligten:
Koch (mit viel Zeit, während ihm der Arzt zuhört; man sieht nur seinen Rücken): »Nicht lieben … Töten müsste man mich. Hier begann für mich ein neues Leben. Mann, tut das weh! Ich habe alles verloren. Alles! Ich bin schon immer ein Unglück für die Menschen gewesen, die Menschen ein Unglück für mich! Fort von den Menschen! Nur weiter fortgehen. Mann, tut das weh! Aber wohin? Unter jedem Stuhl, in jeder Ritze sitzt ein Mörder, schaut mir in die Augen und will mich töten! Schlag zu, du Mörder! Schlag zu, ehe ich mich selbst umbringe. Mann, tut das weh! Sie schlagen, schlagen auf mich ein und können mich doch nicht erschlagen! Schlag nicht auf die Brust. Sie haben mir die Brust zerfleischt. Mein Gott … Was werde ich da … Ich beruhige mich wieder. Mich zogen immer die Menschen an, doch wegen meines reizbaren Charakters und meines Argwohns kam ich niemandem näher und hatte nie Freunde. (Harald Baumgartner macht ein Geräusch.) Die Menschen, ganz egal ob hier bei uns oder sonst wo … Ich begreife sie nicht. Mann, tut das weh! Ihre grobe Unwissenheit und [ihr] schläfriges, animalisches Leben finde ich abscheulich, ab-ab-abscheulich (Zilcher: »Abholzen!«) und ekelhaft. Die überwiegende Mehrheit jener Intelligenz, wie ich sie kenne, sucht überhaupt nichts, tut nichts, liest nichts. (mit vielen Pausen) Wenn man einen hört, so bringt ihn seine Frau zur Verzweiflung, sein Zuhause bringt ihn zur Verzweiflung, sein Landgut bringt ihn zur Verzweiflung, seine Pferde bringen ihn zur Verzweiflung. Aber sagen Sie mir, warum bringt er es im Leben zu überhaupt nichts Höherem? Warum? (Baumgartner: »Welches Datum haben wir heute?«) Warum bringen ihn seine Kinder zur Verzweiflung, bringt ihn seine Frau zur Verzweiflung? Und warum bringt er Frau und Kinder zur Verzweiflung?«
Baumgartner: »Haben Sie Lessing gelesen?«
Koch: »Wo ist da die Logik?«26
Der Dialog Sie hören von mir kein Wort mehr! wurde in dieser Fassung dem Haupttext zugeordnet:
Koch: »Herrschaften wie Sie und Ihr Gehilfe Nikita haben mit der Zukunft nichts zu tun, aber Sie können versichert sein, mein Herr, bessere Zeiten werden anbrechen! Warten Sie, wenn in ferner Zukunft Gefängnisse und Irrenhäuser ihre Existenz beenden, wird es weder vergitterte Fenster noch Kittel geben. Natürlich wird so eine Zeit früher oder später anbrechen. Meinetwegen drücke ich mich banal aus, lachen Sie nur, aber es wird einmal ein neues Morgenrot des Lebens erstrahlen, die Gerechtigkeit wird triumphieren und auf unserer Straße wird ein Fest sein! Ich werde es nicht mehr erleben, ich werde verreckt sein, aber dafür erleben es irgendjemandes Urenkel. Ich grüße sie aus ganzer Seele und freue, freue mich für sie! Vorwärts! Gott mit euch, Freunde! Von hier aus, hinter diesen Gittern segne ich euch! Es lebe die Gerechtigkeit! Ich freue mich!«
Finzi: »Ich sehe keinen besonderen Grund, sich zu freuen. Gefängnisse und Irrenhäuser wird es nicht mehr geben, und die Gerechtigkeit, wie Sie sich auszudrücken belieben, wird triumphieren, aber es wird sich doch das Wesen der Dinge nicht ändern, die Naturgesetze bleiben bestehen. Die Menschen werden erkranken, altern und sterben wie bisher. Welch großartiges Morgenrot Ihr Leben auch erhellen mag, trotzdem wird man am Ende Ihren Sarg zunageln und in die Grube werfen.«
Koch: »Und die Unsterblichkeit?«
Finzi: »Ach, hören Sie auf!«
Koch: »Sie glauben nicht, nun, aber ich glaube. Bei Dostojewski oder bei Voltaire sagte jemand, dass, wenn es keinen Gott gäbe, die Menschen ihn erfinden würden. Und ich glaube zutiefst, dass, wenn es die Unsterblichkeit nicht gibt, sie früher oder später der große menschliche Geist erfinden wird.«
Finzi: »Es ist schön, dass Sie glauben. Mit so einem Glauben kann man in Freuden leben, selbst wenn man in eine Mauer eingemauert ist. Sie sind ein denkender und in das Wesen eindringender Mensch. Sie können in jeder Umgebung die Ruhe in sich selbst finden. Freies und tiefes Denken, das nach Erkenntnis des Lebens strebt, und völlige Verachtung der dummen Eitelkeit der Welt – das sind die zwei höchsten Güter, die der Mensch je gekannt hat. Und über sie können Sie verfügen, auch wenn Sie hinter drei Gittern säßen. Diogenes lebte in einer Tonne und war doch glücklicher als alle Herrscher dieser Erde.«
Koch: »Ihr Diogenes war ein Holzkopf. Was erzählen Sie mir von Diogenes und von was für einer Erkenntnis? Gehen Sie, predigen Sie diese Philosophie in Griechenland, wo es warm ist und nach Pomeranzen duftet, hier passt sie nicht zum Klima. Dort kann man in seiner Tonne liegen und Apfelsinen und Oliven essen. Hätte er in Russland leben müssen, hätte er nicht erst im Dezember, sondern schon im Mai nach einem Zimmer verlangt. Gekrümmt hätte er sich vor Kälte. Diogenes … Unsinn! Ich liebe das Leben, liebe es leidenschaftlich! Ich leide an Verfolgungswahn, einer ständigen qualvollen Angst, aber es gibt Augenblicke, da erfasst mich ein Lebenshunger, und ich fürchte, den Verstand zu verlieren. Ich will schrecklich gern leben, schrecklich gern! Wenn ich träume, besuchen mich Erscheinungen. Zu mir kommen Menschen, ich höre Stimmen, Musik, und mir ist, als ginge ich im Wald spazieren, am Meeresufer, und es verlangt mich schrecklich nach lautem Treiben, nach Sorgen. Sagen Sie mir, was gibt es draußen Neues? Was?«
Finzi: »Wollen Sie etwas aus der Stadt wissen, oder allgemein?«
Koch: »Nun, erzählen Sie mir zuerst von der Stadt und dann allgemein.«
Finzi: »Ja nun? In der Stadt ist es quälend langweilig. Niemand, dem man ein Wort sagen, niemand, dem man zuhören wollte. Neue Gesichter – keine. Allem Anschein nach zu urteilen, gibt es in unseren Hauptstädten keinen geistigen Stillstand, es gibt Bewegung, also müssen dort auch echte Menschen leben, aber aus irgendeinem Grunde schickt man uns von dort jedes Mal Leute, die man lieber gar nicht gesehen hätte. Eine unglückselige Stadt!«
Finzi (nachdem Wolfram Koch ihm den Rücken zugewendet hat): »Was haben Sie?«
Koch: »Sie werden kein Wort mehr von mir hören! Lassen Sie mich!«
Koch: »Ich sage Ihnen: Lassen Sie mich! Was zum Teufel soll das?«
Finzi: »Was für ein angenehmer junger Mann! Die ganze Zeit, seit ich hier lebe, ist das, wie mir scheint, der erste, mit dem man reden kann. Er hat ein Urteil und interessiert sich genau für das Nötige. Könnten Sie hier vielleicht ein wenig aufräumen, Nikita. Ein schrecklich strenger Geruch!«
Bendokat: »Zu Befehl, Euer Hochwohlgeboren!«27
25.1.2010, 14. Probentag, Leseprobe, Diskussion, Ballhaus Rixdorf
Gotscheff (liest einen Textauszug von Kasimir Malewitsch vor): »Der menschliche Schädel stellt die Unendlichkeit für die Bewegung der Vorstellung dar. Er gleicht der Unendlichkeit des Weltalls, kennt wie sie keine Decke, keinen Boden und bietet Raum für einen Projektionsapparat, der leuchtende Punkte als Sterne im Raum erscheinen lässt. Wie groß das Vorgestellte sein mag, es findet Platz im Schädel, genau wie im Weltall, obwohl der Raum des Schädels von einer knöchernen Wand umschlossen ist. Was bedeutet dann aber Raum, Größe, Gewicht, wenn alles zusammen in einem kleinen Behälter Platz findet?«28
Koch: »Machen wir etwa eine Sprachoper?«
Finzi: »Für mich ist etwas ›Greifbares‹ wichtig. Dadurch entsteht für mich die persönliche Situation der Figur.«
Koch: »Ja, ich meine auch, dass man Biographien bauen soll. Zum Beispiel, jetzt sind diese zwei Leute da. Das sind für ihn [für Kochs Figur Ivan Dmitrič] zwei verkleidete Polizisten. So kommt er zum Verfolgungswahn.«
1.2.2010, 20. Probentag, Bühnenprobe, Ballhaus Rixdorf
Die Bühnenprobe beginnt. Jeder nimmt seine Ausgangsposition ein. Der Doktor ist vorne, die Patienten bleiben hinter ihm stehen. Der »Teppich«29 beginnt. Alle Insassen sprechen ihre Texte vor sich hin.
Gotscheff (für Margit Bendokat, die heute abwesend ist): »RUUHE! RUHE! (an Wolfram Koch) Wolfram, jetzt vielleicht ›Warum werde ich hier festgehalten?‹ Aber frag ihn nicht, sag nur so!«
Almut Zilcher spricht ihren Text.
Gotscheff: »Almut, bleib unter deiner Glocke! Du gehst nur Richtung Publikum, aber die Glocke bleibt über dir.«
Zilcher: »Aber aus diesen Fetzen soll irgendwie das Ganze entstehen, weißt du?«
Gotscheff: »Jaa, aber das ist gerade die Schwierigkeit, und das versuchen wir schon seit zwei Wochen! Das ist die Schönheit. (an Wolfram Koch, der in seiner Ausgangsposition sitzt, den Rücken dem Saal zugewandt)Wolfram, bei dir muss man mehr Fleisch sehen.«
Koch zieht den Kittel aus und bleibt in einem ärmellosen Unterhemd stehen.30
5.2.2010, 24. Probentag, Bühnenprobe, DT-Probebühne
Gotscheff: »Wer was in der konkreten Szene macht, wird spontan entschieden. Ich muss sehen, wer wem was zuschickt. (Überlegungspause) Ich muss sehen. Erst dann kann ich sagen.«
Baumgartner: »In der zweiten Hälfte müssen die Texte eindeutiger sein, mehr Qualität haben. In der ersten Hälfte schwatzt einer von einem Orden, die andere – von der unerfüllten Liebe, also alle sprechen von den Unerfüllbarkeiten.«
Gotscheff (unterbricht Harald Baumgartner): »In der zweiten [Hälfte] muss es schon kein Spiel sein!«
Baumgartner: »Ja!«
Döhler: »Der intellektuelle Punkt ist eigentlich Wolfram, der unsere Schicksale aufflackert.«31
9.2.2010, 28. Probentag, DT-Probebühne
Gotscheff (an Wolfram Koch): »Bei ›Seine Frau bringt ihn zur Verzweiflung, seine Kinder bringen ihn zur Verzweiflung‹ hast du ja so eine gute Sequenz entwickelt. Ein Perpetuum mobile.«32
10.2.2010, 29. Probentag, DT-Hauptbühne
Gotscheff (an Wolfram Koch, kurz nachdem Koch den Text »Mann, tut das weh!« zu sprechen begonnen hat): »Wolfram, nimm dir Zeit!«
Koch fängt erneut an. Er vergisst oft den Text.33
19.2.2010, 37. Probentag, DT-Hauptbühne
Wolfram Koch sitzt in seiner Ausgangsposition (auf der Hinterbühne, den Rücken dem Saal zugewandt), dreht von Zeit zu Zeit den Kopf und schaut auf den Arzt, während Samuel Finzi den Monolog Alltag eines Arztesvorträgt. Nach den letzten Worten des Arztes, ohne dass eine Pause entsteht, setzt Koch sofort »Mann, tut das weh!« ein. Er spricht den Text in seiner Position, ohne sich dem Saal zuzuwenden. Der Arzt und die Patienten schauen auf den Sprechenden. Der Arzt geht langsam zu ihm. Bei den Worten »Unter jedem Stuhl, in jeder Ritze« unterbricht ihn Gotscheff und steigt auf die Bühne. Dort wendet er sich an alle Schauspieler auf einmal, aber so leise, dass man seinen Wunsch nur nach Almut Zilchers Frage verstehen kann. Ihre Frage war: »Also nicht ganz erstarren?« Katrin Wichmann zeigt er, wie sie ihren Schleier heben soll; Almut Zilcher sagt »Tag und Nacht Kopfschmerzen«; Harald Baumgartner, Andreas Döhler und Wolfram Koch gibt der Regisseur ebenfalls Anweisungen (nicht hörbar). Dann sagt er plötzlich in einer hörbaren Lautstärke: »Es findet nicht statt, was ich mir versprochen habe, nämlich, dass die Scheinwerfer sich drehen.« Nach einer Weile spricht Finzi seinen Text noch einmal, die gerade erteilten Regieanweisungen berücksichtigend. Während Finzi spricht, steht Wolfram Koch von seiner Ausgangsposition aus auf, wendet sich dem Arzt und dem Saal zu, starrt den sprechenden Arzt an. Er wartet, bis der Arzt seinen Text beendet hat, und als das passiert, setzt er sofort (als wäre es die Reaktion auf den gerade gesprochenen Text) mit »Mann, tut das weh!« ein. Der Arzt dreht sich zu seinem Patienten um und geht langsam zu ihm, ihn musternd. Katrin Wichmann schaut den Sprechenden auch an, indem sie ihren Kopf zu ihm dreht (bleibt aber weiter in ihrer Ausgangsposition sitzen). Es ist offensichtlich, dass Wolfram Koch den Text an den Arzt adressiert, aber bei dem Satz »Wegen meines reizbaren Charakters« unterbricht ihn Gotscheff und schreit: »Bleib bei dir, Wolfram! Nicht zu Sancho!« Weiter spricht Koch den Text in den Saal. Während er spricht, geht der Arzt um ihm rum und mustert seinen aufgeregten Patienten. Mit dem letzten Satz (»Wo ist da die Logik?«) bemerkt der Sprechende den Arzt, der schon neben ihm steht, und springt von ihm weg. Dabei macht er eine Bewegung mit dem Zeigefinger, als hätte er ihn beim Spionieren ertappt. Aus dieser Bewegung beginnt sein Text: »Aushorchen und ausspionieren? Hm? Weiß Bescheid! Können Sie woanders! Sie haben hier nichts verloren! Weiß seit gestern schon, warum Sie gekommen sind.« Dabei entfernt sich der Patient vom Arzt und positioniert sich so, als wäre der Arzt gefährlich, ansteckend o. ä. Wolfram Koch läuft um die in ihrer Ausgangsposition sitzende Katrin Wichmann herum und auf die Vorderbühne. Der Arzt folgt ihm mit der Frage: »Sie nehmen also an, ich sei ein Spion?«, worauf der Patient auf eine kühne, fast entlarvende Weise antwortet: »Jaa! Das nehme ich an. Der gekommen ist, mich auszuhorchen. Das tun Sie hier gar nicht!« Während der Arzt spricht, geht der Patient musternd um ihn herum, die Hände in die Hosentaschen steckend, meidet aber jegliche Annäherung an den »Spion«. Während der Arzt sagt: »Aber hätten Sie es vor Gericht oder im Gefängnis nicht schlechter als hier?«, wendet sich der Patient dem Saal zu, schaut in den Saal, hält die Hand vor den Mund und wird nachdenklich. Bei den Worten des Arztes »Wovor haben Sie Angst?« wendet der Kranke dem Arzt verachtend den Rücken zu und sagt: »Sie werden von mir kein Wort mehr hören. Lassen Sie mich endlich in Ruhe.« Dann entsteht eine Pause. Finzi berührt Koch an der linken Schulter leicht, worauf sich Letzterer unerwartet rasch umdreht und auf den Arzt mit der Hand fuchtelnd zeigt. Der Arzt erschrickt und schreit vor Erstaunen kurz auf. Danach läuft Koch langsam auf die Hinterbühne und schaut sich sicherheitshalber immerzu um, ob der Spion ihm folgt, ihm zuschaut o. ä. Auf die Frage des Arztes »Was haben Sie denn?« reagiert er mit verachtendem Schweigen. Gotscheff unterbricht die Szene und ruft alle zu sich. Er erklärt den Schauspielern, dass sie sich Wolfram Koch annähern sollen, während er seinen Text »Mann, tut das weh!« sprechen wird.
Bei dem nächsten Probenversuch wendet Wolfram Koch sein Gesicht dem Saal zu und setzt mit seinem Text unmittelbar nach Finzis letztem Wort ein, sodass keinerlei Pause zwischen ihren Texten entsteht. Während Koch spricht, drehen alle Insassen und der Arzt ihre Körper langsam zu ihm und bewegen sich auf ihn zu. Sie hören dem Sprechenden mit Interesse zu, mustern und umkreisen ihn in einem langsamen Tempo. Sie bleiben hinter Koch stehen. Finzi bleibt vor ihm links stehen. Koch richtet seinen Text in den Saal. Wenn er »seine Frau bringt ihn zur Verzweiflung, seine Kinder bringen ihn zur Verzweiflung, sein Haus bringt ihn zur Verzweiflung« spricht, schreit ihm Gotscheff aus dem Saal zu: »Nimm dir Zeit!« Koch verlangsamt sein Sprechtempo. Nach dem letzten Satz »Wo ist da die Logik?«, den Koch immer in den Saal richtet, macht er keine Pause mehr, streckt seinen rechten Arm mit dem Zeigefinger aus und sagt zu Finzi, der links neben ihm steht: »Aushorchen und ausspionieren können Sie woanders.« Der Dialog zwischen Koch und Finzi findet zunächst auf der Hinterbühne statt. Nach zwei Sätzen geht Koch schweigsam auf die Vorderbühne, Finzi folgt ihm, die Insassen bleiben alle zusammen auf der Hinterbühne stehen. Gotscheff spricht die hinten gebliebenen Schauspieler aus dem Saal an: »Öffnet den Raum, öffnet den Raum! Kommt nach vorne! Wollt ihr Wolfram ein bisschen folgen?« Dann sagt der Regisseur: »Noch einmal, Wolfram.« Die Szene Aushorchen und ausspionieren können Sie woanders wird wiederholt. Gotscheff sagt, dass Finzi sich auf die andere Seite der Bühne stellen soll. Finzi geht nach rechts. Koch schreitet schweigsam nach vorne auf die Vorderbühne. Finzi folgt ihm in kleineren Schritten und spricht seinen Text schon beim Gehen. Alle anderen Patienten sehen Koch zu und bewegen sich langsam in seine Richtung, bleiben in drei Metern Entfernung stehen, machen einen Halbkreis, bleiben so stehen und hören dem Gespräch der beiden zu. Nach Finzis Frage »Wovor haben Sie Angst?« dreht ihm Koch seinen Rücken zu und kreuzt die Hände vor der Brust: »Sie werden kein Wort mehr von mir hören.« Darauf Gotscheff: »Wolfram, wunderbar, nur die Hände offen lassen. Einfach umdrehen.« Sofort wiederholen beide Schauspieler dieselbe Episode. Finzi: »Wovor haben Sie Angst?« Koch will sich umdrehen, aber Gotscheff sagt: »Schau ihn erstmal an.« Beide wiederholen die Episode noch einmal, Koch schaut Finzi an, dann dreht er sich um, sodass seine linke Seite dem Saal und sein Rücken dem Arzt zugewandt sind. In dieser Position sagt er: »Sie werden kein Wort mehr von mir hören.« Darauf Gotscheff: »Wolfram, dreh dich völlig um.« Die Szene wird mit den Neuerungen wiederholt. Der Doktor fasst den Patienten an der Schulter an, der Patient dreht sich schroff um und bleibt in einer Abwehrhaltung stehen, der Doktor erschrickt, schreit auf und macht einen Schritt zurück. Nach einer kurzen Pause fragt der Doktor Ivan Dmitrič: »Welchen Monat haben wir?«, worauf Ivan Dmitrič sofort »März« antwortet. Dann läuft der Patient zur hinteren Wand auf die Hinterbühne, den Arzt nicht aus dem Blick lassend. Nach einer dreiminütigen Besprechung mit dem Regisseur wird die Probe fortgesetzt, und zwar vom Ende der Szene zwischen Koch und Finzi an, in welcher der Patient sich umdreht und dem Arzt den Rücken zuwendet. Die Episode wird genauso wie beim letzten Mal wiederholt.34
23.2.2010, 40. Probentag, Diskussion im DT-Konferenzzimmer, dann Bühnenprobe auf der DT- Hauptbühne
Konferenzzimmer:
Koch (an Dimiter Gotscheff über die Szene »Warum werde ich hier festgehalten?«): »Ich stimme dir völlig zu: Man muss es souverän spielen, ihn sozusagen in die Zwänge bringen. So Mann gegen Mann.«
DT-Hauptbühne:
(während der Szene Warum werde ich hier festgehalten?)
Gotscheff (an Wolfram Koch): »Nicht wegschauen! (nach einer Weile zu den anderen Schauspielern) Keiner wiederholt Wolframs Worte! Nur er. (an Wolfram Koch) Wolfram, kannst du es Sancho sagen?«35
Die Schauspieler tragen heute die an ihren Ohren befestigten Mikrophone. Vor dem Beginn der Szene Mann, tut das weh! sucht Gotscheff nach einer besseren Position für die Schauspieler auf der Bühne. Er selbst sitzt im Saal und sagt mit lauter Stimme, wer an welche Stelle gehen soll. Laut Gotscheffs neuer Verteilung sollen Zilcher, Wichmann und Baumgartner auf der linken Seite, Koch hinten mittig, Döhler hinter Koch rechts und Finzi drei Meter vor Koch, ihm zugewandt, stehen. Koch beginnt seinen Text nicht von Anfang an zu sprechen: »[…] Die Mehrheit jeder Intelligenz, wie ich sie kenne, tut nichts, liest nichts […]«. Gotscheff unterbricht ihn: »Entschuldigung; Wolfram. Mach den Anfang, damit wir diese Änderung vom Text sehen.« Koch beginnt jetzt den Text von Anfang an. Finzi geht ein bisschen nach rechts, um Koch nicht im Weg zu stehen, weil er seinen Text in den Saal spricht. Finzi steht sogar etwas weiter weg von Koch, sodass, als Koch zu ihm »Aushorchen und ausspionieren« sagt, Gotscheff vom Saal aus ruft, Finzi solle sich näher zu Koch stellen. Finzi: »Das wollte ich ja.« Dann sagt er (an Gotscheff): »Ich mache das am Ende [von Kochs Text].« Gotscheff: »Ok, versuch’s.« So wird es dann auch gemacht. Der Anfang des Dialogs findet hinten mittig statt. Nach »Ob Arzt oder Spion, der gekommen ist, um mich auszuhorchen. Das tut sich gleich« schreitet Koch sicher nach vorne. Finzi, verwundert, eine Brille mit runden Gläsern auf der Nase, folgt ihm in kleinen Schritten und sagt: »Das ist eine seltsame Phantasie.« Der Dialog wird auf der Vorderbühne fortgesetzt. Nach Finzis unschuldiger Frage »Wovor haben Sie Angst?« schaut ihn Koch voller Verachtung an, dreht sich von ihm weg und sagt: »Sie werden von mir kein Wort mehr hören.« Finzi darauf: »Warum? Was haben Sie?« Koch: »Lassen Sie mich. Zum Teufel!« Finzi fasst Koch an der Schulter an, Koch dreht sich schroff um und schwenkt den Arm in Richtung des Arztes, als würde er sich gegen ihn wehren. Vor Schreck schreit der Arzt auf. Nach einer kurzen Weile fragt er: »Welchen Monat haben wir?« Darauf der Patient, den Doktor weiter unverwandten Blicks ansehend: »März.« Von dieser Position aus, den Arzt weiter anschauend, flieht der Insasse zurück auf die Hinterbühne. Danach unterbricht Gotscheff die Probe: »Stopp. (kurze Pause) Es ist zu laut.« [Gotscheff bezog sich offenbar auf die Tatsache, dass die Schauspieler mit Mikrophonen ausgestattet waren.] Techniker: »Ja, das wissen wir.« Gotscheff: »Ist da nichts mehr zu ändern?« Koch: »Wahrscheinlich kommt es von mir? Unbewusst, wenn man weit weg ist, dann spricht man so, aber jetzt ist es einfach drin.« Gotscheff ruft alle Schauspieler nach vorne: »Für jeden von euch gilt, dass die Bewegung nach innen geht und nicht nach außen.« [Gemeint war wohl die Energiebewegung, während der jeder seinen Text sprach.] Die Szene wurde noch einmal, und zwar vom Text des Arztes an, wiederholt. Wolfram Koch trug kein Mikrophon mehr. »Mann, tut das weh!«, sprach er dieses Mal leise und ohne die übliche Überanstrengung aus, so als wäre er müde. Kurz danach unterbrach ihn Gotscheff: »Nur sollst du ›Mann, tut das weh!‹ absetzen!« Dabei machte er vor, wie dieser Satz gesprochen werden sollte. Er dehnte das erste Wort aus und sprach es in einer geringen Lautstärke aus. Koch fing den Text von vorn an und berücksichtigte diese Regieanweisung. Ab jetzt sprach er seinen Text von der Mitte der Hinterbühne. Bei »Warum bringt er es im Leben zu nichts Höherem? Warum?« rief Gotscheff aus dem Saal: »Schön, gut!« Der Dialog zwischen dem Arzt und dem Patienten verlief wie oben beschrieben. Eine kleine Änderung gab es erst gegen Ende des Dialogs. Nach Finzis »Wovor haben Sie Angst?« schaute ihn Koch, wie schon bei früheren Versuchen, verächtlich an und antwortete dem Doktor – nunmehr ohne sich zunächst umzudrehen: »Sie werden von mir kein Wort mehr hören.« Dann erst drehte er sich um. Der Arzt legte ihm langsam die Hand auf die Schulter: Der Patient reagierte nicht. Darauf Gotscheff leise aus dem Saal: »Noch einmal.« Finzi berührte noch einmal Kochs Schulter. Koch drehte sich schroff um und schwenkte den Arm drohend in Richtung Finzi. Darauf sagte Gotscheff »Wolfram, einen Moment« und stieg auf die Bühne. Dort diskutierte er mit den Darstellern über die Art und Weise, wie sich Koch bei der Berührung des Arztes umdrehen sollte. Zuerst probten Gotscheff und Finzi. Finzi fasste ihn an der Schulter an, Gotscheff drehte sich langsam um, hob den Arm, als wollte er den Arm in Richtung Finzi schwenken, und zog dabei eine drohende Grimasse. Dann drehte sich Gotscheff zu Koch und zuckte fragend die Achseln, als wäre er selber nicht sicher, ob das, was er soeben vorgeschlagen hatte, stimmt. Dann schlug Koch wieder diejenige Variante vor, in der er den Doktor mit seiner Bewegung eher schroff als langsam erschreckt. Gotscheff, Finzi und Koch diskutierten leise auf der Bühne. Dann probten sie zu Dritt auf der Vorderbühne das Ende des Dialogs zwischen dem Arzt und dem Insassen. Auf Finzis Frage »Welchen Monat haben wir?« machte Koch zunächst drei Schritte nach hinten, als würde er vor ihm davonlaufen, und von diesem Abstand aus sagte er mit lauter Stimme: »März.« Dann wiederholte er es noch einmal: »März.« Nach einer weiteren kurzen Besprechung wurde die Probe vom Ende des Dialogs an fortgesetzt. Ivan Dmitrič drehte sich weg vom Arzt, wandte dem Saal den Rücken zu und sagte: »Lassen Sie mich. Zum Teufel!« Nach der Berührung des Arztes drehte er sich sofort sehr schroff und drohend um, sogleich stellte der erschrockene Arzt die Frage: »Welchen Monat haben wir?« Ivan Dmitrič schaute sich misstrauisch um, lief nach hinten, ohne etwas zu antworten. Dabei flüsterte Gotscheff aus dem Saal: »März.« Katrin Wichmann und Almut Zilcher flüsterten Ivan Dmitrič auch »März« zu. Von der Hinterbühne aus schrie Koch überlaut: »MÄRZ!«36
Bis zur Premiere, die drei Tage später stattfand, wurde an dieser Szene fast nichts mehr geändert. Nur ganz am Ende, nachdem Wolfram Koch von allen »März« zugeflüstert wurde, schrie er »Mann, tut das weh!« statt »März«.37
Da es vor den Bühnenproben (am 1.2.2010) nur eine Leseprobe (am 25.1.2010) gegeben hatte, weswegen die Schauspieler ihre Positionen im Raum und die Beziehungen zwischen ihren Figuren nur noch imaginär annehmen bzw. intuitiv aufbauen konnten, fingen die Darsteller bereits am ersten Bühnenprobentag an, die Figurenbeziehungen selbst in der Mono-Szene von Wolfram Koch »Mann, tut das weh!« herzustellen, in der sich die Rollentexte (in diesem Fall der sogenannte Teppich) nicht aufeinander bezogen, sondern jeder Rollentext selbstreferenziell war. (Vgl. am 1.2.2010 Gotscheff an Koch: »Aber frag ihn nicht, sag nur so!« oder Gotscheff an Zilcher: »Almut, bleib unter deiner ›Glocke‹! Du gehst nur Richtung Publikum, aber die ›Glocke‹ bleibt über dir.«) Dieses unsichtbare Fadenziehen von einer Figur zu der anderen, dieses kollektive innere Erlangen, die Figuren untereinander wenigstens mittels des Ansprechens durch (eigentlich inkohärente) Rollentexte zu verbinden, ist durch eine bereits an den Vortagen erzielte hohe kollektive Efferveszenz zu erklären. Auch der hohe Pegel an emotionaler Energie der Schauspieler wird durch die häufiger auftretenden Impulse verraten, ihre Rollentexte an die Kollegen zu adressieren. (Vgl. am 19.2.2010 vor allem Wolfram Koch. Beim Vortragen seines Monologs »Mann, tut das weh!« wird Koch von Gotscheff unterbrochen: »Bleib bei dir, Wolfram! Nicht zu Sancho!«) Selbst wenn (oder gerade weil) es in der Szene »Mann, tut das weh!« um die soziale Emotion der Verachtung ging, blieben die Teammitglieder dermaßen solidarisch miteinander, dass sie sogar am Probentag (23.2.2010), an dem diese Szene zum letzten Mal separat von den anderen geprobt wurde, einen starken Energieaustausch – der hier laut dem Vorhaben des Regisseurs überflüssig war – nur noch nach dem Eingriff des Regisseurs unter Kontrolle bringen konnten. (Vgl. am 23.2.2010 Gotscheff an alle: »Für jeden von euch gilt, dass die Bewegung nach innen geht und nicht nach außen.«) Die Herausforderung bestand für die Schauspieler gerade darin, die Inkohärenz, simultane Entfremdung und Abkapselung ihrer Figuren zu zeigen, während die Beteiligten selber im Gegenteil kohärent und miteinander höchst solidarisch waren bzw. sprudelnde emotionale Energie ausstrahlten. Vor diesem Hintergrund fiel ihnen der anknüpfende Dialog zwischen Koch und Finzi »Sie hören von mir kein Wort mehr!« definitiv leichter, weil sie ihre Energien nicht mehr zurückhalten mussten, sondern bereits aneinander richten konnten. Am 19. und 23.2.2010, als jener Dialog erst- und letztmalig geprobt wurde, hat der Regisseur mit den Schauspielern über die Szene einige Male in einer unhörbaren Lautstärke diskret im Halbkreis auf der Bühne diskutiert, was von einer Bereitschaft des Künstlerteams zeugt, ihre vertrautesten Gespräche – sprich rituelle Symbole der Gruppe – vor fremden Ohren dann und wann zu schützen.
Dritte Probensituation
Insassen – Samuel Finzi, Szene: »Aufstand« (»Der Doktor ist gekommen!«), (Verachtung)
12.1.2010, zweite Textfassung; 18.1.2010, sechste Textfassung
Weder wurde über diese Szene bis zum 3.2.2010 öffentlich diskutiert, noch wurde sie bis dahin geprobt.
3.2.2010, 22. Probentag, Bühnenprobe, Ballhaus Rixdorf
Siehe die Beschreibung des Szenenverlaufs und der Interaktionen der Künstler in der Tabelle unter »Soziale Emotion Verachtung«, Kapitel 6, Spalte 3 »Performative Handlungen des Spielers« und Spalte 4 »Realisierung des Verhältnisses Regisseur – Schauspieler«.
Koch: »Der Doktor ist gekommen!«
(Alle flüsternd: »Der Doktor!«)
Döhler: »Meine Herren, gratuliere, der Doktor beehrt uns mit seiner Visite!«
Zilcher: »Der verdammte Widerling!«
Koch: »Schlagt ihn tot!«
Zilcher: »Nein, Totschlagen ist zu wenig!«
Döhler: »Ersäuft ihn in der Latrine!«
Bendokat: »RUHE! Ruhe!«
Finzi: »Weshalb?«
Koch: »Weshalb?«
Wichmann: »Dieb! Scharlatan! Henker!«
Finzi: »Beruhigen Sie sich. Ich versichere Ihnen, ich habe nie etwas gestohlen, im Übrigen übertreiben Sie vermutlich stark. Ich sehe, dass Sie mir böse sind. Beruhigen Sie sich bitte, wenn Sie können, und sagen Sie mir bitte: Weshalb sind Sie mir böse?«
Koch: »Weshalb! Und weshalb halten Sie mich hier fest?«
Finzi: »Deshalb, weil Sie krank sind.«
Koch: »Jawohl, ich bin krank. Aber Dutzende, Hunderte von Wahnsinnigen gehen in Freiheit spazieren, weil Sie in Ihrer Ignoranz unfähig sind, sie von den Gesunden zu unterscheiden. Sie, der Feldscher, der Verwalter und all Ihr Krankenhausgesindel stehen, in moralischer Beziehung, unermesslich viel niedriger als jeder von uns. Warum also sitzen wir und nicht Sie? Wo ist da die Logik?«
Bendokat: »Ruhe!«
Finzi: »Moral und Logik haben hier nichts zu suchen. Alles hängt von einem Zufall ab. Wer eingesperrt ist, der sitzt, und wer nicht eingesperrt ist, der geht spazieren, das ist alles. Das haben wir schon geklärt.«
(langes Schweigen)
Bendokat: »Euer Hochwohlgeboren, ist es nicht so weit für Ihr Bier?«
Finzi (schreit): »Nein, es ist noch nicht so weit. Es ist noch nicht die Zeit, ich warte noch. Ich warte.«
(langes Schweigen)
Finzi (sanft): »Nikita, jetzt! Könnten wir vielleicht jetzt ein Bier haben? Für alle!«38
Diskussion:
Gotscheff: »Ich suche eine Art Ritual.«39
(Siehe weitere Beschreibung des Szenenverlaufs und der Interaktionen der Künstler in der Tabelle unter »Soziale Emotion Verachtung«, Kapitel 6, Spalte 3 »Performative Handlungen des Spielers« und Spalte 4 »Realisierung des Verhältnisses Regisseur – Schauspieler«.)
8.2.2010, 26. Probentag, Bühnenprobe, DT-Probebühne
Siehe die Beschreibung des Szenenverlaufs und der Interaktionen der Künstler in der Tabelle unter »Soziale Emotion Verachtung«, Kapitel 6, Spalte 3 »Performative Handlungen des Spielers« und Spalte 4 »Realisierung des Verhältnisses Regisseur – Schauspieler«.
Präzisierung zum Satz von Dimiter Gotscheff:
Gotscheff (an alle): »›Die Glocke‹40 aus dem ersten Teil hat sich ein bisschen geöffnet: Da ist schon ein anderes Bewusstsein.«
11.2.2010, 30. Probentag, Bühnenprobe, DT-Hauptbühne
Siehe die Beschreibung des Szenenverlaufs und der Interaktionen der Künstler in der Tabelle unter »Soziale Emotion Verachtung«, Kapitel 6, Spalte 3 »Performative Handlungen des Spielers« und Spalte 4 »Realisierung des Verhältnisses Regisseur – Schauspieler«41.
23.2.2010, 40. Probentag, Bühnenprobe, DT-Hauptbühne
Siehe die Beschreibung des Szenenverlaufs in der Tabelle unter »Soziale Emotion Verachtung«, Kapitel 6, Spalte 3 »Performative Handlungen des Spielers«.
26.2.2010, Generalprobe, DT-Hauptbühne
Siehe die Beschreibung des Szenenverlaufs in der Tabelle unter »Soziale Emotion Verachtung«, Kapitel 6, Spalte 3 »Performative Handlungen des Spielers«.
Da die Gruppensolidarität und emotionale Energie jedes einzelnen Akteurs zum Zeitpunkt der ersten Bühnenprobe der Szene »Aufstand« (3.2.2010) durch intensives kollektives Bühnenproben anderer Szenen bereits sehr intensiv war, ist auch eine deutlich bemerkbare leiblich-affektive Rhythmisierung der involvierten Künstler völlig nachvollziehbar. Bereits bei diesem ersten Bühnenprobenversuch der Szene ist sowohl in der Szenenbeschreibung (Vgl. Tabelle am 3.2.2010, 3. Spalte: »Die Insassen springen auf, bilden eine Linie und schreien ihre Sätze boshaft und voller Verachtung aus.«) als auch während der Diskussion die Weise zu sehen (Vgl. Tabelle am 3.2.2010, 4. Spalte, Wolfram Koch: »Plötzlich ist da eine andere Realität: Zuerst war Musik und dann plötzlich ein Auftakt von allen – pa-pa-pa.« Er zeigt, wie alle auf einmal aufgestanden waren.), wie rhythmisch und simultan die Schauspieler in der Szene handeln, ohne sich vorher verabredet zu haben. Am nächsten Bühnenprobentag der Szene »Aufstand« (8.2.2010) haben sich die Künstler schon vor der Bühnenprobe darüber geeinigt, die Texte der Insassen »an der Peripherie« zu sprechen, wobei der Arzt vorne stehenbleiben sollte. Auf diese Weise sollte die Simultanität ihrer Handlungen etwas reduziert werden, weil diese Szene durch eine andere »Hermetik« geprägt wurde bzw. in dieser Szene »eine andere Autonomie« gezeigt werden sollte (Vgl. Tabelle am 8.2.2010, 4. Spalte).
Nach dem ersten und einzigen Probenversuch an jenem Tag sprechen Gotscheff, Koch, Wichmann, Zilcher und Finzi jeder aus seinem eigenem Szenengefühl und einigen sich während der Diskussion darüber, dass die Kranken in dieser Szene weniger Druck auf den Arzt ausüben sollen. Ein identisches Gefühl äußerten Samuel Finzi und Almut Zilcher, als sie die Aktivität der Kranken mit einem Perpetuum mobile verglichen (vgl. ebd.) und auf dessen zyklischen Ablauf hindeuteten (vgl. ebd.: »Bald flammen sie auf, bald gehen sie runter«). Dieses Konzept (des Perpetuum mobile) haben die Künstler am nächsten Probentag, dem 11.2.2010, bei drei ersten Probenversuchen fortgesetzt und ab dem vierten weiter verfeinert, wobei sie die Lautstärke, in der sie ihre Texte vortrugen, vom Flüstern bis zum überlauten Schreien entwickelten (vgl. ebd., 3. Spalte, vierter Probenversuch). Dieselbe Vorgehensweise (der langsame Übergang der Insassen vom Flüstern zum Schreien) wurde ab nun fest verankert und auch beim nächsten Probenversuch dieser Szene (am 23.2.2010) sowie bei der Generalprobe am 26.2.2010 wiederholt. Sie wurde ab dem unterbrochenen dritten Probenversuch am 11.2.2010 verfolgt, nachdem die Künstler zunächst einmal etwas auf der Vorderbühne vertraut besprochen (vgl. am 11.2.2010, 3. Spalte, dritter Probenversuch) und damit ihre rituellen Symbole – also Sätze, die die vertraute Diskussion ausmachten – geschützt haben. Das Ergebnis der vertrauten Diskussion (der Übergang der Insassen vom Flüstern zum Geschrei) konnte unmittelbar auf der Bühne erst beim vierten Probenversuch an demselben Tag (11.2.2010), wie oben erwähnt, gesehen werden.
Häufige Diskussionen und lebhafter Meinungsaustausch sind Ausprägungen einer großen kollektiven Efferveszenz der Künstlergruppe: Von einem Probentag zum anderen äußerten sich die involvierten Darsteller immer offener über ihre eigene Gefühlslage bezüglich der Abläufe zwischen ihren Figuren in der Szene.
Vierte Probensituation
Andreas Döhler, Szene: »Auch wenn Sie mir zweihunderttausend geben würden …«, »Abc« (Stolz)
13.1.2010, 4. Probentag, Leseprobe, Diskussion, Ballhaus Rixdorf
Szene »Abc«
Samuel Finzi liest als Erster vor, die anderen steigen danach ein:
(Samuel Finzi nennt Buchstaben, Andreas Döhler reagiert.)
»A – achtzehn – Mascha ist heute schlecht gelaunt. Sie hat mit achtzehn Jahren geheiratet.
B – Bedürfnis – Wenn du hören könntest, dann würde ich vielleicht gar nicht mit dir reden. Ich habe das Bedürfnis, mit jemandem zu reden, (aber meine Frau versteht mich nicht.)
C – Chekhov – Anton Pavlovich Chekhov, 29.1.1860–15.7.1904
Russian short-story writer, playwright and physician, considered to be one of the greatest short-story writers in the history of world literature. Chekhov practiced as a doctor throughout most of his literary career: ›Medicine is my lawful wife‹, he once said, ›and literature is my mistress.‹
D – Dienst – Morgen ist Freitag, da haben wir keinen Dienst, aber ich komme trotzdem. Ein bisschen was zu tun, zu Hause ist langweilig.
E – erscheint – Das, was uns gerade ernst, bedeutsam, so sehr wichtig erscheint, – mit der Zeit wird es vergessen werden oder wird unwichtig erscheinen.
F – Form – Die Hauptsache in jedem Leben ist seine Form. Was seine Form verliert, stirbt ab.
G – Garten – Der alte Garten am Haus Prozorov. Eine lange Tannenallee, an deren Ende der Fluss zu sehen ist. Jenseits des Flusses – Wald. Rechts – die Terrasse des Hauses; hier auf einem Tisch – Flaschen und Gläser; man sieht, dass soeben Champagner getrunken worden ist.
H – Haarausfall – Bei Haarausfall zwei Unzen Naphtalin auf eine halbe Flasche Spiritus auflösen und täglich anwenden.
I – ich – Heute Nacht bin ich um zehn Jahre gealtert.
J – Jugend – Trotzdem schade, dass die Jugend vorbei ist.
K – Kind – Wenn dieses Kind mir gehörte, würde ich es in der Pfanne braten und aufessen.
L – Liebe – Nikolai Lwowitsch, sprechen Sie nicht von der Liebe! Bitte!
M – Moskau –
- Alexander Ignatjewitsch ist aus Moskau.
- Aus Moskau? Sie sind aus Moskau?
- Ja, aus Moskau.
- Olga! Olga! Komm doch! Oberstleutnant Werschinin ist, wie sich herausstellt, aus Moskau.
- Sie sind aus Moskau?
- Ja, ich bin in Moskau zur Schule gegangen und habe in Moskau meinen Dienst angetreten.
- Alexander Ignatjewitsch, Sie sind aus Moskau? Ist das eine Überraschung!
- Schnell! Das Haus verkaufen, mit allem hier Schluss machen und nach Moskau ziehen!
- Ja! So schnell wie möglich nach Moskau!
- Stell dir vor, Alexander Ignatjewitsch ist aus Moskau!
- Ja. Ich bin aus Moskau!
N – Natascha – (Natascha geht mit einer Kerze über die Bühne, aus der Tür rechts zur Tür links, schweigend. Mascha setzt sich auf.)
O – Offiziere – Vielleicht ist es anderswo nicht so, aber in unserer Stadt sind die anständigsten, die vornehmsten und gebildetsten Leute die Offiziere.
P – Pause –
- Merkwürdig. Sie sind allein hier.
- Ja. (Pause) Leben Sie wohl.«42
(Siehe die Beschreibung des Szenenverlaufs und der Interaktionen der Künstler in der Tabelle unter »Soziale Emotion Stolz«, Kapitel 6, Spalte 3 »Performative Handlungen des Spielers« und Spalte 4 »Realisierung des Verhältnisses Regisseur – Schauspieler«.)
14.1.2010, 5. Probentag, Diskussion, Ballhaus Rixdorf
Szene »Abc« (Siehe Textfassung vom 13.1.2010 oben.)
Diskussion:
Gotscheff: »Es soll das Bild entstehen, wie sie im Raum vegetieren.«
Döhler: »Gibt es Figuren? Gibt es zwischenmenschliche Beziehungen? Ich begreife es nicht.«
Gotscheff: »Die Worte von Čechov sind ein Material, ein ›Raumgefängnis‹. Die Čechov’sche Materie, die unter uns seit zweihundert Jahren herumkreist. Damit zu leben und damit zu spielen. Seine Texte sind ein Alphabet für alle.«43
18.1.2010, 8. Probentag, Leseprobe, Diskussion, Ballhaus Rixdorf
Döhler (beim »Abc«-Lesen): »Ich weiß nicht, warum und wie ich das lese. Ich brauche Regieanweisungen.«
Gotscheff: »Alle Regieanweisungen sind im Text. Finde sie. Und stelle sie mit deinen eigenen Mitteln dar.«
Finzi (nachdem Andreas Döhler sich wieder dazu äußerte, dass er nicht begreift, wie und was er spielen soll): »Wichtig ist nicht der Inhalt, sondern Gestus. Versuch nicht daran zu denken, was du sagst, sondern einfach Gesten zu machen.«44
19.1.2010, 9. Probentag, Leseprobe, Diskussion, Ballhaus Rixdorf
Vor und während dem »Abc«-Vorlesen dachte sich Andreas Döhler selbst aus, was er zu jedem Buchstaben sagte.45
27.1.2010, 16. Probentag, Bühnenprobe, Diskussion, Ballhaus Rixdorf Die siebente Textfassung (vom 22.1.2010):
Döhler: »Auch wenn Sie mir zweihunderttausend geben würden, werde ich sie nicht nehmen. Ich bin ein freier Mensch. Und alles, was ihr, die Reichen wie die Bettler, so hoch und teuer schätzt, hat über mich nicht die geringste Gewalt, wie eine Flaumfeder, die durch die Luft schwebt. Ich komme ohne euch aus, ich kann an euch vorbeigehen, ich bin stark und stolz. Die Menschheit geht der höchsten Wahrheit entgegen, dem höchsten Glück, das nur auf Erden möglich ist, und ich bin in den ersten Reihen. Und ich werde ankommen. Ich werde ankommen, oder anderen den Weg zeigen, wie man hinkommt. Sei gegrüßt, du neues Leben!«
Danach folgt das »Abc«, in das alle mit einstimmen:
Finzi: »A!«
Döhler: »Auch wenn Sie mir zweihunderttausend geben würden, ich werde sie nicht nehmen.«
Döhler: »Bettler! Und alles, was ihr, die Reichen wie die Bettler, so hoch und teuer schätzt, hat über mich nicht die geringste Gewalt, wie eine Flaumfeder, die durch die Luft schwebt.«
Finzi: »C!«
Alle: »Čechov!«
Finzi: »D!«
Alle: »Dienst! Morgen ist Dienst!«
Döhler: »Die Menschheit geht der höchsten Wahrheit entgegen, dem höchsten Glück, das nur auf Erden möglich ist, und ich bin in den ersten Reihen.«
Finzi: »E!«
Döhler: »E – das nur auf Erden möglich ist!«
Alle: »Essen, trinken, schlafen.«
Finzi: »F!«
Döhler: »Flaumfeder! Wie eine Flaumfeder, die durch die Luft schwebt!«
Finzi: »G!«
Döhler: »Glück! Dem höchsten Glück, das nur auf Erden möglich ist!«
Finzi: »H!«
Alle: »Haarausfall! Bei Haarausfall zwei Unzen Naphtalin auf eine halbe Flasche Spiritus auflösen und täglich anwenden. Das müssen wir uns aufschreiben!«
Finzi: »I!«
Döhler: »Ich bin in den ersten Reihen!«
Finzi: »L!«
Alle: »Liebe! Bitte sprechen Sie nicht von der Liebe!«
Finzi: »M!«
Alle: »Moskau!
- Alexander Ignatjewitsch ist aus Moskau.
- Aus Moskau? Sie sind aus Moskau?
- Ja, ich bin aus Moskau.
- Olga! Olga! Komm doch! Oberstleutnant Werschinin ist, wie sich herausstellt, aus Moskau!
- Sie sind aus Moskau?
- Ja, ich bin aus Moskau.
- Ist das eine Überraschung!
- So schnell wie möglich nach Moskau!
- Stell dir vor, Alexander Ignatjewitsch ist aus Moskau!«
Finzi: »N!«
Finzi: »O!«
Alle: »Oi, oi, oi!«
Finzi: »P!«
Alle: »Pause!«46
Beim »Abc« ruft Finzi einen Buchstaben aus, Döhler wiederholt ihn, und erst nach Döhler wiederholen diesen Buchstaben die anderen »Patienten«. Döhler drängt sich auf die Vorderbühne und versucht als Erster, vor dem Publikum seine Position einzunehmen.
Gotscheff (schreit): »Andreas, NEIN!«
Nach zehn Minuten, nachdem die Szene beendet wurde, wird Andreas Döhler wieder von dem Regisseur konfrontiert.
Döhler: »Ja, ja, ich weiß, du kommandierst und ich gucke.« (Vorher sagte ihm Gotscheff einmal an jenem Tag: »He, was machst du? Ich kommandiere und du guckst.«)
Gotscheff (nach der Konfrontation Döhlers mit Gotscheff): »Ist es der Widerspruch von euch allen oder nur von Andreas?«
Koch (auf dem Boden sitzend, sich an die Wand lehnend und das Bein nervös schüttelnd): »Wir müssen im Raum gucken, wie es ist.«47
28.1.2010, 17. Probentag, Bühnenprobe, Ballhaus Rixdorf
Andreas Döhler kommt zum rechten Bühnenrand und spricht seinen Text von dort aus in den Saal. Während er spricht, verlassen alle anderen ihre Ausgangspositionen, sehen den Sprechenden an (manche mit Bewunderung, manche mit Interesse und Anteilnahme, dies aber, ohne den Blick von ihm abzuwenden) und bewegen sich langsam auf ihn zu. Während Döhler seinen Text bis zum Ende spricht, umkreisen ihn die anderen. Gegen Ende seines Textes stehen alle auf einer Linie mit Döhler und schauen schweigsam und träumerisch in den Saal bzw. in die Ferne. Dann applaudiert Samuel Finzi. Gotscheff bedankt sich bei allen Schauspielern für die knapp 35-minütige, kein einziges Mal unterbrochene Probe, während der alle Schauspieler ihre Texte sprechen konnten.48
Diskussion nach der Bühnenprobe49:
Gotscheff: »Was wir brauchen, ist ein bewegender Einklang. (an Döhler) Es raschelt etwas von einer Vision. (Frage an alle) Wieso stellt ihr doch die Frage so einfach nicht in den Raum wie Wolfram?«
Baumgartner: »Naja, weil ich irgendwie Angst vor diesem Text habe.«
Gotscheff: »Das Ereignis, Leute, ist der Mensch. Es sind ›Fetzen‹ von Biographien. Jeder spricht, guckt, ohne große Amplitude zu machen. Es ist mehr als ein Krankenhaus! Es ist ein Raum, in dem ›Fetzen‹ von Menschen, Texten, einzelnen Schicksalen herumkreisen.«
Zilcher: »Mein Text ist sehr zerfetzt, fragmentarisch. Er führt zum Verrücktwerden. Weiß nicht, wie man das zusammenführen kann.«
Gotscheff: »Ja, ich habe mir notiert, wie ihr aufeinander hört. Die Kommunikation zwischen euch mit Drang ist mir überflüssig! Durch minimale Darstellung kann man diesen Raum füllen. Es ist keine Kommentarebene. Die Beziehung zur eigenen Figur ist wichtig. Zum Beispiel die Geste, die regt50. Zum Beispiel wenn du, Katrin, deinen Text sprichst und auf deine Stelle zurückgehst.«
Finzi: »Wir versuchen jetzt die psychologischen Charaktere der Figuren anzudeuten.«
Zilcher: »Ich verstehe nicht, ob ich eine Figur spiele oder nicht.«
Koch: [Notiz fehlt, weil ich nicht verstehen konnte, was gesagt wurde.]
Gotscheff: »Wenn man unter den Scheinwerfer kommt, kann man dort länger bleiben. So ist auch der ›Teppich‹ [vgl. Kapitel 1.2, Anm. 42] länger, und das ist ein Ritual für mich. Der Text ist viel kräftiger als die Darstellung. Die ›schmale Begegnung‹ von Form und Text im Raum müssen wir finden. (Er schweigt und zieht an einer Zigarette. Plötzlich tobt er: Er schreit etwas vor sich hin, was nicht verständlich ist. Alle Anwesenden werden mucksmäuschenstill.) Ich möchte nur diese Beziehung zum Čechov-Raum herstellen! Wolfram zeigt seine Fresse erst, wenn der Arzt zu ihm kommt! (Die Bühnenbildnerin Katrin Brack sagt, dass Wolfram Koch zwanzig Minuten mit dem Rücken zum Publikum sitzt. Der Co-Regisseur Ivan Panteleev war im Begriff, etwas zu sagen, aber Gotscheff unterbricht ihn schroff. An Panteleev) Halt die Klappe! Wolfram wird mit dem Rücken zum Saal sitzen und das (überlaut) IST RICHTIG! Weniger Gestalt, mehr Text. (Pause) Ich habe doch auch meinen Traum: diesen Raum, in dem die ›Insekten‹, die Menschen da rascheln. Der Text ist ein Anachronismus und deswegen kostbar. Der Text ist auch ein ›Insekt‹.« (In diesem Moment gingen manche Schauspieler – Wichmann, Bendokat, Döhler – Richtung Garderobe, um sich umzuziehen. Kurz darauf verließen sie die Probe. Zwischen Andreas Döhler und dem Regisseur ist es an diesem Tag zu Konfrontationen gekommen.)
Die Entscheidung ist an diesem Probentag gefallen: »›Die Begegnung‹ von Schauspielern und Figuren muss kommen.«51
10.2.2010, Bühnenprobe, DT-Hauptbühne
Es gab wieder Differenzen zwischen Andreas Döhler und Dimiter Gotscheff. Gotscheff hat viel geschrien.
Döhler: »Ich verstehe nicht, wie ich spielen soll.«
Gotscheff: »Ihr habt doch genug Freiheit gehabt!« (Döhlergeht auf der Bühne auf und ab. Es entsteht eine Pause. Finzi erklärt Döhler auf der Bühne, was Gotscheff sehen will.)52
16.2.2010, 34. Probentag, Bühnenprobe, DT-Hauptbühne
Samuel Finzi und Wolfram Koch waren an diesem Tag abwesend. Andreas Döhler beginnt seinen Text in der Ausgangsposition zu sprechen. Während er ihn vorträgt, geht er zum Bühnenrand (ohne irgendwelche emotionalen Regungen zu zeigen) und bleibt dort stehen. Langsam ziehen auch die anderen Insassen zum Bühnenrand. Sie nähern sich ihm und schauen, über den Sprechenden hinwegsehend, in die Ferne. Sie bleiben auf einer Linie mit Döhler stehen und sehen in den Saal. Döhler beendet seinen Text. Gotscheff flüstert aus dem Saal: »Texte.« Die anderen Patienten fangen an, ihre Texte leise in den Saal zu sprechen. Gotscheff unterbricht die Szene, indem er etwas vor sich hin schreit. Die Schauspieler gehen nach hinten. In diesem Moment fragt ihn Margit Bendokat: »Und Andreas soll ich nicht stören?«
Gotscheff: »Nein. Aber wenn die anderen so langsam zu Andreas nach vorne kommen, Margit, da kannst du aufstehen und auf deinen …«
Bendokat: »Zum anderen Stuhl gehen?«
Gotscheff: »Nee, nee.«
Bendokat: »Hier rum?« (auf der Vorderbühne links vor dem Stuhl)
Gotscheff: »Ja!«
Andreas Döhler steht vorne und hört dem Gespräch zu.
Bendokat geht auf Döhler zu und sagt etwas zu ihm, das diejenigen, die in der ersten Reihe sitzen und ihnen zuhören, zum Lachen bringt.
Döhler (halb verwundert, halb spielerisch empört): »Margit!« (Seine folgenden Worte waren zu leise, um von mir bzw. der Kamera vernommen zu werden.)53
19.2.2010, 37. Probentag, Bühnenprobe, DT-Hauptbühne
Erster Probenversuch:
Andreas Döhler spricht seinen Text, während er sich Richtung Bühnenrand bewegt. Er geht einige Schritte, artikuliert den Text ruhig und ausgeglichen und sieht dabei in den Zuschauerraum. Die anderen Patienten schauen ihn zunächst an und gehen langsam zum Bühnenrand, wo Döhler bereits steht und von wo er seinen Text weiter ruhig und stolz vorträgt. Sie stehen auf einer Linie mit Döhler. Der Arzt bleibt währenddessen unbeweglich stehen und hört Döhler ebenfalls zu. Er steht mit dem Rücken zum Saal zwei Schritte vom Bühnenrand entfernt. Als alle in einer Linie stehen, geht der Arzt um sie herum und bleibt am Bühnenrand links von allen stehen. Er hört zuerst Andreas Döhler, dann den anderen (dem »Teppich«, vgl. Kapitel 1.2, Anm. 42) zu.
Zweiter Probenversuch:
Am Anfang der Szene macht Döhler schleichend Schritte (dabei hebt er die Beine übertrieben hoch); dabei schaut er ab und zu um sich, als machte er etwas Heimliches oder als würde er verfolgt. Er bewegt sich auf diese Weise zum Bühnenrand. Dabei sagt er kein Wort. Er reibt sich die Hände. Gotscheff unterbricht ihn kurz mit »Andreas!«, woraufhin dieser erschrickt und fragt: »Was?« Dimiter Gotscheff: »Du hattest am Anfang ein Lachen« (ahmt ihn nach). Döhler beginnt die Szene erneut mit demselben »schleichenden« Gang und mit einem neurotischen, krampfhaften Lachen. Als er an Katrin Wichmann und Almut Zilcher vorbeigeht, mustern sie ihn von Kopf bis Fuß: Wichmann mit einem breiten Lächeln, Zilcher macht eine Tanzbewegung hinter seinem Rücken. Erst als Döhler an den Bühnenrand gelangt, spricht er seinen Text in den Saal. Er redet deutlich, mit Pausen und einem triumphierenden Lächeln (was überzeugend wirkt und den Eindruck eines unabhängigen, stolzen Menschen erweckt), als wollte er, dass der Sinn seines Textes in jeden Zuhörer eindringt. Die anderen Insassen gehen langsam zu ihm und bleiben auf einer Linie mit Döhler auf der Vorderbühne stehen. Sie schauen ebenfalls mit einem stolzen, unabhängigen, erhabenen Gesichtsausdruck in den Saal. Gleich nach Döhlers Text sprechen sie im Chor ihre Sätze (den »Teppich«, vgl. Kapitel 1.2, Anm. 42).54
23.2.2010, 40. Probentag, Diskussion, DT-Konferenzzimmer
Gotscheff: »Andreas, da du ein anderes Verhältnis zum Arzt hast als die anderen, lässt du deinen Text ›in der Luft schweben‹.«
Bühnenprobe, DT-Hauptbühne:
Beim »Abc« steht Döhler alleine am Bühnenrand. Er wird intensiv beleuchtet. Er wirkt verwirrt, sogar aufgeregt und artikuliert krampfhaft seine eigenen Buchstaben, die nicht mit denen übereinstimmen, die Samuel Finzi nennt.
Gotscheff (nach einer Weile): »Das ist ein Widerstand gegen diese Maschinerie.«55
Den Text spricht Andreas Döhler bereits in seiner Ausgangsposition bzw. beim Gehen zum Bühnenrand. Sein Gang ist jetzt »normal«: Beim Gehen hebt er die Knie nicht mehr so hoch. Er spricht genauso deutlich, ruhig, ausgeglichen, stolz. Er macht nach wie vor kurze Pausen zwischen den Sätzen. Nach seinem Text beginnt der »Teppich«, der Chor der Insassen. Auch Döhler nimmt daran teil: Er spricht ein paar Phrasen aus seinem gerade gesprochenen Text. Triumphierend lächelnd, kreuzt er die Arme vor der Brust und schaut in den Saal. Der Arzt klatscht in die Hände und ruft zum »Abc« auf. (Die Szene »Abc« knüpft jetzt direkt an den »Teppich« an.) Alle Kranken rennen Hals über Kopf zur Bühnenmitte. Nur Döhler bleibt stolz auf der Stelle stehen. Während die anderen Kranken Sätze zu je einem Buchstaben herausschreien, spricht Döhler am Bühnenrand die Sätze aus seinem Text. Er bleibt die ganze Zeit alleine stehen. Die Szene »Abc« wird an diesem Tag noch vier Mal geprobt. Es wird an Details gefeilt (die Reihenfolge der Sprechenden, das Takt-Halten der Bewegungen usw.), aber im Großen und Ganzen bleibt sie so wie beschrieben: Döhler steht stolz am Bühnenrand, abgegrenzt von den anderen, während die anderen zur Mitte stürmen, und artikuliert seine eigenen Sätze zu jedem Buchstaben, den der Arzt nennt.56
Diese Szene wurde genauso auch zwei Tage später bei der Premiere gespielt.
Die Szene »Auch wenn Sie mir zweihunderttausend geben würden …« bzw. »Abc« ist die einzige Szene der Aufführung, die einerseits (bereits nach der dritten Leseprobe, ab dem 19.1.2010) aus Andreas Döhlers ursprünglichem Unverständnis von seiner Spielweise und andererseits aus einer Konfrontation zwischen dem Schauspieler und dem Regisseur Dimiter Gotscheff entstand. Dabei soll sofort unterstrichen werden, dass sowohl das »Unverständnis« als auch die »Konfrontation« keinesfalls vom Fehlen eines kohärenten Wohlgefühls (der kollektiven Efferveszenz) beim Proben dieser Szene zeugen. Im Gegenteil war die Gruppensolidarität unter den Schauspielern in den Momenten des »Unverständnisses« oder der Konfrontation Döhlers mit dem Regisseur so groß, dass die anderen Spieler (vor allem diejenigen, die mit dem Regisseur Gotscheff schon lange gearbeitet hatten und seinen Regiestil kannten) Döhler mehrmals zur Seite standen und ihm zur rechten Zeit die Hand reichten, um die Atmosphäre lockerer zu gestalten. (Vgl. Tabelle am 10.2.2010, Spalte 4, Finzi und Döhler; am 16.2.2010, Spalte 4 Bendokat und Döhler; am 19.2.2010 Spalte 4, Gotscheff und Döhler.) Solche »Einschübe« der Gruppensolidarität und gestiegener emotionaler Energie einzelner Mitglieder der sogenannten Gotscheff-Familie (siehe dazu Unterkapitel 4.1, S. 124) haben zur Aufrechterhaltung einer großen kollektiven Efferveszenz beim Proben dieser widerständigen Szene beigetragen. Besonders deutlich ist es ab der Probenphase auf der DT-Hauptbühne, ab dem 10.2.2010, zu sehen, als Samuel Finzi mit Andreas Döhler nach einer Probenunterbrechung persönlich auf dem Bühnenrand sprach.
Das ist die einzige Szene, in der die rituellen Symbole, also die in den Diskussionen verwendeten Sätze, oft ungeschützt (für die anwesende Öffentlichkeit hörbar) blieben: Zum einen nahmen sowohl der Schauspieler als auch der Regisseur kein Blatt vor den Mund, wenn es um das Verständnis des Bühnengeschehens ging. Zum anderen aber gab es Momente der Vertrautheit unter den Mitspielern, wenn es darum ging, ein entstandenes Un- oder Missverständnis zu entschärfen, wobei sich die Mitglieder der »Gotscheff-Familie« mit Andreas Döhler nach mancher Szenenunterbrechung am Bühnenrande leise unterhielten, sodass zwischen ihm und dem Regisseur keine weiteren Konfrontationen mehr folgten.
Was die leiblich-affektive Rhythmisierung anbetrifft, so war diese an den ersten drei Probentagen (am 13., 14. und 18.1.2010) unter allen Insassen (inklusive der Figur Andreas Döhlers) zu sehen, indem sie die Sätze zu jedem vom Arzt genannten Buchstaben im Chor vorlasen. Es blieb so, bis Andreas Döhler während der Leseprobe am 19.1.2010 begann, die bereits gelernten Sätze lauter, als die anderen es taten, herauszuschreien. Nochmals wurde diese Szene am 27.1.2010 bereits mit der Erweiterung des Rollentextes um »Auch wenn sie mir zweihunderttausend geben würden …« gespielt. Ausgerechnet in dieser Situation hat sich der Widerspruch zwischen der Figur Döhlers und der Krankenhausordnung angedeutet, was sich automatisch in der Abweichung von der vorgezeichneten leiblich-affektiven Rhythmisierung der Mitspieler ausdrückte. So stand zum 16.2.2010 bereits fest, dass Döhlers Widerstand »die anderen sogar kurz wach macht« (vgl. Gotscheff am 16.2.2010 Spalte 7). Und am Ende der Proben, am 23.2.2010, formulierte der Regisseur eindeutig, dass Döhler »ein ganz anderes Verhältnis zum Arzt hat als die anderen« (vgl. Gotscheff am 23.2.2010 Spalte 7), was seine abweichende leiblich-affektive Rhythmisierung von der der anderen Darsteller bekräftigte. Diese abweichende leiblich-affektive Rhythmisierung von Döhlers Figur prägte die gesamte Szene.
DAS BERLINER ENSEMBLE
Erste Probensituation
Blanche – Mitch, dritte Szene: »Bekanntschaft bei den Kowalskis«, Ende der fünften Szene: »Ausgehen in die Stadt«, sechste Szene: »Unterhaltung bei den Kowalskis zu Hause« (Liebe)
10.1.2011, 6. Probentag, allgemeine Diskussion, BE-Probebühne
Siehe die Beschreibung des Szenenverlaufs und der Interaktionen der Künstler in der Tabelle unter »Soziale Emotion Liebe«, Kapitel 6, Spalte 3 »Performative Handlungen des Spielers«, Spalte 4 »Realisierung des Verhältnisses Regisseur – Schauspieler« und Spalte 7 »Mit dem subjektiven Erleben verbundene Gedankeninhalte (Ergebnisse der Interaktionsprozesse und/oder Interviews).
17.1.2011, 9. Probentag, Bühnenprobe, BE-Probebühne
In Szene 3 (»Pokerabend«) lernen Blanche und Mitch einander kennen:
Steve: »Ach, lass doch den Mädchen ihre Musik!«
(Stanley kommt, geht zum Radio und schaltet es aus. Beim Anblick von Blanche im Lehnstuhl bleibt er plötzlich stehen. Sie erwidert seinen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. Dann geht er wieder ab.)
Mitch: »Ich muss mal aufs Klo.«
Steve: »Mitch ist jetzt fickerig, die Hosen voller Dollars. Zu Hause kommt alles ins Sparschwein.«
Blanche (sanft): »Hallo! Für kleine Jungs ist gerade besetzt.«
Mitch: »Wir trinken viel Bier.«
Blanche: »Bier kann ich nicht ausstehen.«
Mitch: »Aber das tut gut bei dieser Hitze.«
Blanche: »Ach, das glaube ich nicht; mir wird davon nur noch heißer. Haben Sie vielleicht Zigaretten?« (Sie hat sich den dunkelroten Satinmorgenrock angezogen.)
Mitch: »Klar.«
Blanche: »Ein hübsches Etui. Silber?«
Mitch: »Ja. Ja. Lesen Sie mal das Eingravierte!«
Blanche: »Oh, hat es eine Gravur? Ich kann gar nichts sehen. (Er zündet ein Streichholz an und kommt noch näher.) Oh! (Liest mit gespielter Mühe) ›Doch wenn es Gottes Wille ist, ich werde umso mehr dich lieben – nach dem Tod!‹ Aber das ist doch aus meinem Lieblingssonett von Mrs. Browning!«
Mitch: »Sie kennen es?«
Blanche: »Selbstverständlich!«
Mitch: »Zu dieser Gravur gehört auch eine Geschichte.«
Blanche: »Bestimmt eine Liebesgeschichte.«
Mitch: »Eine ziemlich traurige.«
Blanche: »Oh.«
Mitch: »Das Mädchen ist nicht mehr am Leben.«
Blanche (mit tief empfundenem Mitgefühl): »Oh!«
Mitch: »Sie wusste, sie würde bald sterben, als sie es mir schenkte. Ein außergewöhnliches Mädchen, sehr lieb – sehr!«
Blanche: »Sie muss sie geliebt haben. Kranke Menschen sind tiefer Gefühle fähig.«
Mitch: »Ja, das stimmt.«
Blanche: »Kummer trägt zur Aufrichtigkeit bei, glaube ich.«
Mitch: »Ich glaube, da haben Sie Recht.«
Blanche: »Natürlich habe ich Recht. Zeigen Sie mir jemanden, der nie gewusst hat, was Kummer ist, und ich zeige Ihnen, wie nischsagend … Hören Sie sich das an! Meine Zunge ist ein bisschen schwer! Daran seid ihr Jungs schuld. Zwei ist die Grenze. Oder drei! (Sie lacht.) Heute Abend hatte ich drei.«
Stanley: »Mitch!«
Mitch: »Lasst mich aus. Ich unterhalte mich mit Miss …«
Blanche: »DuBois.«
Mitch: »Miss DuBois?«
Blanche: »Ein französischer Name. ›Bois‹ bedeutet ›Wald‹, und ›Blanche‹ heißt ›weiß‹, beides zusammen also ›weißer Wald‹. Wie ein Obstgarten im Frühling! So können Sie es sich merken.«
Mitch: »Sie sind Französin?«
Blanche: »Wir sind französischer Abstammung. Unsere ersten amerikanischen Vorfahren waren französische Hugenotten.«
Mitch: »Sie sind aber doch Stellas Schwester?«
Blanche: »Ja, Stella ist meine geliebte kleine Schwester. Ich nenn’ sie so, obwohl sie ein bisschen älter ist als ich. Aber nur ein bisschen. Weniger als ein Jahr. Würden Sie etwas für mich tun?«
Mitch: »Klar. Was?«
Blanche: »Diesen entzückend bunten kleinen Papierlampion habe ich in einem chinesischen Geschäft auf der Bourbon gekauft. Hängen Sie ihn über die Glühbirne! Sind Sie so nett?«
Mitch: »Mit Vergnügen.«
Blanche: »Ich kann nackte Glühbirnen nicht ertragen, genau so wenig wie rüde Bemerkungen oder ordinäres Benehmen.«
Mitch (befestigt den Lampion): »Sie halten uns wahrscheinlich für einen ziemlich rohen Haufen.«
Blanche: »Ich bin durchaus anpassungsfähig.«
Mitch: »Das ist natürlich immer gut. Und Sie sind bei Stanley und Stella zu Besuch?«
Blanche: »Stella ging es in letzter Zeit nicht so gut, und ich bin hier, um ihr eine Weile zu helfen. Sie ist ziemlich am Ende.«
Mitch: »Sind Sie denn nicht …?«
Blanche: »Verheiratet? Nein, nein. Ich bin eine alte Jungfer und Lehrerin!«
Mitch: »Lehrerin vielleicht, aber eine alte Jungfer sicher nicht.«
Blanche: »Vielen Dank, mein Herr! Wie galant von Ihnen!«
Mitch: »Sie sind also von Beruf Lehrerin?«
Blanche: »Ja. Ähm, ja.«
Stanley (brüllt): »Mitch!«
Mitch: »Komm schon!«
Blanche: »Ich unterrichte am Gymnasium. In Laurel.«
Mitch: »Was unterrichten Sie? Welches Fach?«
Blanche: »Ich versuche, den Teenies und Drugstore-Romeos Respekt vor Hawthorne, Whitman und Poe beizubringen!«
Mitch: »Ich nehme an, da interessieren sich einige für ganz andere Dinge.«
Blanche: »Wie Recht Sie damit haben! Was den meisten von ihnen besonders am Herzen liegt, ist jedenfalls nicht ihr literarisches Erbe! Aber sie sind ganz lieb. Und im Frühling ist es rührend mit anzusehen, wie sie zum ersten Mal die Liebe entdecken. Als hätte noch nie einer was davon geahnt! (Die Badezimmertür öffnet sich, und Stella kommt heraus. Blanche redet weiter mit Mitch.) Oh! Bist du fertig? Warte – ich mach das Radio an.« (Sie dreht den Knopf am Radio, und es erklingt die Melodie »Wien, Wien, nur du allein«. Blanche dreht sich zur Walzermusik mit träumerischen Gesten. Mitch ist entzückt und will es ihr linkisch nachtun wie ein Tanzbär. Stanley stiefelt wütend auf das kleine Radio zu und reißt es vom Tisch. Mit lautem Fluchen wirft er das Gerät zum Fenster hinaus.)
[…]57
(Siehe die Beschreibung des Szenenverlaufs und der Interaktionen der Künstler in der Tabelle unter »Soziale Emotion Liebe«, Kapitel 6, Spalte 3 »Performative Handlungen des Spielers«, Spalte 4 »Realisierung des Verhältnisses Regisseur – Schauspieler«, Spalte 6 »Subjektives Erleben des Darstellers [Ergebnisse der Interaktionsprozesse und/oder Interviews] und Spalte 7 »Mit dem subjektiven Erleben verbundene Gedankeninhalte [Ergebnisse der Interaktionsprozesse und/oder Interviews].)
18.1.2011, 10. Probentag, Bühnenprobe, BE-Probebühne
Siehe die Beschreibung des Szenenverlaufs und der Interaktionen der Künstler in der Tabelle unter »Soziale Emotion Liebe«, Kapitel 6, Spalte 3 »Performative Handlungen des Spielers« und Spalte 4 »Realisierung des Verhältnisses Regisseur – Schauspieler«.
24.1.2011, 15. Probentag, Bühnenprobe, BE-Probebühne
Das Ende der fünften Szene und der Übergang zur sechsten Szene werden geprobt.
Ende der fünften Szene (»Abschied vom jungen Kassierer«):
(Er starrt sie einen Augenblick an. Sie öffnet ihm die Tür und wirft ihm eine Kusshand zu, als er verwirrt die Stufen hinuntergeht. Sie steht noch eine Weile verträumt da, nachdem er sich entfernt hatte. Dann kommt Mitchmit einer Rose um die Ecke.)
Blanche (fröhlich): »Sieh mal, wer da kommt! Mein Rosenkavalier! Erst verbeugen. Und jetzt die Blumen! Ahhh – Merciii!«58
(Siehe die Beschreibung des Szenenverlaufs und der Interaktionen der Künstler in der Tabelle unter »Soziale Emotion Liebe«, Kapitel 6, Spalte 3 »Performative Handlungen des Spielers«, Spalte 4 »Realisierung des Verhältnisses Regisseur – Schauspieler« und Spalte 6 »Subjektives Erleben des Darstellers [Ergebnisse der Interaktionsprozesse und/oder Interviews].)
25.1.2011, 16. Probentag, Bühnenprobe, BE-Probebühne
Der Text der sechsten Szene:
Es ist etwa zwei Uhr nachts am selben Abend. Das Haus ist von außen zu sehen. Blanche und Mitch treten auf. Blanches Stimme und Verhalten zeigen deutlich Erschöpfungssymptome, wie nur eine Neurasthenikerin sie kennt. Mitch lässt sich kaum etwas anmerken, ist aber deprimiert. Wahrscheinlich waren sie in dem Vergnügungspark am Lake Pontchartain, denn Mitch trägt, verkehrt herum, eine Gipsstatue von Mae West bei sich, wie man sie als Preis an Schießbuden oder bei Glücksspielen auf dem Jahrmarkt gewinnen kann.
Mitch (schwerfällig): »Ich fürchte, Sie haben diesen Abend nicht besonders genossen, Blanche.«
Blanche: »Ich hab Ihnen den Abend verdorben!«
Mitch: »Nein, das nicht, aber ich hatte dauernd das Gefühl, dass ich Ihnen nicht viel zu bieten hatte an Unterhaltung.«
Blanche: »Es ist mir einfach nicht gelungen, der Situation gerecht zu werden. Das war alles. Aber zehn Punkte für den guten Willen und das Bemühen! – Ich habe mich bemüht.«
Mitch: »Warum haben Sie sich bemüht, wenn Ihnen gar nicht danach war, Blanche?«
Blanche: »Ich bin nur dem Gesetz gefolgt.«
Mitch: »Welchem Gesetz denn?
Blanche: »Dem, das besagt, dass die Dame den Herrn zu unterhalten hat – die einzige Chance! Schauen Sie mal, ob Sie meinen Eingangsschlüssel in dieser Tasche zu fassen kriegen. Wenn ich so müde bin, habe ich zwei linke Hände.«
Mitch (wühlt in ihrer Handtasche): »Der hier?«
Blanche: »Nein, Mitch, das ist der Schlüssel zu meinem Koffer, den ich bald packen muss.«
Mitch: »Heißt das, Sie reisen bald wieder ab?«
Blanche: »Ich habe die Gastfreundschaft hier bereits überstrapaziert.«
Mitch: »Der hier?«
Blanche: »Phantastisch! Mitch, ich werfe noch einen letzten Blick in den Himmel. (Sie lehnt sich an die Verandabrüstung. Er schließt die Tür auf und steht unbeholfen hinter ihr.) Ich suche die Pleiaden, die sieben Schwestern, aber die Mädels haben heute Nacht wohl keinen Ausgang. O, haben sie doch, da sind sie ja! Alle zusammen. Ich nehme an, Sie wollen jetzt gehen? (Er tritt vom einen Fuß auf den anderen und hustet ein bisschen.)«
Mitch: »Darf ich – äh – Ihnen einen Gute-Nacht-Kuss geben?«
Blanche: »Warum fragen Sie mich immer, ob Sie dürfen?«
Mitch: »Ich weiß ja nicht, ob Sie wollen oder nicht.«
Blanche: »Warum zweifeln Sie denn andauernd?«
Mitch: »An dem Abend, als wir am See geparkt haben und ich Sie küsste, da – …«
Blanche: »Mitch. Gegen den Kuss hatte ich nichts. Er hat mir gut gefallen. Ich fühlte mich sogar geschmeichelt, dass Sie mich – begehren! Aber Sie wissen genauso gut wie ich, Mitch, dass ein Mädchen, das ganz allein auf der Welt ist, seine Gefühle fest unter Kontrolle behalten muss, sonst ist es verloren!«
Mitch (sehr ernst): »Verloren?«
Blanche: »Wahrscheinlich sind Sie Mädchen gewohnt, die gerne verloren sind. Solche, die sofort verloren sind, bei der ersten Verabredung!«
Mitch: »Ich möchte, dass Sie genauso sind, wie Sie sind, weil bei all meiner – Erfahrung – hab ich noch nie jemanden gekannt wie Sie. (Blanche sieht ihn sehr ernst an; dann bricht sie in schallendes Gelächter aus, hält sich aber schnell den Mund zu.) Lachen Sie mich aus?«
Blanche: »Nein, Mitch. Der Herr und die Herrin des Hauses sind noch nicht zurück, bleiben Sie auf einen Nightcap. Das Licht lassen wir aus, ja?«
Mitch: »Sie wollen noch was trinken?«
Blanche: »Sie sollen was trinken! Den ganzen Abend waren Sie so ernst und bemüht, und ich genauso; wir waren beide ernst und bemüht, aber jetzt, für diese paar letzten gemeinsamen Augenblicke in unserem Leben: joie de vivre! Wir benehmen uns wie richtige Bohémiens. Wir tun so, als säßen wir in einem kleinen Künstlercafe am linken Seineufer in Paris. (Sie zündet einen Kerzenstumpf an und steckt ihn in eine Flasche.) Voulez-vous coucher avec moi ce soir? Vous ne comprenez pas? Ah, quelle dommage! Das heißt, da hab ich noch mal Glück gehabt. Ich hab was Alkoholisches gefunden! Reicht gerade für zwei Schluck ohne Zugabe, Mitch.«
Mitch (schwerfällig): »Ja, schön.«
(Sie kommt mit den Getränken und der Kerze ins Schlafzimmer.)
Blanche: »Setzen Sie sich! Warum ziehen Sie nicht Ihr Jackett aus und machen sich den Kragen auf!«
Mitch: »Ich lasse es lieber an.«
Blanche: »Nein. Ich will, dass Sie es bequem haben.«
Mitch: »Ich geniere mich, weil ich so schwitze. Das Hemd klebt mir am Körper.«
Blanche: »Schwitzen ist gesund. Wenn die Menschen nicht schwitzen würden, wären sie innerhalb von fünf Minuten tot. (Sie nimmt ihm das Jackett ab.) Das ist ein schönes Jackett.«
Mitch: »Ein Mann mit starker Figur muss aufpassen bei dem, was er anzieht, damit er nicht zu plump wirkt.
Blanche: »Sie sind nicht zu schwer.«
Mitch: »Finden Sie nicht?«
Blanche: »Sie sind nicht der schmächtige Typ. Sie haben einen starken Knochenbau und eine eindrucksvolle Statur.«
Mitch: »Danke. Letzte Weihnachten wurde mir die Mitgliedschaft im New Orleans Fitness-Club geschenkt.«
Blanche: »Oh, toll.«
Mitch: »Das war das schönste Geschenk, das ich je bekommen habe. Ich mach da Gewichtheben, ich schwimme, und ich halte mich fit. Als ich da angefangen habe, war mein Bauch schon schlaff, aber jetzt ist mein Bauch fest. So fest, dass ein Mann mich in den Bauch boxen kann, und es macht mir nichts aus. Boxen Sie mal! Na los! Sehen Sie?« (Sie stupst ihn ein bisschen.)
Blanche: »Meine Güte.« (Sie fährt sich an der Brust.)
Mitch: »Darf ich Sie hochheben?«
Blanche: »Samson! Na gut, heben Sie mich hoch! (Er kommt hinter sie, legt ihr beide Hände um die Taille und hebt sie mühelos vom Boden.) Und?«
Mitch: »Sie sind leicht wie eine Feder.«
(Er setzt sie wieder ab.)
Mitch: »Wo sind Stanley und Stella heute Abend?«
Blanche: »Sie sind ausgegangen.«
Mitch: »Wir sollten auch mal alle zusammen ausgehen.«
Blanche: »Nein. Das wäre keine gute Idee.«
Mitch: »Warum nicht?«
Blanche: »Sie sind ein alter Freund von Stanley?«
Mitch: »Wir waren zusammen beim Militär.«
Blanche: »Dann hat er bestimmt keine Geheimnisse vor Ihnen.«
Mitch: »Nein.«
Blanche: »Hat er mit Ihnen über mich gesprochen?«
Mitch: »Ach – nicht besonders viel.«
Blanche: »So wie Sie das sagen, hört es sich aber so an.«
Mitch: »Nein, er hat nicht viel gesagt.«
Blanche: »Aber was hat er gesagt?«
Mitch: »Warum wollen Sie das wissen?«
Blanche: »Na ja …«
Mitch: »Kommen Sie nicht klar mit ihm?«
Blanche: »Was glauben Sie?«
Mitch: »Ich glaube, er versteht Sie nicht.«
Blanche: »Wenn Stella nicht schwanger wäre, würde ich es hier nicht aushalten.«
Mitch: »Er ist nicht … nett zu Ihnen?«
[…]
Mitch: »Blanche!«
Blanche: »Ja, Mitch?«
Mitch: »Darf ich Sie etwas fragen?«
Blanche: »Ja. Was?«
Mitch: »Wie alt sind Sie?«
(Sie macht eine nervöse Geste.)
Blanche: »Warum wollen Sie das wissen?«
Mitch: »Ich habe mit meiner Mutter über Sie gesprochen, und sie fragte mich ›Wie alt ist Blanche?‹. Und ich konnte es ihr nicht sagen.«
Blanche: »Sie haben mit Ihrer Mutter über mich gesprochen?«
Mitch: »Ja.«
Blanche: »Warum?«
Mitch: »Ich habe meiner Mutter erzählt, wie reizend Sie sind, und dass ich Sie mag.«
Blanche: »Haben Sie das ernst gemeint?«
Mitch: »Das wissen Sie doch.«
Blanche: »Warum wollte Ihre Mutter mein Alter wissen?«
Mitch: »Sie ist krank.«
Blanche: »Das tut mir aber leid. Ist es schlimm?«
Mitch: »Sie hat nicht mehr lange zu leben. Vielleicht noch ein paar Monate.«
Blanche: »Oh.«
Mitch: »Sie macht sich Sorgen, weil ich noch nicht verheiratet bin.«
Blanche: »Oh.«
Mitch: »Sie möchte mich gerne verheiratet sehen, bevor sie …« (Seine Stimme klingt heiser, er räuspert sich zweimal und fährt sich mit den Händen immer wieder in die Taschen.)
Blanche: »Sie lieben sie sehr, nicht wahr?«
Mitch: »Ja.«
Blanche: »Ich glaube, Sie sind tiefer Gefühle fähig. Sie werden einsam sein, wenn sie Sie verlässt, nicht wahr? (Mitch räuspert sich und nickt.) Ich weiß, was das heißt.«
Mitch: »Einsam zu sein?«
Blanche: »Ich habe auch jemanden geliebt und habe den Menschen, den ich geliebt habe, verloren.«
Mitch: »Tot? Ein Mann?«
Blanche: »Ein Junge war er, noch ein Junge, und ich war ein sehr junges Mädchen. […] Aber das wusste ich damals nicht. Ich begriff alles erst später, nachdem wir geheiratet hatten, vor allem weggelaufen und wieder zurückgekommen waren. […] Beim Betreten eines Zimmers, in dem ich niemanden vermutete – doch entgegen meiner Vermutung befanden sich zwei Personen darin: der Junge, den ich geheiratet habe, und ein älterer Mann, der schon seit Jahren sein Freund war […] Dann hörte ich Stimmen, die riefen – ›Allan! Allan! Der Junge von den Greys!‹ Er hatte sich den Revolver in den Mund gesteckt und abgedrückt […]. Und da ging das Licht, das auf die Welt gefallen war, wieder aus, und seitdem hat kein Licht auch nur für einen Moment stärker geleuchtet als – diese Küchenkerze.« (Mitch steht unbeholfen auf und bewegt sich auf sie zu. Mitch steht neben ihr.)
Mitch (nimmt sie langsam in die Arme): »Du brauchst jemanden. Und ich brauche auch jemanden. Glaubst du, es ist möglich – du und ich, Blanche?«
(Sie starrt ihn einen Augenblick lang mit verlorenem Blick an. Dann schmiegt sie sich leise weinend in seine Arme. Schluchzend macht sie den Versuch zu sprechen, bringt aber kein Wort heraus. Er küsst sie auf die Stirn, auf die Augen und schließlich auf den Mund. Sie atmet tief ein und aus und schluchzt erleichtert dazu.)
Blanche: »Manchmal ist Gott da – ganz schnell!«59
(Siehe die Beschreibung des Szenenverlaufs und der Interaktionen der Künstler in der Tabelle unter »Soziale Emotion Liebe«, Kapitel 6, Spalte 3 »Performative Handlungen des Spielers«, Spalte 4 »Realisierung des Verhältnisses Regisseur – Schauspieler«, Spalte 6 »Subjektives Erleben des Darstellers [Ergebnisse der Interaktionsprozesse und/oder Interviews] und Spalte 7 »Mit dem subjektiven Erleben verbundene Gedankeninhalte [Ergebnisse der Interaktionsprozesse und/oder Interviews].)
27.01.2011, 18. Probentag, Bühnenprobe, BE-Probebühne
Die sechste Szene wird geprobt.
Siehe die Beschreibung des Szenenverlaufs und der Interaktionen der Künstler in der Tabelle unter »Soziale Emotion Liebe«, Kapitel 6, Spalte 3 »Performative Handlungen des Spielers«, Spalte 4 »Realisierung des Verhältnisses Regisseur – Schauspieler«, Spalte 6 »Subjektives Erleben des Darstellers (Ergebnisse der Interaktionsprozesse und/oder Interviews) und Spalte 7 »Mit dem subjektiven Erleben verbundene Gedankeninhalte (Ergebnisse der Interaktionsprozesse und/oder Interviews).
23.2.2011, 41. Probentag, Bühnenprobe, BE-Hauptbühne
Siehe die Beschreibung des Szenenverlaufs und der Interaktionen der Künstler in der Tabelle unter »Soziale Emotion Liebe«, Kapitel 6, Spalte 3 »Performative Handlungen des Spielers«, Spalte 4 »Realisierung des Verhältnisses Regisseur – Schauspieler«, Spalte 6 »Subjektives Erleben des Darstellers (Ergebnisse der Interaktionsprozesse und/oder Interviews) und Spalte 7 »Mit dem subjektiven Erleben verbundene Gedankeninhalte (Ergebnisse der Interaktionsprozesse und/oder Interviews).
4.3.2011, 49. Probentag, Bühnenprobe, BE-Hauptbühne
Siehe die Beschreibung des Szenenverlaufs und der Interaktionen der Künstler in der Tabelle unter »Soziale Emotion Liebe«, Kapitel 6, Spalte 3 »Performative Handlungen des Spielers« und Spalte 4 »Realisierung des Verhältnisses Regisseur – Schauspieler«.
Da die Blanche-Darstellerin, der Mitch-Darsteller und der Regisseur Thomas Langhoff einander von früheren Zusammenarbeiten gut kannten, bildeten sie auch während des dreimonatigen Probenprozesses zu Endstation Sehnsucht ein festes Tandem, was besonders während der ziemlich häufigen Diskussionen bzw. Regieanweisungen mitten im Spielprozess zu beobachten war. Aus dieser kurzen Einführung in die erste Probensituation am BE und der Vorgeschichte der Verhältnisse der Probenbeteiligten versteht es sich von selbst, dass die kollektive Efferveszenz zwischen den drei Künstlern sehr groß war bzw. kohärente Wohlgefühle zwischen ihnen schon lange vor dem Probenbeginn da waren. Daraus folgt, dass die zwei Schauspieler und der Regisseur sich nicht auf ein und dieselbe »Frequenz« einstellen mussten, sondern dass sie auf dieser »Frequenz« bereits vorher durch ihre Vorarbeit gewesen sind. Der Regisseur hatte die Hauptdarsteller persönlich ausgewählt und so durch seine Wahl eine höchst kohärente Kommunikation und ein Solidaritätsgefühl zwischen ihnen gesichert.
Des Öfteren konnte man vom Regisseur die Anekdote hören, wie er die Blanche-Darstellerin (ob während des Bühnenspiels, davor oder danach) nicht als Schauspielerin X, sondern als Blanche DuBois anspricht und ihr seine Kommentare mitteilt. (Vgl. Tabelle am 10.1.2011, Spalte 4, Langhoff; 18.1.2011, Spalte 4, Langhoff; 25.1.2011, Spalte 4, Langhoff; 23.2.2011, Spalte 4, Langhoff.) Nicht selten griff auch die Hauptdarstellerin diese vom Regisseur vorgeschlagene Art und Weise, die Figuren anzusprechen, auf und äußerte sich als Blanche mitten in der mise-en-scène zur gespielten Situation. (Vgl. Tabelle am 25.1.2011, Spalte 7, Blanche-Darstellerin; 27.1.2011, Spalte 6, Blanche-Darstellerin.) So drückte sich die leiblich-affektive Rhythmisierung zwischen dem Regisseur und der Hauptdarstellerin aus. (Vgl. dazu die Textstelle, als die Blanche-Darstellerin die Worte des Regisseurs aufgriff und ihre Gedanken an diese anknüpfte:
Langhoff: »Du warst die ganze Zeit zart zu ihm.«
Blanche-Darstellerin (als Fortsetzung von Langhoffs Worten): »Du musst doch ein bisschen locker sein! Einen Heiratsantrag macht man doch nicht jeden Tag!« Tabelle am 25.1.2011, Spalte 7.)
Der Mitch-Darsteller hat sich während des Probenvorgangs zwar etwas seltener zum Bühnengeschehen geäußert, aber die zahlreichen Regieanweisungen und die stetige Konversation zwischen dem Regisseur und der Hauptdarstellerin sehr lebhaft wahrgenommen (z. B. durch das Mitlachen, Lächeln, den mimischen Ausdruck) und in Übereinstimmung mit den Regieanweisungen und der Interaktion zwischen ihnen drei seine Kunstfigur verkörpert. Das höchste Maß an individueller emotionaler Energie legte zwar der Regisseur Langhoff an den Tag, während er seine Kommentare und Anweisungen sehr oft nicht nur vor oder nach der aufgeführten Szene, sondern auch mitten im Spiel verteilte. In den Proben fragte ich mich häufig, warum der Regisseur so intensiv und immer wieder mit den Schauspielern Konversationen führt oder mal gar das Spiel unterbricht und auf die Bühne steigt, um seine Anweisungen unmittelbar auf einer Ebene mit den Schauspielern zu verteilen. Und erst im Nachhinein wurde mir ersichtlich, dass durch solche Herangehensweise, die beinahe rituelle Züge annahm, Thomas Langhoff die Gruppensolidarität unter den Schauspielern herbeiführte. Und tatsächlich spielten die Interaktionen über die psychologischen Zustände der Figuren für die involvierten Darsteller eine große Rolle: Sie halfen den Darstellern dabei, sich in jeder mise-en-scène eine transitorische Emotion aufzugreifen und diese Emotion für die mise-en-scène zu verankern. (Wie es Langhoff z. B. in der dritten Szene am 18.1.2011 an die Blanche-Darstellerin artikulierte: »Das ist für dich überraschend, dass hier ein Mensch hohe Literatur in die Zigarettenbox eingravieren lässt.« Ab diesem Zeitpunkt hat die Blanche-Darstellerin an dieser Textstelle ein Gefühl positiver Überraschtheit gezeigt bzw. die Zuneigung – sprich transitorische Emotion – ihrer Figur zu der von Mitch durch das Berühren seiner Hand jedes Mal demonstriert, wenn sie die Gravur auf dem Etui musterte.)
Die Bereitschaft, die rituellen Symbole der Gruppe (Sätze und Handlungen der beteiligten Künstler) vor »äußeren Angriffen« zu schützen, zeigte vor allem die Blanche-Darstellerin, als sie mir erstens jegliche Interviews absagte und es zweitens auch nach der Premiere für unmöglich hielt, auf die von ihr gespielten Rolle in einem Interview einzugehen.
Zweite Probensituation
Blanche vs. Stanley: vierte Szene (»Überlebender der Steinzeit«), fünfte Szene (»Steinbock – der Bock!«), sechste Szene (»Er ist unerträglich grob«); Stanley vs. Blanche: fünfte Szene (»Kennst du jemanden mit Namen Shaw?«), achte Szene (»Papageien-Witz«) (Verachtung)
25.1.2011, 16. Probentag, Bühnenprobe, BE-Probebühne
In der sechsten Szene beklagt sich Blanche bei Mitch über Stanleys Verhalten:
Blanche: »Er ist unerträglich grob. Ich habe hier keine Privatsphäre. Er stolziert nachts in seiner Unterwäsche durch die Wohnung. Und ich muss ihn bitten, die Badezimmertür zu schließen. Sie fragen mich wahrscheinlich, warum ich nicht ausziehe. Ja, das will ich Ihnen ganz offen sagen. Ein Lehrerinnengehalt reicht kaum zum Lebensunterhalt. Deshalb muss ich den Mann meiner Schwester ertragen. Und er muss mich ertragen. Er hat Ihnen bestimmt erzählt, wie sehr er mich hasst. […]«60
Langhoff: »Dummer Punkt, aber sie insistiert darauf, dass Mitch ihr sagt, was Stanley von ihr denkt.«
Langhoff erzählt von einer Inszenierung, in der eine Schauspielerin über ihren Mann klagte, er wische mit demselben Lappen das Geschirr und den Tisch ab. So betrachte auch Blanche Stanleys Verhalten als permanente Provokation gegen sie.
Blanche-Darstellerin (während des Szenenverlaufs, boshaft, gereizt): »Er ist wirklich wie ein Schwein: Er frisst wie ein Schwein, er spricht wie ein Schwein! Ja, weil ich nicht genug Geld habe, muss ich hier mit diesem ordinären Menschen, mit diesem Tier, Untermenschen bleiben …«
29.1.2011, 20. Probentag, Bühnenprobe, BE-Probebühne
Textauszug aus der vierten Szene:
Blanche: »Darf ich ganz offen reden?«
Stella: »Ja, klar. Nur zu. So offen, wie du willst.«
(Man hört draußen einen Zug näherkommen. Sie schweigen, bis der Lärm wieder abnimmt. Beide sind im Schlafzimmer. Bei dem Lärm des Zuges ist nicht zu hören, dass Stanley von draußen hereinkommt. Er bleibt stehen, wo ihn die Frauen nicht sehen können, ein paar Päckchen im Arm, und lauscht der folgenden Unterhaltung. […])
Blanche: »Also, verzeih mir bitte, aber – er ist ordinär!«
Stella: »Ja, ich nehme an, das stimmt.«
Blanche: »Nimmst du an! Du wirst doch nicht derart unsere Kinderstube vergessen haben, Stella, dass du annehmen kannst, er hätte auch nur im geringsten etwas von einem Gentleman! Keinen Funken! Nichts! Du hasst mich jetzt sicher, weil ich das sage?«
Stella (kalt): »Weiter, Blanche, sprich dich aus.«
Blanche: »Er benimmt sich wie ein Tier, hat das Verhalten eines Tieres! Isst wie ein Tier, bewegt sich wie ein Tier, redet wie ein Tier! Er hat wirklich etwas – Unmenschliches –, etwas, das noch nicht ganz ins Stadium des Menschseins getreten ist! Ja, etwas Affenartiges, so wie auf den Abbildungen in anthropologischen Untersuchungen! Tausende und Abertausende von Jahren sind spurlos an ihm vorübergegangen, und da haben wir ihn nun – Stanley Kowalski – Überlebender der Steinzeit! Bringt aus dem Dschungel das blutige Fleisch seiner Beute nach Hause. Und da bist du – gerade du – und wartest auf ihn. Vielleicht schlägt er dich, vielleicht grunzt er aber auch nur und küsst dich. Das heißt, falls man das Küssen schon erfunden hat. Nacht bricht herein, und die anderen Affen versammeln sich vor seiner Höhle! Alle grunzen wie er, und saufen und schlingen und spielen sich auf! Sein Pokerabend! Eine Affenparty! Mein Gott! Vielleicht sind wir weit davon entfernt, ein Ebenbild Gottes zu sein, aber, Stella – liebe Schwester – ein bisschen Fortschritt hat es doch bereits gegeben! So etwas wie Kunst – wie Poesie und Musik – so etwas wie Erleuchtung ist doch in die Welt gekommen! Bei manchen Menschen gibt es zu zarteren Empfindungen doch Ansätze! Und das müssen wir auf unsere Fahne schreiben! Bitte bleib nicht bei den Unmenschen!«
(Draußen fährt wieder ein Zug vorbei. Stanley zögert, er leckt sich die Lippen. Plötzlich dreht er sich um und geht verstohlen durch die Tür wieder hinaus. Die Frauen ahnen von seiner Anwesenheit immer noch nichts. Nachdem der Zug vorbeigefahren ist, ruft Stanley durch die geschlossene Tür.)
Stanley: »Hallo! Hallo, Stella!«
Stella (die Blanche mit ernstem Gesicht zugehört hat): »Stanley!«
(Stella ist schon zur Wohnungstür gegangen. Mit seinen Päckchen im Arm kommt Stanley lässig herein.)
Stanley: »Blanche wieder da?«
Stella: »Ja, sie ist wieder da.«
(Stella hat ihn stürmisch mit beiden Armen umfangen, vollständig im Blickfeld von Blanche. Stanley lacht und drückt ihren Kopf an sich. Über ihren Kopf hinweg grinst er Blanche durch die Vorhänge hindurch an. […])«61
Vorbereitungsgespräch auf der Bühne:
Langhoff: »Shep Huntleigh kauft uns ein Geschäft, egal was – Unterwäsche. Hauptsache, du musst weg von diesem Untermenschen.« (Blanche-Darstellerin nickt.)
Langhoff (an Blanche-Darstellerin): »X, und du nimmst lieber eine andere Perücke.«62
Textauszug aus der fünften Szene:
(Stanley kommt um die Ecke in seinem rot-grün-seidenen Bowlinghemd und poltert in die Küche. Blanche quittiert sein Auftreten mit nervösen Gesten. Er reißt eine Kommodenschublade auf, knallt sie wieder zu und wirft seine Schuhe in die Ecke. Bei jedem Geräusch zuckt Blanche ein wenig zusammen. Schließlich spricht sie weiter.)
Blanche: »Unter welchem Zeichen bist du geboren?«
Stanley (während er sich umzieht): »Zeichen?«
Blanche: »Sternzeichen. Ich wette, du bist Widder. Widder sind stark und dynamisch. Krach ist für sie das Schönste! Liebend gern stoßen sie alles in der Gegend rum.«
Stella: »Stanley ist fünf Minuten nach Weihnachten geboren.«
Blanche: »Steinbock – also, der Bock!«
Stanley: »Unter welchem Zeichen bist du geboren?«
Blanche: »Oh, mein Geburtstag ist nächsten Monat, am 15. September. Also Virgo.«
Stanley: »Was ist Virgo?«
Blanche: »Virgo ist die Jungfrau.«
Stanley (verächtlich): »Häh! (Er kommt etwas näher, während er seine Krawatte bindet.) Sag mal, kennst du vielleicht jemanden mit Namen Shaw?«
(Ihr Gesicht verrät einen gewissen Schock. Sie greift nach ihrem Eau de Cologne und benetzt ihr Taschentuch, während sie vorsichtig antwortet.)
Blanche: »Jeder kennt wohl jemanden mit Namen Shaw!«
Stanley: »Also dieser Jemand mit Namen Shaw ist überzeugt, er hat dich in Laurel kennen gelernt, aber ich schätze, er muss dich mit jemand anders verwechselt haben, denn diese andere ist jemand, die er in einem gewissen Hotel Flamingo getroffen hat.«
Blanche: »Ich fürchte, er muss mich tatsächlich mit ›dieser anderen‹ verwechselt haben, das Hotel Flamingo gehört zu einer Art von Etablissement, in dem ich mich niemals sehen lassen würde.«
Stanley: »Aber du kennst es?«
Blanche: »Ja, ich habe es gesehen und – gerochen.«
Stanley: »Du musst ganz schön nah rangekommen sein, wenn du es riechen konntest.«
Blanche: »Der Geruch von billigem Parfüm reicht meilenweit.«
Stanley: »Und das Zeug, dass du benutzt, ist teuer?«
Blanche: »25 Dollar die Unze! Und ich hab kaum noch was. Kleiner Hinweis, falls du dich an meinen Geburtstag erinnern willst.« (Sie spricht leichthin, doch in der Stimme schwingt Angst mit.)
Stanley: »Shaw muss dich verwechselt haben. Aber er geht in Laurel dauernd ein und aus und kann das nachprüfen und jeden Irrtum beseitigen. (Er wendet sich ab und geht zum Vorhang. Blanche schließt wie ohnmächtig die Augen. Ihre Hand zittert, als sie ihr Taschentuch wieder an die Stirn führt.)
(zu Stella): Ich warte auf dich in den Vier Assen!«
Stella: »Hey! Verdiene ich keinen Kuss?«
Stanley: »Nicht in Gegenwart deiner Schwester.«63
Vorbereitungsgespräch auf der Bühne:
Langhoff (an Blanche-Darstellerin): »Irritationen durch seine unkultivierte Art – die sind immer da, deswegen versucht sie ein Versöhnungsgespräch. Dass es die böse Absicht von ihm war, sagt sie ihm nicht.«
(Robert Gallinowski schlägt vor, zuerst Krach in der Garderobe zu machen, bevor Blanche über Sternzeichen spricht.)
Nach einiger Zeit, während der Besprechung einer anderen Szene:
Gallinowski: »Blanche verzichtet auch im Gespräch mit Mitch auf ein gemeinsames Ausgehen zu viert, weil sie nicht weiß, wie es emotional ausgeht.«64
31.1.2011, 21. Probentag, Bühnenprobe, BE-Probebühne
Textauszug aus der achten Szene:
Blanche: »[…] Diese alte Jungfer hatte einen Papagei, der immerzu obszöne Flüche von sich gab und mehr ordinäre Ausdrücke kannte als Mr. Kowalski!«
[…]
Blanche: […] ([…] Stanley schenkt der Geschichte gar keine Aufmerksamkeit, sondern langt über den Tisch, um mit seiner Gabel das letzte Kotelett aufzuspießen, das er mit den Fingern verzehrt.) »Offenbar fand Mr. Kowalski das gar nicht lustig.«
Stella: »Mr. Kowalski ist viel zu sehr damit beschäftigt, sich wie ein Schwein zu benehmen, als an etwas anderes denken zu können.«
Stanley: »Du sagst es, Baby.«
Stella: »Dein Gesicht und deine Hände sind ekelhaft fettig. Geh dich waschen und hilf mir dann den Tisch abräumen.«
(Er schleudert einen Teller auf den Fußboden.)
Stanley: »So räume ich den Tisch ab! (Er packt sie am Arm.) Und du sprich nie wieder so mit mir! ›Schwein‹, ›Polacke‹, ›ekelhaft‹, ›ordinär‹, ›fettig‹! Das habe ich mir von dir und deiner Schwester lange genug anhören müssen! Was glaubt ihr beide eigentlich, wer ihr seid? Ein Königinnenpaar? Denkt daran, was Huey Long gesagt hat – ›Jeder Mann ist ein König‹! Und ich bin hier der König, also denkt daran! (Er schleudert eine Tasse mitsamt der Untertasse auf den Fußboden.) Bei mir ist abgeräumt! Soll ich auch bei euch abräumen? […]«
[…]
Stanley: »Mensch, da ist aber eine Hitze aus dem Badezimmer!«
Blanche: »Ich habe mich bereits dreimal entschuldigt. Ich nehme heiße Bäder meiner Nerven wegen. Hydrotherapie nennt man das. Als gesunder Polacke, der gar keine Nerven hat, weißt du natürlich nicht, was Angstzustände sind!«
Stanley: »Ich bin kein Polacke! Die Einwohner Polens heißen Polen, nicht Polacken. Ich bin aber ein hundertprozentiger Amerikaner, geboren und aufgewachsen im größten Land der Erde und auch verdammt stolz darauf. Also nenn mich nie wieder einen Polacken!![…]«65
Besprechung während der Probe:
Langhoff: »X, das machst du wunderbar! Sowohl der Schmerz als auch die rührende Haltung ist dabei. Die Katastrophe ist da. Das Spiel eines anderen Spiels.«
Blanche-Darstellerin: »Ich glaube, sie [Blanche] hat überhaupt nichts [an ihrem eigenen Geburtstag] gegessen. Außerdem finde ich es gar nicht so schlecht, wenn wir lachen, denn das reizt ihn noch mehr. Sie wissen beide das, was ich nicht weiß, nämlich, dass Mitch nicht kommt, weil er [Stanley] über mich unanständige Sachen erzählt hat.«
Langhoff: »Dass er die Scheiße mit Mitch gemacht hat, hat ihn besonders geärgert. Deswegen schreit er: ›Was wollt ihr hier, dumme Weiber? Männerfreundschaft ist viel wertvoller als all die Liebeleien!‹«
Blanche-Darstellerin: »Ich nehme meine Schwester immer als eine Beraterin mit, Männer bleiben raus.«
Beim Probenversuch, wenn es zur mis-en-scene über Huey Long kommt, beginnen Anika Mauer und Blanche-Darstellerin zu lachen.
Blanche-Darstellerin: »Ich glaube, sie ist schon immer gegen solche Sachen gewesen. Plötzlich ist Huey Long wieder zurück.«
Langhoff: »Na von mir aus spielt auch lachend.«
Nach dem zweiten Probenversuch:
Langhoff: »Was ich nicht ganz gut finde, ist, dass alle drei rauchen. (an Robert Gallinowski) Er kämpft noch um sie. Sobald diese Ziege hier weg ist, ist alles wieder in Ordnung. Solange die Leute noch Lust miteinander im Bett haben, kann man alles noch retten.«66
3.2.2011, 24. Probentag, Bühnenprobe, BE-Probebühne
Vor der Probe zur achten Szene:
Gallinowski: »Huey Long sieht wie ein Durchschnittsamerikaner aus, hat faschistische Gesten, auch Stanley hat solche Ansichten. Der Kommentator in einer Sendung hat ihn so genannt. Leute wie Huey Long hatten sich auf Leute wie Stanley gestützt, also auf arme Schichten.«
Robert Gallinowski unterbricht plötzlich seinen Text und schlägt vor, ohne Requisite, die auf dem Tisch liegt, zu proben. Er möchte zuerst technische Momente ausprobieren.
Gallinowski: »Er ist gereizt wie ein Stier. Die Schnauze voll.«
Fortsetzung der Probe.
Mauer (an Thomas Langhoff): »Ich weiß nicht, wie ich mich mit Stanley draußen benehmen soll.«
Langhoff (als läse er Stellas Gedanken über Stanley): »Du hast dich zwar nicht gut benommen, aber komm trotzdem rein.«
Stella lacht mit Blanche über den Witz.
Langhoff: »Ihr könnt absolut ineinander sprechen. Hinten würde ich nicht so romantisch spielen, mehr realistisch. (an Blanche-Darstellerin) Sie will ihre tiefe Enttäuschung überspielen.«
Blanche-Darstellerin: »Ich denke mir als Blanche, dass es nicht Stanley, sondern Mitch ist. Sie kocht vor Wut. Sie hat natürlich auch Angst, körperliche Angst vor Stanley. Letztendlich meint sie: ›Ich bleib, es reicht.‹ Das ist die Spannung: ›Ich komme nicht dahinten!‹«
Nachdem Stanley den Teller auf den Fußboden geschleudert hat:
Langhoff: »Du hast mich als ordinär kennengelernt, d. h., ich habe mich nicht geändert. Und du sollst es jetzt als normal empfinden. Es war jetzt normal für mich.«
Gallinowski (nach dem Satz »Die Einwohner Polens heißen Polen«): »Ich weiß noch nicht, wie ich auf sie [Blanche] zugehe: Ob ich das gleich mache oder zuerst Leergänge mache.«
Blanche-Darstellerin: »Sie ist wirklich verzweifelt, sie tigert rum. Ich bleibe hier stehen. Warum spielt ihr mir hier was vor?«
Langhoff: »Ich glaube, dass sie ein bisschen weniger gereizt ist.«
Blanche-Darstellerin: »Das erste Mal, dass sie überhaupt schreit.«
Langhoff: »Ja, vielleicht siehst du es gut so, aber das heißt nicht, dass Williams es so sieht. Sie setzt sich doch nicht auf sein Niveau herab. Sie bewahrt die Haltung, und das treibt ihn beinahe in den Wahnsinn. Sie sind nicht auf dem gleichen Niveau.«
Blanche-Darstellerin (locker): »Ich habe nur meiner Nerven wegen geschrien!« (lächelt, alle lachen)67
9.2.2011, 29. Probentag, Bühnenprobe, BE-Hauptbühne
Bühnendiskussion während der vierten Szene:
Nach Stellas Satz »Er hat in unserer Hochzeitsnacht alle Glühbirnen mit dem Absatz von meinem Schuh zerdeppert«:
Langhoff (für Blanche): »Ich bin entsetzt. Ich bin eine DuBois. Ich hätte es nicht ausgehalten. Du bist aber keine DuBois.«
Blanche-Darstellerin (als Blanche an Stella): »Und du lächelst!« (ahmt nach, wie die vor Glück betäubte Stella es machen würde) Er hätte dich gestern vor fünf Leuten fast zu Tode geschlagen! Und du drückst ein Auge zu?!«
Nach Blanches Satz »Ich gehe lieber auf den Strich«:
Langhoff: »Mir scheint es besser zu klingen, wie es im Original ist. Es ist vielleicht irrationaler als ›Ich gehe lieber auf den Strich‹. ›Ich werde auf den Strich gehen‹ ist zu rational.«
Blanche-Darstellerin: »Er ist ein brutales Schwein. Wie kann ich mit diesem Mann zusammen unter einem Dach wohnen, nur zwischen diesem dünnen Vorhang?! Es ist widerlich, dass er die Tür in der Toilette nicht zumacht!«
Mauer: »Wir machen die Tür auch nicht zu, weil unsere Kinder noch zu klein sind.«
Langhoff: »Na, da unsere schon längst groß sind, machen wir die Tür immer zu.«
Beim nächsten Probenversuch:
Blanche-Darstellerin (als Blanche an Stella): »Du benimmst dich wie ein vierzehnjähriges Mädchen, das zum ersten Mal Sex hat. Du lebst doch mit einem Schläger!«
Mauer: »Die Verhaltensweise ist ›Ja, ja‹. Es gibt vieles, was in dieser Szene nicht geschrieben ist.«
Langhoff: »Ja, es gibt in der Szene vieles, was nicht geschrieben ist.«
Blanche-Darstellerin: »Aber, wie Eunice68 sagt, war er schon bei der Polizei, als er dich letztes Mal geschlagen hat.«69
12.2.2011, 32. Probentag, Bühnenprobe, BE-Probebühne
Langhoff (über den Anfang der achten Szene): »Hier spielt sich eine Tragödie ab.«
Blanche-Darstellerin (über das Ende der Szene): »Es ist doof, wenn man nicht sieht, wie sie reagiert. (über Blanche und Hydrotherapie) Ich nehme ja öfters Bäder. Ich hatte mal einen Freund, der war Hydrotherapeut.« (Gelächter)
Langhoff: »Jetzt schmeißt sie ihn mit all den Argumenten rum. Sie hat es jetzt satt. Die Situation ist aus der Bude gelaufen.«
Mauer: »Ich verstehe den Weg dahin nicht. Der Zug ist abgefahren. Das ist die einzige Geschichte, die sie von Blanche erzählt. Will sie [Stella] das Emotionale ganz tilgen?«
Langhoff: »Nein, auf keinen Fall!«70
24.2.2011, 42. Probentag, Bühnenprobe, BE-Hauptbühne Vor der Probe der sechsten Szene:
Blanche-Darstellerin (an die Souffleuse): »Manchmal soll man schon den Text ändern. Er schreibt doch so [Leerstelle in der Probenaufzeichnung, weil ich das Wort nicht verstehen konnte], man kann das ja nicht Wort für Wort sprechen.«
Blanche-Darstellerin (nach dem ersten Probenversuch der sechsten Szene an Langhoff): »Aber ich glaube, sie muss es viel aufgeregter sagen: ›Er stolziert in der Unterwäsche.‹ Dieser Kerl beschäftigt sie immer in ihren Gedanken.«
Langhoff: »Ist die Stunde der Wahrheit für sie.«
Blanche-Darstellerin: »Oder es ist so, dass ich es gar nicht erzählen will, aber dass es so von selber rein gerät.«
Blanche-Darstellerin (beim nächsten Probenversuch): »Ich muss immer an den Text denken, sonst sage ich das alles nicht druckreif! Ich muss ja eine bestimmte Freiheit haben.«71
4.3.2011, 49. Probentag, erster Durchlauf, BE-Hauptbühne
In der vierten Szene wirft Blanche den Zehn-Dollar-Schein, den ihr Stella gibt, zuerst verächtlich auf ihr Klappbett. Nach »Ich gehe auf den Strich« greift sie aber nach dem Geld und schmeißt es genauso verächtlich in ihre Handtasche, weil sie versteht, dass sie darauf angewiesen ist.72
Die geschilderte Probensituation besteht, wie angeführt, nicht aus einer, sondern aus einigen Szenen, in denen die soziale Emotion »Verachtung« von zwei Figuren (von der Figur Blanche DuBois und Stanley Kowalski) gegenseitig aufgeführt wurde. Da sich die Emotion »Verachtung« im gesamten Stück von Szene zu Szene wie ein roter Faden zieht, geht es jetzt darum, diese in ihren zahlreichen Ausprägungen bzw. in ihrer Entwicklung zu zeigen. Um solch eine starke negative Emotion, wie Verachtung eine ist, (in diesem Fall sogar eine beiderseitige Verachtung) demonstrieren zu können, müssen die agierenden Mitspieler bei Diskussionen wie bei den Bühnenproben kollektive affektive Erregungen empfinden, die bei ihnen – im Gegensatz zur negativen aufgeführten Emotion der Kunstfiguren – positive Wohlgefühle der Solidarität bzw. Wohlgefühle der gemeinsamen Reflexion über die von ihren Kunstfiguren erlebten Emotion »Verachtung« hervorrufen sollen. Zwischen den zwei Hauptdarstellern bzw. zwischen ihnen und dem Regisseur waren gerade solche harmonischen Beziehungen zu beobachten, die zweifelsohne von großer kollektiven Efferveszenz während mehrerer Probenversuche zeugen. Es genügt allein nur einige Probenepisoden zu nennen, die bei Diskussionen oder bei Proben von mise-en-scène mit vorgegebenen verächtlichen Ausprägungen zwischen den Figuren von den Darstellern zwar lächelnd, scherzend oder gar lachend performt wurden. (Vgl. z. B. Tabelle am 25.1.2011, Spalte 6: Blanche-Darstellerin über die Figur von Stanley Kowalski und allgemeines freundliches Gelächter über ihre improvisierte Verachtung; 31.1.2011, Spalte 4: Blanche-Darstellerin und Stella-Darstellerin fangen mitten im Spiel an, über die gesellschaftlich-politischen Ansichten der Figur von Stanley zu lachen; 24.2.2011, Spalte 4: Blanche-Darstellerin lächelt selbstironisch über ihren Kummer, ihren verächtlichen Rollentext über die Figur von Stanley in spontanen, nicht druckreifen Ausdrücken vortragen zu können.) An manchen Probentagen gerieten die Schauspieler derart in Fahrt, dass sie diese zugleich ansteckende Emotion, die ihre Figuren zu empfinden vermögen, mit Einschüben von eigenen Worten ausdrückten. Dies konnte durchaus auch im Anschluss an eine Regieanweisung stattfinden. Das hat zumeist die Blanche-Darstellerin gemacht, aber an einem späteren Probentag auch Robert Gallinowski, der Stanley-Darsteller. Auf diese Weise drückte sich die leiblich-affektive Rhythmisierung des Probenteams aus. (Vgl. dazu Tabelle am 25.1.2011, Spalte 7: Blanche-Darstellerin geriet im Szenenverlauf in Fahrt, während sie eigene Worte an den Rollentext anknüpfte; 3.2.2011, Spalte 4 unten: Blanche-Darstellerin knüpft an die Regieanweisung ein umgestaltetes Zitat aus ihrem Rollentext an und Robert Gallinowski artikuliert die Gefühlslage seiner Figur auf ähnliche Art; 9.2.2011, Spalte 4: der Regisseur und die Hauptdarstellerin knüpfen beim Kommentieren an den Rollentext Blanches dauernd in der Ich-Form, also als Blanche, an; 12.2.2011, Spalte 4: Auf der Kommentarebene vermischt die Blanche-Darstellerin absichtlich ihren Rollentext mit eigenen, spontanen Einfällen.) Aus diesen Schilderungen folgt, dass die Blanche-Darstellerin und der Regisseur jene zwei Probenmitglieder waren, deren individuelle emotionale Energie den gesamten Probenprozess gestalteten: Sie waren es meistens, die den Probenprozess mit ihren Kommentaren unterbrochen oder mit ihren persönlichen Texteinschüben bereichert haben. Jedoch hat das die Gruppensolidarität nicht geschwächt: Jeder Schauspieler äußerte sich zum Probenverlauf, seinem Rollentext etc. so oft, wie es der Rang seiner Rollenfigur im Probenverlauf erforderte.
Eine völlige Absage von Interviews seitens der Blanche-Darstellerin zum einen und solche detaillierten, an mehreren Probentagen gegebenen Interviews von Robert Gallinowski zum anderen bilden einen für sich sprechenden Nachweis des unterschiedlichen Schutzgrades von rituellen Symbolen der Künstler (also von Sätzen und Handlungen während ihrer sozialen Interaktionen). Für die Blanche-Darstellerin sind Proben »heilig, finden in einem geschütztem Raum statt und sind nur für die am Prozess Beteiligten nachvollziehbar«, wie sie es in ihrer schriftlichen Antwort auf meine Anfrage formuliert hat. Da die Proben für diese Schauspielerin »heilig sind«, hat sie folglich versucht, durch ihren Verzicht auf jegliche Kommunikation außerhalb des Probenraums die während der Proben gesprochenen Sätze, also die rituellen Symbole der Gruppe, vor dem Angriff von »Fremden« (mich als Probenforscherin) zu schützen. Solch ein hoher Schutzgrad von rituellen Symbolen bei dieser Schauspielerin erklärt sich einerseits durch ihre Ansichten bezüglich der Proben im Allgemeinen (sie sind für sie »heilig«). Zum anderen kann dieser durch ihre langjährige Zusammenarbeit mit dem Regisseur Thomas Langhoff und ihre aus dieser Arbeit hervorgegangenen, beiderseitig wertschätzenden interpersönlichen Beziehungen erklärt werden. Diese vertraulichen Beziehungen spiegelten sich in häufigen Interaktionen der beiden Künstler während des gesamten Probenprozesses wider. Gerade diese in den Interaktionen widergespiegelten vertraulichen Beziehungen mit dem Regisseur wollte die Schauspielerin unbedingt vor den Angriffen von »Fremden« schützen. Im Gegensatz dazu, hatte der Schauspieler Robert Gallinowski mit dem Regisseur Langhoff vorher nicht zusammengearbeitet. Er überließ Langhoff die Initiative in der Kommunikation zwischen ihnen, äußerte sich zu seiner Kunstfigur oder zum Szenenverlauf nur selten bzw. aus Notwendigkeit, etwas Grundsätzliches für sich (und für die anderen) abzuklären. In diesen Proben gab es für ihn nichts, was unter keinen Umständen an die Öffentlichkeit gelangen durfte. Die Proben waren für Robert Gallinowski nicht »heilig«. Ihm ging es zunächst einmal um die Lösung bühnentechnischer Fragen, dann um eine assoziative Annäherung an seine Figur und letztendlich um die Anpassung an den Bühnenpartner. Sein Schutzgrad von rituellen Symbolen der Gruppe war nicht so hoch wie der bei seiner Bühnenpartnerin, der Blanche-Darstellerin, deswegen ließ er sich für die vorliegende Studie vorbehaltlos interviewen.
Dritte Probensituation
Blanche vs. Stella, vierte Szene: »Der Kampf um Stella« (Eifersucht)
Textauszug aus der vierten Szene:
Früh am nächsten Morgen. Man hört einen Wirrwarr von Straßenlauten, der an Chorgesang erinnert.
Stella liegt noch im Schlafzimmer. Ihr Gesicht im Morgenlicht ist heiter. Eine Hand liegt auf ihrem Bauch, von der Schwangerschaft schon leicht gewölbt, in der herunterhängenden anderen baumelt ein buntes Comic-Heft. Ihre Augen und Lippen haben die fast narkotische Gelassenheit fernöstlicher Götzenbilder. Der Tisch ist voller Frühstücksreste und Überbleibsel der vergangenen Nacht, und auf der Schwelle zum Badezimmer liegtStanleys bunter Pyjama. Die Eingangstür steht nahezu offen, es ist ein strahlender Sommertag. In der Tür steht Blanche. Sie hat eine schlaflose Nacht hinter sich, und ihr Erscheinungsbild ist der reinste Kontrast zu Stella. Nervös presst sie die geballte Faust an den Mund und wirft erst einen Blick durch die Tür, bevor sie eintritt.
Blanche: »Stella?«
Stella (rührt sich träge): »Hmmm?«
(Blanche stößt einen klagenden Schrei aus und rennt ins Schlafzimmer, wo sie sich in einem Anfall von hysterischer Zärtlichkeit neben Stella aufs Bett wirft.)
Blanche: »Baby, meine kleine Schwester!«
Stella (weicht vor ihr zurück): »Blanche, was ist denn los mit dir?«
(Blanche erhebt sich langsam wieder, steht neben dem Bett und schaut auf ihre Schwester herab, die Faust an den Mund gepresst.)
Blanche: »Er ist weg?«
Stella: »Stan? Ja.«
Blanche: »Wie konntest du letzte Nacht zurückkommen? Und du hast auch noch mit ihm geschlafen!«
(Stella steht ruhig und gelassen auf.)
Stella: »Blanche, du machst viel zu viel Theater deswegen.«
Blanche: »Ach ja?«
Stella: »Ja, Blanche. Es war bei weitem nicht so ernst, wie du es, offenbar, nimmst. Er war sanft wie ein Lamm, als ich wieder bei ihm war, und er schämt sich wirklich sehr.«
Blanche: »Und damit – damit ist alles wieder gut?«
Stella: »Nein, es ist nie gut, wenn jemand sich so schrecklich benimmt, aber es kommt eben vor. Stanley hat schon immer was zerdeppert. In unserer Hochzeitsnacht zum Beispiel – kaum, dass wir hier reinkamen – zog er mir einen Schuh aus und zerdepperte im Handumdrehen die Glühbirnen damit.«
Blanche: »Er hat – was gemacht?«
Stella: »Mit dem Absatz von meinem Schuh hat er sämtliche Glühbirnen zerdeppert.« (Sie lacht.)
Blanche: »Und du – du hast ihn gelassen?«
Stella: »Ich war irgendwie – fasziniert.« (Sie hält einen Augenblick inne.)
Blanche: »Du behandelst das alles so sachlich, Stella?«
Stella: »Was soll ich denn sonst machen? Er hat das Radio zur Reparatur gebracht.«
Blanche: »Und du stehst da und lächelst!«
Stella: »Was willst du, was soll ich tun?«
Blanche: »Reiß dich zusammen und sieh den Tatsachen ins Auge.«
Stella: »Und die wären, deiner Meinung nach?«
Blanche: »Meiner Meinung nach? Du bist mit einem Irren verheiratet!«
Stella: »Nein!«
Blanche: »Doch, bist du, du steckst noch mehr in der Klemme als ich! Nur, dass du dir das nicht klar machst. Ich werde etwas unternehmen. Mich in den Griff kriegen und mir ein neues Leben aufbauen!«
Stella: »Ja?«
Blanche: »Aber du hast aufgegeben. Und das ist nicht richtig, du bist ja nicht alt! Du kannst noch raus.«
Stella: »Ich stecke nicht in irgendetwas, aus dem ich raus will.«
Blanche (ungläubig): »Was – Stella?«
Stella: »Ich habe gesagt, ich stecke nicht in irgendetwas, aus dem herauszukommen ich Sehnsucht hätte. Sieh dir dieses Chaos hier an! Es macht ihm nun mal Spaß, so wie mir Kino. Man muss sich in seinen Neigungen tolerieren.«
Blanche (Stella dreht sich zu ihr um): »Ist das chinesische Philosophie, was du da kultivierst?«
Stella: »Was?«
Blanche: »Als wenn nichts Besonderes passiert wäre!« (Stella lacht unbestimmt)
Blanche: »Wenn ich bloß einen klaren Gedanken fassen könnte! Wir müssen unbedingt zu Geld kommen, das ist der einzige Weg!«
Stella: »Ich denke mal, zu Geld zu kommen, ist immer gut.«
Blanche: »Ich glaube, ich habe eine Idee. Kannst du dich an Shep Huntleigh erinnern? (Stella schüttelt den Kopf.) Natürlich erinnerst du dich an ihn. Mit dem war ich doch auf dem College zusammen.«
Stella: »Und?«
Blanche: »Letzten Winter habe ich ihn wiedergetroffen. Ich war die Weihnachtsfeier über in Miami. Ja. Ich hab ihn getroffen – per Zufall, am Heiligabend, kurz bevor es dunkel wurde. Er wollte gerade in seinen Wagen steigen – Cadillac Cabrio; bestimmt so lang wie ein Häuserblock! Ihm gehören in ganz Texas die Ölquellen. Das Geld sprudelt ihm buchstäblich in die Tasche.«
Stella: »Nicht schlecht.«
Blanche: »Und er könnte es tun, er könnte es mit Sicherheit tun!«
Stella: »Was tun, Blanche?«
Blanche: »Ja, uns – ein Geschäft einrichten!«
Stella: »Was für ein Geschäft?«
Blanche: »Ach, ein – irgendein Geschäft! Das kostet ihn die Hälfte von dem, was seine Frau beim Pferderennen rausschmeißt.«
Stella: »Er ist verheiratet?«
Blanche: »Süße, wäre ich hier, wenn der Mann nicht verheiratet wäre? (Stella lacht ein bisschen. Plötzlich springt Blanche auf und geht zum Telefon. Mit schriller Stimme.) Telegrammaufnahme, bitte? – Vermittlung! Telegrammaufnahme!«
Stella: »Du sollst zuerst die Null wählen.«
Blanche (legt den Hörer auf): »Ach nein, ich muss zuerst den Text aufschreiben. ›Lieber Shep! Ich bitte …‹ Nein, mit Direktbitten erreicht man heute überhaupt nichts. Aber mir wird schon was einfallen. Mir muss was einfallen! Hier! (Sie klappt ihr Portemonnaie auf.) Fünfundsechzig mickrige Cent!«
Stella (geht zur Kommode): »Stanley gibt mir kein regelrechtes Haushaltsgeld, er zahlt die Rechnungen gern selber, aber heute Morgen hat er mir zwanzig Dollar gegeben, um die Wogen zu glätten. Du nimmst zehn, Blanche.«
Blanche: »Nein, danke – ich werde auf den Strich gehen!«
Stella: »Red keinen Unsinn! Wie kommt es, dass du so knapp bei der Kasse bist?«
Blanche: »Geld verschwindet einfach – es verschwindet unter der Hand. (Sie reibt sich die Stirn.) Stella, ich kann nicht mit ihm zusammenleben! Du schon, er ist dein Mann. Aber wie soll ich hier mit ihm wohnen, nach dem, was letzte Nacht passiert ist, nur mit diesem Vorhang zwischen uns?«
Stella: »Blanche, du hast ihn gestern von seiner schlimmsten Seite gesehen.«
Blanche: »Im Gegenteil! Ich habe ihn von seiner besten Seite gesehen! Was so ein Mann zu bieten hat, ist animalische Kraft, und davon hat er eine eindrucksvolle Vorstellung gegeben! Die einzige Möglichkeit, mit so einem Mann zusammenzuleben, ist – mit ihm zu schlafen – aber das ist dein Job, nicht meiner!«
Stella: »Ruh dich erstmal ein bisschen aus, dann stellst du fest, es wird schon alles werden. Und du brauchst dir überhaupt keine Sorgen zu machen, solange du hier bist. Ich meine – was Geld angeht.«
Blanche: »Ich muss für uns beide überlegen, damit wir beide – hier rauskommen!«
Stella: »Du nimmst an, ich stecke in etwas drin, aus dem ich raus will?«
Blanche: »Ich nehme einfach an, dass du dich noch gut genug an Belle Rêve erinnern kannst.«
Stella: »Da nimmst du entschieden zu viel an.«
Blanche: »Ich kann nicht glauben, dass du das ernst meinst.«
Stella: »Ich sag dazu überhaupt nichts mehr!«
Blanche: »Na schön, dann eben nicht!«
Stella: »Aber es kann etwas geschehen zwischen Mann und Frau im Dunkeln – demgegenüber erscheint alles andere – unwichtig.« (Pause)
Blanche: »Was du meinst, ist animalisches Verlangen einfach – brutales Begehren, Sehnsucht – wie der Name der Endstation dieser alten Klapperkiste.«
Stella: »Findest du nicht, dass dein überlegenes Auftreten ein bisschen fehl am Platz ist?«
Blanche: »Ich bin und fühle mich nicht überlegen, Stella. Es ist nur so. So sehe ich es jedenfalls. Mit einem solchen Mann kann man mal ausgehen – einmal – zweimal – wenn einen der Teufel reitet, vielleicht dreimal. Aber mit ihm leben? Ein Kind von ihm haben?«
Stella: »Ich hab dir gesagt, ich liebe ihn.«
Blanche: »Dann zittere ich um dich! Ich zittere einfach um dich!«
Stella: »Dann zittere eben, wenn du unbedingt zittern musst! […]«73
10.1.2011, 6. Probentag, Diskussion, BE-Probebühne
Blanche-Darstellerin: »Wenn zwei Frauen zusammen sind, da kommt für diese Zeit ihr altes Leben, ihre alte Welt zurück. Von Anfang an ist zwischen zwei Schwestern die Freude, zusammen zu sein.«
Langhoff: »Der Konflikt zwischen den Schwestern ist aber fast gleich da. Sie haben zwei verschiedene Lebenswege gewählt.«
Mauer: »Dieses Konstrukt ›Du hast mich immer so gut bedient‹, ›Ich habe dich so gut bedient‹ – darüber muss man noch nachdenken.«
Gallinowski (spricht für Stella): »Ich habe das geschafft, was du im Leben noch nie hattest: Ich habe einen Mann, der einen Job hat, eine Familie, bald ein Kind.«
Langhoff: »Das sind Brüche zwischen den Schwestern.«74
19.1.2011, 11. Probentag, Diskussion nach der Probe, BE-Probebühne
Langhoff: »Es rührt ja wirklich an ihre Moralbegriffe.«
Blanche-Darstellerin: »Ich finde es total langweilig, wenn ich nur eine hysterische Frau spiele. Es muss ja etwas passieren zwischen den beiden.«
Langhoff: »Ja, sicher.« (an Anika Mauer) »Ein gewisses Schamgefühl ist ja da. (Wenn sie über ›zu viel Theater‹ spricht.) Und tjaa … es ist ein schwaches Argument von Stella: Einer geht mal ins Kino, der andere haut gerne seine Frau. Du willst dieses Gespräch nicht. Du gehst immer weg, und sie geht dir hinterher.«
Blanche-Darstellerin: »Ich habe eine Theorie über Blanche entwickelt, nämlich, dass sie immer Futter zum Theaterspiel hat, immer auf Gewalt panisch reagiert und dass sie schon mal mit einigen Männern zu ihnen nach Hause gegangen ist, weil sie nirgendwo übernachten konnte und mit sich bezahlen musste. […] Ich möchte, dass Blanche sie ein bisschen in die Vergangenheit zieht und dass sie es beinahe schafft, und da plötzlich erscheint er wieder. Da ist wieder alles verloren.«
Langhoff (an Blanche-Darstellerin): »Ja, meine Schwester, du machst einen Schritt zurück.«
Blanche-Darstellerin: »Blanche redet indirekt auch von ihrer eigenen Not.«
Der Regisseur und die Schauspieler pflegen ein überaus vertrauensvolles Verhältnis. Jeder drückt seine Meinung offen aus, fast immer ist der Regisseur einverstanden. Er vertieft sich zwar gleich in seine Überlegungen, aber meistens stimmt er allen Darstellern zu. Die Blanche-Darstellerin kann z. B. durchaus die Szene unterbrechen und sich zu etwas äußern. Mit geradezu hundertprozentiger Sicherheit wäre der Regisseur mit ihr einverstanden (»Ja, absolut! », »Aber natürlich!« usw.)75
20.1.2011, 12. Probentag, Diskussion, Bühnenprobe, BE-Probebühne
Diskussion über die vierte Szene:
Langhoff: »Ich möchte euch jetzt erzählen, was ich über diese Szene denke. Das ist eine Entscheidungsszene. Das ist ein Kampf um Stella. Blanche ist keine moralisierende Tante. Das, was sie Stella vermitteln will, ist: ›Das ist ein Urmensch. Und du machst einen Schritt zurück zur Urwelt. Du kannst machen, was du willst, aber wozu wurde denn all die Kultur geschaffen? Du liegst mit Mickey-Mouse-Comics im Bett!‹ Und Stanley hört diesem Kampf zu. Blanche ist ein Phantasiewesen. Über Stella. Sie war DuBois, wurde Kowalski – wird also immer schwächer. (an Blanche-Darstellerin) X, du bist überhaupt nicht zickig.«
Blanche-Darstellerin: »Ich glaube, sie hat die ganze Nacht überhaupt nicht geschlafen, und jetzt denkt sie: ›Was soll ich jetzt mit diesem Mann hier überhaupt anfangen?‹«
Langhoff: »Es soll ein Comic-Heft sein, nicht ein Comic-Buch.«
(Blanche-Darstellerin und Anika Mauer besprechen das vertraulich auf der Bühne.)
Langhoff: »X, du machst dir Sorgen um ihr Kind.«
Blanche-Darstellerin: »Ja, ich mache mir Sorgen um sie, darum, wie es ihr körperlich geht.«
Langhoff: »Du vernichtest die Fortschritte der Menschheit, meine junge Schwester! Der entscheidende Kampf um sie beginnt.«
Blanche-Darstellerin (unterbricht Langhoff): »Und es steht 1:0. Du bist ja ein ordinäres Flittchen geworden!« (Die Anwesenden lächeln.)
Langhoff (an Anika Mauer): »Bleib aber etwas länger im Bett. (an alle) Es ist immer Gewinn und Verlust. Alles im Leben hat Gewinn und Verlust. (Langhoff geht auf die Bühne. Wieder an Anika Mauer) Hier im Bett hat er sich wie ein Lamm benommen. Und er hat sogar das Radio zur Reparatur gebracht! Also du übertreibst ein bisschen.«
Im Probenverlauf:
Blanche-Darstellerin: »Ich habe die ganze Nacht gar nicht geschlafen, bin hierher gekommen. Und dir ist natürlich egal, wie es mir geht. Dass geschlagen zu werden als etwas Normales genommen wird, weil die Versöhnung dann so schön ist – das will sie ihr erklären, dass es unmöglich ist.«
Langhoff: »Ja, richtig, gut. Mein armes, vergewaltigtes Schwesterchen. (an Anika Mauer) Eigentlich versteht sie, dass sie schon in der Klemme ist. (an Blanche-Darstellerin) Wir sollen uns männerunabhängig unterhalten. Lieber kein Mann als Kowalski! (an Anika Mauer) Blanche, du siehst immer alles in größeren Dimensionen. (allgemein) Diese Schlüsselszene ist von innen zu finden, nicht von außen. (an Anika Mauer) Das Buddhistische kommt ein bisschen rüber. (an Blanche-Darstellerin) Jetzt merkst du, sie hat es freiwillig gemacht. (an Requisiteure) Es ist völlig richtig, dass das Bett in der Mitte steht, denn es geht schließlich darum. Aber wozu denn diese Dinge da? [gemeint waren die ›Windmaschinen‹] (an Blanche-Darstellerin) Von nun an müssen wir von hier abhauen. Ich muss sie jetzt davon rausziehen. Das ist meine Verantwortung als ältere Schwester. (an den Darsteller des jungen Kassierers) Es wäre schön, wenn L. hier etwas Schönes spielte. ›Good morning, New Orleans!‹ (an Blanche-Darstellerin) X, ich glaube, du sollst eine Erkenntnis spielen.«
Blanche-Darstellerin (als Blanche an Stella): »Nein, du liebst ihn nicht, das ist ein rein animalisches Begehren, das hat – um Gottes Willen – nichts mit der Liebe zu tun. Du bist gestern zusammengeschlagen worden! Entschuldigung, dass ich mich um dich kümmere!«
Langhoff: »Und ich übernehme die Verantwortung der älteren Schwester und helfe dir. Ich komme schon raus.«
Blanche-Darstellerin (an Anika Mauer): »Bist du jetzt irrsinnig? Kriegst du noch irgend etwas mit? Wie oft passiert das?«
Mauer: »Na, so ein Mal im Jahr.«
Blanche-Darstellerin: »Was?! Von wegen – ein Mal im Jahr! Das muss bestimmt viel öfter passiert sein!«
Langhoff (wohl an Anika Mauer): »Das ist chinesische Philosophie, Yin und Yang, alles ist in Bewegung. Da ist alles in Ordnung.«
Blanche-Darstellerin (über Blanche): »Aber das ist doch etwas von ihrem Charakter. Sie meint: ›Ich finde es echt schade, wenn Shep Huntleigh weg ist.‹ Sie meint immer alles über Umwege. Das Schlimmste für sie ist, dass sie diese Nacht mit diesem gewalttätigen Mann unter einem Dach verbracht hat.«
Langhoff (an Blanche-Darstellerin): »Sie versteht, dass es ein Macho-Standpunkt ist, wenn Stella über Mann und Frau im Dunkeln spricht. Der Kern deiner Rede ist: ›Man kann mit ihm ein, zwei, drei Mal im Leben ausgehen, aber mit ihm leben?!‹ (an Anika Mauer) Ja, er ist ordinär, manchmal, aber ein sehr amerikanischer, sehr bewusster Bürger.«
Nach der Probenpause:
Blanche-Darstellerin: »Wenn ich in einer Klemme stecke, steckst du noch mehr in der Klemme als ich!« (setzt sich auf die Bettkante.)
Langhoff (über Stella): »Natürlich ist sie innerlich aufgeregt, obwohl sie es äußerlich nicht zeigt.«
(Blanche-Darstellerin greift die Handtasche und läuft damit auf und ab. Anika Mauer zündet eine Zigarette an.)
Langhoff: »Jetzt ist ein wichtiger Moment der Szene: Ein völlig vernichtendes Wort ist gefallen – ›ordinär‹.«76
21.1.2011, 13. Probentag, Bühnenprobe, BE-Probebühne
Während der Bühnenprobe:
Langhoff (an Blanche-Darstellerin und Anika Mauer): »Du hast doch mit ihm geschlafen! (Während Stella sagt: ›Blanche, was ist das für ein Theater?‹) Vielleicht sucht sie dabei ihren Slip. (für Stella) Es ist vielleicht nicht so ernst, wie du es nimmst.«
Langhoff (wenn Blanche voller Verachtung vor Stanleys und Stellas Ehebett geht): »Ach, ihr Schweine!« (an Blanche-Darstellerin und Anika Mauer) »Das Opfer sitzt da und lächelt!«
Mauer: »Welches Chaos meint sie denn – die Schlägerei oder den Pokerabend?«
Langhoff: »Das ist der Pokerabend.«
Blanche-Darstellerin: »Stella steckt ihr den Fünf-Dollar-Schein in die Tasche. Dann prüfe ich im Original nach – nichts desgleichen!«
[…]
Langhoff: »Und du leb dann weiter mit deinem Zuhälter!«
Blanche-Darstellerin: »Wie komme ich an ›ordinär‹ ran?« (Wenn sie sagt »Entschuldigung, aber er ist ordinär!«)
Langhoff (als Stella wie ein aufgeschrecktes, gejagtes Tier auf dem Sessel sitzt und in diesen verkriecht, mit gedämpfter Stimme sprechend): »Da beginnt sie endlich mal langsam in sich hineinzuhören, als plötzlich – steht er wieder da: ›Hallo, Stella!‹ Und jetzt ist sie verloren.«77
22.1.2011, 14. Probentag, Bühnenprobe, BE-Probebühne
Übergang von der vierten zur fünften Szene:
Die Blanche-Darstellerin schlägt vor, den Satz »Das müssen wir uns auf unsere Fahne schreiben!« auf Französisch zu sagen.
»Dann zittere, wenn du zittern musst!«, sagt Anika Mauer zornig.
Blanche-Darstellerin: »Ich will nicht die ganze Zeit nur ihr ins Gesicht sprechen. ›Poesie, Musik‹ sage ich doch in den Saal.«78
5.2.2011, 26. Probentag, Bühnenprobe, BE-Probebühne
Langhoff (an Anika Mauer): »Das ist ein absolut guter Macho-Typ.« (an Blanche-Darstellerin) »Das alles darf nicht kleinbürgerlich sein, eher großbürgerlich. Sie versteht nicht, wieso eine DuBois diesen Polen geheiratet hat.«
Blanche-Darstellerin (als Blanche an Stella): »Du bist richtig ordinär, nachlässig geworden, lässt dich gehen! Und das alles hier ist widerlich.«79
9.2.2011, 29. Probentag, Bühnenprobe, BE-Hauptbühne
Nach Stellas Phrase »Er hat in unserer Hochzeitsnacht alle Glühbirnen mit dem Absatz von meinem Schuh zerdeppert«:
Langhoff (für Blanche): »Ich bin entsetzt. Ich bin eine DuBois. Ich hätte es nicht ausgehalten. Du bist aber keine DuBois.«
Blanche-Darstellerin (als Blanche an Stella): »Und du lächelst!« (ahmt nach, wie die vor Glück betäubte Stella es machen würde) Er hätte dich gestern vor fünf Leuten fast zu Tode geschlagen! Und du drückst ein Auge zu?!«
Blanche-Darstellerin: »Ich würde lieber sagen: ›Ich gehe lieber auf den Strich.‹«
Langhoff: »Mir scheint es besser zu klingen, wie es im Original ist. Es ist vielleicht irrationaler als ›Ich gehe lieber auf den Strich.‹ ›Ich werde auf den Strich gehen‹ ist zu rational.«
[…]
Langhoff: »Aber diese Frau hat reiche Bilder, sie unterrichtet doch die englische Literatur. Sie ist in der Geschichte drin.«
[…]
Blanche-Darstellerin (als Blanche an Stella): »Du benimmst dich wie ein vierzehnjähriges Mädchen, das zum ersten Mal Sex hat. Du lebst doch mit einem Schläger!«
[…]80
16.2.2011, 35. Probentag, Bühnenprobe, BE-Hauptbühne
Blanche-Darstellerin (an Anika Mauer): »Wenn unsere Eltern dich so sehen würden, dann wären sie noch schneller … Ich glaube, das ist nicht ihre [Stellas] Wahl. Deswegen hat sie diese Argumentation, denn sie hat nichts mehr zu sagen. Da steckt noch was drin.«
Mauer: »Das ist nicht ihr Haushaltsgeld, das ist ihr Geld. Sie sagt doch ›um die Wogen zu glätten‹.«
Blanche-Darstellerin: »Ja, so oft kann er sie doch nicht schlagen, sonst wäre er schon arm, denn sonst müsste er ihr doch nach jeder seiner Schlägereien Geld geben. (zu ›Ich kann nicht glauben, dass du das ernst meinst.‹)Das ist ja nur eine erotische Neigung, ist ja keine Beziehung.«
(Es wird entschieden, dass Stanley ihr statt eines Zehn-Dollar-Scheins einen Zwanzig-Dollar-Schein gibt.)
Blanche-Darstellerin (über Blanche): »Sie weiß genau, was sie sagt. Das ist eine Spitze. ›Nein, ich gehe auf den Strich‹ heißt ›Ich verdiene Mein Geld selber‹. Ich muss dann nicht schlau werden wie du, wie man das Geld von ihm kriegt.«81
28.2.2011, 45. Probentag, Bühnenprobe, BE-Hauptbühne
Langhoff (steigt auf die Bühne zu den Schauspielern, an Blanche-Darstellerin): »X, nicht so schnell denken bei deinem Monolog. Ich lese einen französischen Roman vor dem Einschlafen und meine Schwester (!) liest ›Asterix und Obelix‹!«
Die Blanche-Darstellerin (als Blanche) schüttelt dabei den Kopf und dreht die Augen.
Mauer (ist einverstanden): »Tja, ist lustig.«82
Die Solidarität der Gruppe über die inneren psychologisch-emotionalen Vorgänge der Kunstfiguren dieser Szene war bereits während der ersten Diskussion der Künstler über diese Szene zu beobachten und zwar lange vor der ersten Bühnenprobe, die neun Tage später stattfand. (Vgl. dazu Tabelle am 10.1.2011, Spalte 4: Alle drei Hauptdarsteller und der Regisseur äußern sich zur Szene.) Die größte emotionale Energie strahlten der Regisseur Thomas Langhoff und die Blanche-Darstellerin aus, denn sie waren es, die sich zu den Gefühlslagen und Beziehungen der beiden Schwestern im Laufe des gesamten Probenprozesses am häufigsten äußerten. Bereits bei der zweiten Bühnenprobe dieser Szene am 20.1.2011 hat sie der Regisseur als »Entscheidungsszene« bestimmt und als »Kampf um Stella« benannt, was lebhafte Interaktionen der Künstler an jenem und folgenden Probentagen hervorrief. Ausgerechnet während jener offenen, andauernden und emotionalen Diskussionen war die leiblich-affektive Rhythmisierung bemerkbar. Die Rhythmisierung könnte im Falle dieser Szene jedoch eher als eine nur affektive bezeichnet werden, weil die Schauspielerinnen körperlich nicht simultan handelten, sondern nur emotional und gefühlsvoll ihre Äußerungen an die Kommentare und Anweisungen des Regisseurs anknüpften. Gerade darin war eine bestimmte Rhythmisierung erkennbar.
Bereits an dem Probentag, als die allererste Diskussion stattfand und sich jeder der drei Hauptdarsteller inklusive Regisseur zur Szene äußerte, zeichnete sich ein fester innerer Zusammenhalt der Gruppe zu den darzustellenden psychologischen Problemen des Stücks. Dieser innere Zusammenhalt, diese Kohäsion und Solidarität der Gruppe blieben bis zum letzten Probentag hindurch beibehalten oder haben sich im Laufe der Proben sogar intensiviert (wie aus zahlreichen Diskussionen ersichtlich ist). So markiert das Zusammenbringen der Szene »Der Kampf um Stella« eine wirklich große kollektive Efferveszenz. Und das sogar ungeachtet der im Stück vorhandenen Probleme, der mit diesen Problemen verbundenen Diskussionen der Künstler und der negativen Emotion Eifersucht, die die Hauptfigur zu ihrer Schwester Stella empfindet.
SCHAUBÜHNE AM LEHNINER PLATZ
Erste Probensituation
»Viel, fast beständig sah Aschenbach den Knaben Tadzio […]« (Liebe) »Viel, fast beständig sah Aschenbach den Knaben Tadzio. Er sah, er traf ihn überall: in den unteren Räumen des Hotels, auf den kühlenden Wasserfahrten zur Stadt und von dort zurück, im Gepränge des Platzes selbst und oft noch zwischenein auf Wegen und Stegen, wenn der Zufall ein Übriges tat. Hauptsächlich aber und mit der glücklichsten Regelmäßigkeit bot ihm der Vormittag am Strande ausgedehnte Gelegenheit, der holden Erscheinung Andacht und Studium zu widmen. Ja, diese Gebundenheit des Glücks, diese täglich gleichmäßig wieder anbrechende Gunst der Umstände war es so recht, was ihn mit Zufriedenheit und Lebensfreude erfüllte, was ihm den Aufenthalt teuer machte und seinen Sonnentag so gefällig hinhaltend sich an den anderen reihen ließ. Er war früh auf, wie sonst wohl bei pochendem Arbeitsdrange, und vor den Meisten am Strand, wenn die Sonne noch milde war und das Meer weiß blendend in Morgenträumen lag. Drei Stunden oder vier waren dann sein, in denen die Sonne zur Höhe stieg und furchtbare Macht gewann, in denen das Meer tiefer und tiefer blaute und in denen er Tadzio sehen durfte.
Er sah ihn kommen, von links, am Rande des Meeres daher, sah ihn von rückwärts zwischen den Hütten hervortreten oder fand auch wohl plötzlich, und nicht ohne ein frohes Erschrecken, daß er sein Kommen versäumen und daß er schon da war, schon in dem blau und weißen Badeanzug, der jetzt am Strand seine einzige Kleidung war, sein gewohntes Treiben in Sonne und Sand wieder aufgenommen hatte, – dies lieblich nichtige, müßig unstete Leben, das Spiel war und Ruhe, ein Schlendern, Waten, Graben, Haschen, Lagern und Schwimmen, bewacht, berufen von den Frauen, die mit Kopfstimmen seinen Namen ertönen ließen: ›Tadziu! Tadziu!‹ und zu denen er mit eifrigem Gebärdenspiel gelaufen kam, ihnen zu zeigen, was er gefunden. Aschenbach verstand nicht ein Wort von dem, was er sagte, und mochte es das Alltäglichste sein, es war verschwommener Wohllaut in seinem Ohr. So erhob Fremdheit des Knaben Rede zur Musik, eine übermütige Sonne goß verschwenderischen Glanz über ihn aus, und die erhabene Tiefsicht des Meeres war immer seiner Erscheinung Folie und Hintergrund.«83
2.10.2012, 2. Probentag, Bühnenprobe, Ballhaus Rixdorf
Erster Probenversuch:
Schulze: »[…] seiner Erscheinung Folie und Hintergrund.«
Der Kellner öffnet den Wein und schenkt ein. Die Schwestern und die Gouvernante treten ohne Tadzio auf und setzen sich an den Tisch. Eine Weile später kommt Tadzio die Treppe herunter und schließt sich ruhig der Familie an.
Ostermeier (an Sabine Hollweck): »Sabine, verzeih ihm das. Die Schwestern machen schu-schu. Ok, dann probieren wir die Variante, wenn alle zusammenkommen. So tief protestantisch sind sie, fast klösterlich.«
Zweiter Probenversuch:
Schulze: »[…] seiner Erscheinung Folie und Hintergrund.« Auftritt der ganzen Familie mit Tadzio.
Ostermeier: »Aber jetzt finde ich, dass es besser ist, wenn sie getrennt kommen. Da ist mehr Spannung. (an Max Ostermann) Was denkst du?«
Ostermann: »Ja, denn Aschenbach sieht sich um: ›Wo ist er denn?‹«
Ostermeier (an den Pianisten Timo Kreuser): »Versuch’s bitte dann nicht mehr so dramatisch.«
Bierbichler: »Weniger Melancholie.«
Ostermeier: »Nimm mal so – dramatisch hoch.«
Blickkontakt Aschenbach – Tadzio in Großaufnahme.84
4.10.2012, 3. Probentag, Bühnenprobe, Ballhaus Rixdorf
Erster Probenversuch:
Auftritt Familie. Zuerst tritt die Gouvernante, dann Tadzio und nach ihm die drei Schwestern auf.
Schulze: »[…] seiner Erscheinung Folie und Hintergrund.«
Bierbichler (am servierten Tisch ungeduldig auf Tadzio wartend): »Logischer ist, dass du [Tadzio] nach ihnen [der Familie] kommst.«
Ostermeier: »Machen wir noch einmal den ganzen Auftritt. Martina, wenn Felix eingeschenkt hat, dann trittst du auf.«
Zweiter Probenversuch:
Der Kellner schenkt Wein ein. Auftritt Familie ohne Tadzio. Aschenbach sieht ihrem Auftritt zu. Großaufnahme seines Gesichtes und dessen Ausstrahlung auf den Bildschirm.
Der Kellner bringt der Gouvernante die Speisekarte.
Bierbichler: »Zuerst kommt die Suppe.«
Der Kellner spricht mit der Familie, Tadzio erscheint auf der Treppe und steigt diese hinunter.
Ostermeier: »Max, du guckst.« (an Bierbichler) »Senkst du den Blick zuerst?«
Bierbichler: »Ja.«
Ostermeier (an Max Ostermann): »Erst wenn er den Blick senkt, schaust du ihn noch eine kurze Weile an und dann gehst du. Also ein bisschen warten.«
Bierbichler: »Genießen.« (lächelt)
Ostermeier (an Max Ostermann): »Dich fasziniert, dass du auf ihn so eine Wirkung hast. Das macht dir Spaß.«85
5.10.2012, 4. Probentag, Bühnenprobe, Ballhaus Rixdorf
Erster Probenversuch:
Familienauftritt ohne Tadzio. Aschenbach wartet auf Tadzios Erscheinung. Der Kellner verteilt die Speisekarten unter den Schwestern und der Gouvernante und geht ab. Aschenbach isst die Suppe und blickt jedes Mal auf die Treppe in Erwartung Tadzios. Klang: hohe Klaviertöne, Geräusche, die fließendem Wasser ähneln. Tadzio erscheint lächelnd, hält kurz an und läuft zur Familie. Aschenbach senkt den Blick.
Ostermeier: »Jetzt müssen wir für euch [die Familie] die Situation am Tisch ausdenken.«
Auf dem Bildschirm erscheint zuerst Tadzios Blick, dann Aschenbach in Großaufnahme.
Bierbichler: »Er lächelt nach meinem Blick.«
Zweiter Probenversuch:
Video: Aschenbach löffelt die Suppe und sieht gespannt auf die Treppe, ob Tadzio kommt. Nach seinem vierten Löffel kommt Tadzio und hält auf der Treppe. Kamerawechsel. Blick Tadzio – Aschenbach. Aschenbach senkt den Blick. Kamerawechsel. Tadzio lächelt schadenfroh und läuft zum Familientisch.
Tadzio setzt sich an den Tisch.
Ostermeier (an Max Ostermann, wenn er schon am Tisch sitzt und auf dem Bildschirm gezeigt wird): »Das Gesicht, bitte, in beide Hände nehmen.«
Beim nächsten Versuch wird alles genauso wiederholt, aber ohne Unterbrechungen und Kommentare dazwischen.86
6.10.2012, 5. Probentag, Bühnenprobe, Ballhaus Rixdorf
Die Gouvernante bestellt das Essen beim Kellner. Der Kellner geht ab. Klangeinsatz – Geräusche, die fließendem Wasser ähneln.
Ostermeier (an Timo Kreuser): »Da ist diese Spannung, Erregung von ihm.«
Bierbichler: »Erster Löffel.« (Nimmt den ersten Löffel Suppe in den Mund.) »Zweiter Löffel.« (Nimmt den zweiten Suppenlöffel in den Mund.) Auf der Treppe erscheint Tadzio, erstarrt, blickt auf Aschenbach. Kamerawechsel auf Aschenbach. Er senkt den Blick. Kamerawechsel auf Tadzio. Er lächelt boshaft und läuft zur Familie. Der Kellner schiebt ihm den Stuhl heran. Klangeinsatz. Übergang zur nächsten Sequenz.87
8.10.2012, 6. Probentag, Bühnenprobe, Ballhaus Rixdorf
Bierbichler: »Wann wird die Kamera eingeschaltet? Ist es vom Text abhängig?«
Kameramann: »Nein. Wenn die Kamera feststeht.«
Ostermeier: »Nee, Moment, Moment. Kamera kommt, bevor der Text kommt.«
Bierbichler: »Lass Kay den ganzen Text lesen.«
Bei »täglich gleichmäßig« filmt die Kamera den Kellner, der auf dem Tisch das Besteck serviert. Kurz darauf setzt sich Aschenbach an den Tisch. Kamerawechsel auf Aschenbachs Tisch. Aschenbach bittet, ihm die Speisekarte zu bringen. Der Kellner geht ab. Bei der Phrase des Erzählers »Tadziu! Tadziu« treten die Schwestern und die Gouvernante auf. Gleich bringt ihnen der Kellner die Speisekarte. Aschenbach sitzt an seinem Tisch und wartet auf Tadzios Erscheinen.88
9.10.2012, 7. Probentag, Bühnenprobe, Ballhaus Rixdorf
Bierbichler: »Aber wenn die Kamera vor mir steht, dann steht sie auf meiner Achse. Ich gehe doch zur Treppe. Assoziativ ist es schlimm, dass er [der Kameramann] da vor mir steht. Ich muss doch später aufstehen.«
Ostermeier: »Aber er geht später ab.«
Bierbichler: »Kommt zuerst Wein und dann Suppe? Braucht man überhaupt eine Speisekarte?«
Ostermeier: »Ja, können wir machen.«
Bierbichler: »Aber ich muss auch gucken, dass ich rechtzeitig zu löffeln beginne.«
Ostermeier: »Du hast Zeit. Zuerst kommt der Wein, dann die Suppe.«
Erster Probenversuch:
Bei »viel, fast beständig« wird Aschenbach in Großaufnahme auf den Bildschirm projiziert. Aschenbach wartet ungeduldig auf Tadzios Auftritt.
Bierbichler (an Felix Römer): »Ich werde es jetzt nicht auf meine Persönlichkeit übertragen oder deine österreichische Schwanenseele89 zurückführen, aber zuerst werden die Gäste bedient, die gerade eine Bestellung gemacht haben, und nicht der Nachbartisch gedeckt, der leer ist.« (leises Gelächter)
Römer (schweigt zuerst): »Ja.«
Ostermeier: »Ok, machen wir es noch einmal.«
Zweiter Probenversuch:
Beim zweiten Versuch stimmt das Timing wieder nicht. Alle sitzen still und ratlos, auch Ostermeier.
Ostermeier: »Gibt es Vorschläge für den weiteren Vorgang?«
Ostermeier fragt Römer aus, wie er den Tisch deckt bzw. klärt ab, warum das Timing nicht stimmt.
Römer: »Ich mache zwei Runden: Messer – Gabel.«
Ostermeier: »Wir machen jetzt eine Runde weg.«
Dritter Probenversuch:
Bei »viel, fast beständig« tritt der Kellner mit der Karaffe auf und schenkt Wasser ein. Er geht ab und bringt dann die Suppe für Aschenbach. Gespannte Klaviermusik. Der Kellner bringt das Tablett mit Gläsern und Servietten. Während der Kellner die Stühle richtet, tritt die Familie auf. Kamerawechsel auf Aschenbach. Die Familie bestellt die Speisekarte. Aschenbach löffelt die Suppe, nach jedem Löffel auf die Treppe blickend. Tadzio erscheint. Aschenbachs Gesicht erstarrt, sein Mund ist halb geöffnet, er starrt und lächelt Tadzio an. – Kamerawechsel. Tadzio blickt auf Aschenbach. Kamerawechsel auf Aschenbach, der den Blick senkt. Kamerawechsel auf Tadzio, der triumphierend lächelt. Unterbrechung.
Vierter Probenversuch:
Bierbichler: »Mit Leon [Klose, 2. Besetzung von Tadzio] bin ich verabredet, dass ich den dritten Löffel mache, dann tritt er auf.«
Der Erzähler liest entweder zu schnell oder zu langsam. Bei »Folie und Hintergrund« tritt Tadzio auf. Kamerablende auf Tadzio. Blickaustausch zwischen Aschenbach und Tadzio.90
10.10.2012, 8. Probentag, Bühnenprobe, Ballhaus Rixdorf
Bei »viel, fast beständig« tritt der Kellner auf und schenkt Aschenbach Wein ein. Der Kameramann befestigt die Kamera vor Aschenbach. Der Kellner bringt Aschenbach die Suppe, dann richtet er die Gläser am anderen Tisch, danach die Stühle. Die Familie tritt auf. Der Kellner rutscht der Gouvernante den Stuhl heran. Nach »Folie und Hintergrund« ertönt der Klang. Es entsteht eine Pause. Alle sehen einander an. Ein anderer Klang ertönt. Kamerawechsel auf Aschenbach. Er löffelt dreimal. Nach dem dritten Löffel erscheint Tadzio auf der Treppe. Großaufnahme Aschenbach: Er sieht Tadzio eine Weile an, lächelt ihm dabei zu und senkt verwirrt den Blick. Kamerawechsel auf Tadzio: Er lächelt triumphierend und läuft zum Tisch, wo seine Familie auf ihn wartet.
Ostermeier (an Leon Klose): »In Großaufnahme guckst du ihn mit Verwunderung an.«91
11.10.2012, 9. Probentag, Bühnenprobe, Ballhaus Rixdorf
Bei »viel, fast beständig« tritt der Kellner mit dem Tablett auf und stellt Gläser auf Aschenbachs Tisch. Dann bringt er Wein in einer Karaffe für Aschenbach. Danach bringt der Kellner Gläser und stellt sie auf den anderen Tisch. Kamerablende auf den Esstisch, während dort die Hand des Kellners das Besteck auflegt. Für das weitere Vorgehen siehe meine Beschreibung vom 10.10.2012.92
12.10.2012, 10. Probentag, Bühnenprobe, Ballhaus Rixdorf
Erster Probenversuch:
Aschenbach geht zu seinem Tisch. Familienauftritt. Der Kellner bringt die Gläser und geht ab.
Ostermeier: »Jetzt bringst du die Suppe, Felix.«
Der Kellner bringt Aschenbach die Suppe.
Ostermeier: »Du bringst ihm die Suppe und nimmst die Bestellung, ok?«
Bierbichler: »Was wolltest du denn machen?«
Ostermeier: »Ich wollte, dass du dich erst rübersetzt, wenn sie kommen. Denn du siehst: ›Aha, sie sind da‹ und gehst hin.«
Bierbichler: »Also logisch ist, dass ich erst nach deren Auftritt zum Tisch gehe. Und mir wird’s gleich serviert. (nachdenklich) Also Vollpension. (Gelächter) Ok, dann machen wir das mal so. Was ist jetzt nun? Tadzios Auftritt?«
Ostermeier: »Ja.«
Tadzio kommt nach dem dritten Löffel.
Bierbichler: »Äh, du kommst erst nach dem fünften Löffel. Wir haben es jetzt anders gemacht.«
Zweiter Probenversuch:
Bierbichler zählt die Löffel laut und biegt dabei die Finger. Tadzio läuft auf die Treppe und bleibt dort stehen.
Ostermeier (an Max Ostermann): »Max, Lächeln anhalten. (an die Darstellerinnen) Und gleich viel Gespräch am Tisch. (an Max Ostermann) Max, die Mädchen ignorieren.«
Ostermann: »Ignorieren?«
Ostermeier: »Ja, nur so sitzen.«
Kamerawechsel auf Tadzio. Tadzio stützt das Kinn mit der Hand. Inzwischen bringt der Kellner die Melone für Aschenbach.
Ostermeier: »Achtung, Max, hier kommt die Melone. Der Biss.«
Großaufnahme: Tadzio hält den Blick auf Aschenbach an. Gleich Kamerablende.
Ostermeier: »Ab und zu lächeln, Max. Du merkst, dass er dich anschaut und das macht dir Spaß. Ab da hast du eine Macht über ihn und das macht dir Spaß. Zum ersten Mal hast du Macht über einen Erwachsenen. Das ist ein Geheimnis, deine Schwestern wissen das alles nicht.«
Bierbichler muss die Probe verlassen, weil er ansonsten einen Flug verpasst.93
1.11.2012, 11. Probentag, Bühnenprobe, Hauptbühne, Théâtre National de Bretagne, Rennes, Frankreich
Zwei Kameraleute fahren die Kamera und stellen sie vor Aschenbach.
Bierbichler: »Es war so: Ich stehe auf und die Kamera verschwindet.«
Ostermeier: »Ja, so wär’ s besser. Wir haben dem ganzen Schnitt solch eine Logik gegeben.«
(bei »Folie und Hintergrund«) »Und zusammen warten – wollte sagen auf Godot – aber auf Tadzio.«
»Entschuldigung, aber ich muss wieder unterbrechen. Es wurde gebetet, als gesagt wurde, dass in San Marco gebetet wird.«
»Da ist es! Warum wartet ihr auf den Text mit der Ansage? (an Benjamin Krieg) Bitte die Achsen rausfahren, damit die wichtigen Blicke zu sehen sind.«
»›Über den Betpult gebeugt‹ – und als sie dabei gebetet haben, war es so schön gewesen. Und ich möchte es zurückbekommen.«94
2.11.2012, 12. Probentag, Bühnenprobe, Hauptbühne, Théâtre National de Bretagne, Rennes
Erster Probenversuch:
Zwei Kameraleute treten auf und befestigen die Kamera vor Aschenbachs Tisch. Bei »viel, fast beständig« erfolgt die Großaufnahme von Aschenbach. Bei »Studium zu widmen« tritt Tadzio auf, Aschenbach erstarrt an seinem Tisch und sieht ihn dauernd an.
Ostermeier: »Girls, Jaschu wird nach Tadzio schreien. This is a friend from the beach. Das wird später Mikel [Aristegui] sein. (an Josef Bierbichler) Mein hoffnungsloser Regievorschlag, dass er dich Zeitlang beobachtet, du merkst es, er erschrickt und haut ab.«
Zweiter Probenversuch:
Aschenbach sitzt nachdenklich im Sessel. Tadzio tritt hinter dem Vorhang hervor, betrachtet Aschenbach, Aschenbach bemerkt ihn, Tadzio verschwindet. Aschenbach lächelt erfreut und ein bisschen verwundert.95
Dritter Probenversuch:
Es wird ein neuer, zusätzlicher Textabschnitt vorgelesen:
»Es war am folgenden Morgen, dass er im Begriff war das Hotel zu verlassen, von der Freitreppe aus gewahrte, wie Tadzio, schon unterwegs zum Meere – und zwar allein –, sich eben der Strandsperre näherte. Der Wunsch, der einfache Gedanke, die Gelegenheit zu nutzen und mit ihm, der ihm unwissentlich soviel Erhebung und Bewegung bereitet, leichte heitere Bekanntschaft zu machen, ihn anzureden, sich seiner Antwort, seines Blickes zu erfreuen, lag nahe und drängte sich auf. Der Schöne ging schlendernd, er war einzuholen und Aschenbach beschleunigte seine Schritte. Er erreichte ihn auf dem Brettersteig hinter den Hütten, er will ihm die Hand aufs Haupt, auf die Schulter legen und irgendein Wort, eine freundliche französische Phrase schwebt ihm auf den Lippen: Da fühlt er, dass sein Herz vielleicht auch vom schnellen Gang, wie ein Hammer schlägt, dass er so knapp bei Atem, nur gepresst und bebend wird sprechen können; zögert, er sucht sich zu beherrschen, er fürchtet plötzlich, schon zu lange dicht hinter dem Schönen zu gehen, fürchtet sein Aufmerksamwerden, sein fragendes Umschauen, nimmt noch einen Anlauf, versagt, verzichtet und geht gesenkten Hauptes vorüber. »Zu spät!« dachte er in diesem Augenblick. Zu spät! Jedoch war es zu spät? Dieser Schritt, den zu tun er versäumt, er hätte sehr möglicherweise zum Guten, Leichten und Frohen, zu heilsamer Ernüchterung geführt. Allein es war wohl an dem, daß der Alternde die Ernüchterung nicht wollte, daß der Rausch zu teuer war. Wer begreift die tiefe Instinktwerdung von Zucht und Zügellosigkeit, worin es beruht! Denn heilsame Ernüchterung nicht wollen zu können, ist Zügellosigkeit. Aschenbach war zur Selbstkritik nicht mehr aufgelegt; der Geschmack, die geistige Verfassung seiner Jahre, Selbstachtung, Reife und späte Einfachheit machten ihn nicht geneigt, Beweggründe zu zergliedern und zu entscheiden, ob er aus Gewissen, ob aus Liederlichkeit und Schwäche sein Vorhaben nicht ausgeführt habe. Er war verwirrt, er fürchtete, dass irgend jemand, wenn auch der Strandwächter nur, seinen Lauf, seine Niederlage beobachtet haben möchte, fürchtete sehr die Lächerlichkeit.«96
Klangeinsatz bei »am folgenden Morgen«, der Kellner bringt ein Tablett mit Gläsern. Aschenbach sitzt im Sessel.
Ostermeier (bei »er wollte ihm die Hand aufs Haupt«): »Sepp, ich möchte dir einen Vorschlag machen: Wenn Kay diesen neuen Text liest, guckst du kurz, bevor Tadzio erscheint, wo Tadzio ist.«
Beim vierten Versuch steht Aschenbach auf und schaut heimlich hinter den Vorhang hervor.
Ostermeier: »Sepp, es wäre gut, wenn du die Angst vor der Entdeckung zeigst.«
Ostermeier geht auf die Bühne und zeigt, dass Aschenbach sich umsehen soll.
Aschenbach steht auf, geht zum Tisch, schaut sich dort um. Dann geht er zu seinem Tisch zurück, setzt sich. Die Kamera steht vor ihm. Großaufnahme von Aschenbach: Er wartet auf die Familie und, sobald die Familie auftritt, ist er verwirrt, weil Tadzio nicht dabei ist.
Ostermeier: »Sepp, trink einen Schluck Wasser und mach so, dass dir ein Tropfen Wasser aus dem Munde runterrinnt.«
Bierbichler macht ein verwundertes Gesicht, sagt aber nichts. Beim nächsten Versuch folgt er der Anweisung recht plump.
Ostermeier: »Ok, Sepp, ich habe verstanden, dass dir der Regievorschlag nicht gefallen hat. (an Benjamin Krieg) Warum hast du jetzt umgeschnitten?« [Als Aschenbach in Großaufnahme war und auf die Familie »wartete«, wurde auf den Familientisch umgeschnitten.]
Krieg: »Ich habe nicht gewusst, dass es jetzt so ist.«
Ostermeier: »Also beim Blick Aschenbachs bitte nicht umschneiden.«
Sechster Probenversuch:
Nach »fürchtete sehr die Lächerlichkeit« nimmt Aschenbach fünf Löffel in aller Ruhe zu sich. Tadzio tritt auf.
Ostermeier: »Leon, kannst du ihn ein bisschen länger anschauen. (an Bierbichler) Sepp, kannst du, bevor du den Blick senkst und nachdem du lächelst, aus Scham vor seiner Familie den Kopf nach rechts senken?«
Beim siebenten Versuch wird dies so gemacht.97
6.11.2012, 15. Probentag, Bühnenprobe, Hauptbühne, Théâtre National de Bretagne, Rennes.
Nach der Szene »Entdeckung von Tadzio« erfolgt der Kamerawechsel auf den Tisch. Der Kellner bringt das Tablett mit Gläsern, der Erzähler liest den Text laut. Aschenbach geht besorgt herum, auf die Familie wartend, setzt sich an den Tisch. Kamerawechsel auf Aschenbach. Die Familie kommt ohne Tadzio. Der Kellner bringt Aschenbach die Suppe. Die Familie macht eine Bestellung. Aschenbach macht den fünften Löffel, Tadzio erscheint. Die Szene wird zwei Mal wiederholt (bis Ende der Szene »Zeitlupe«).98
Zweite Probensituation
»Neuerdings begnügte er sich nicht damit, Nähe und Anblick des Schönen der Tagesregel und dem Glücke zu danken […]« (Liebe)
»Neuerdings begnügte er sich nicht damit, Nähe und Anblick des Schönen der Tagesregel und dem Glücke zu danken; er verfolgte ihn, er stellte ihm nach. Sonntags zum Beispiel erschienen die Polen niemals am Strande; er erriet, daß sie die Messe in San Marco besuchten, er eilte dorthin, und aus der Glut des Platzes in die goldene Dämmerung des Heiligtums eintretend, fand er den Entbehrten, über ein Betpult gebeugt beim Gottesdienst. Dann stand er im Hintergrund, auf zerklüftetem Mosaikboden, inmitten knienden, murmelnden, kreuzschlagenden Volkes, und die gedrungene Pracht des morgenländischen Tempels lastete üppig auf seinen Sinnen. Vorn wandelte, hantierte und sang der schwergeschmückte Priester, Weihrauch quoll auf, er umnebelte die kraftlosen Flämmchen der Altarkerzen, und in den dumpfsüßen Opferduft schien sich leise ein anderer zu mischen: der Geruch der erkrankten Stadt. Aber durch Dunst und Gefunkel sah Aschenbach, wie der Schöne dort vorn den Kopf wandte, ihn suchte und ihn erblickte. Wenn dann die Menge durch die geöffneten Portale hinausströmte auf den leuchtenden, von Tauben wimmelnden Platz, verbarg sich der Betörte in der Vorhalle, er versteckte sich, er legte sich auf die Lauer. Er sah die Polen die Kirche verlassen, sah, wie die Geschwister sich auf zeremoniöse Art von der Mutter verabschiedeten und wie diese sich heimkehrend zur Piazetta wandte; er stellte fest, daß der Schöne, die klösterlichen Schwestern und die Gouvernante den Weg zur Rechten durch das Tor des Uhrturms und in die Merceria einschlugen, und nachdem er sie einigen Vorsprung hatte gewinnen lassen, folgte er ihnen, folgte ihnen verstohlen auf ihrem Spaziergang durch Venedig. Er mußte stehen bleiben, wenn sie sich verweilten, mußte in Garküchen und Höfe flüchten, um die Umkehrenden vorüber zu lassen; er verlor sie, suchte erhitzt und erschöpft nach ihnen über Brücken und in schmutzigen Sackgassen und erduldete Minuten tödlicher Pein, wenn er sie plötzlich in enger Passage, wo kein Ausweichen möglich war, sich entgegenkommen sah. Haupt und Herz waren ihm trunken, und seine Schritte folgten den Weisungen des Dämons, dem es Lust ist, des Menschen Vernunft und Würde unter seine Füße zu treten. So wußte und wollte denn der Verwirrte nichts anderes mehr, als den Gegenstand, der ihn entzündete, ohne Unterlaß zu verfolgen, von ihm zu träumen. Einsamkeit, Fremde und das Glück eines späten und tiefen Rausches ermutigten ihn, sich auch das Befremdlichste ohne Scheu und Erröten durchgehen zu lassen, wie es denn vorgekommen war, daß er, spät abends von Venedig heimkehrend, an des Schönen Zimmertür Halt gemacht, seine Stirn in völliger Trunkenheit an die Angel der Tür gelehnt und sich lange von dort nicht zu trennen vermocht hatte, auf die Gefahr, in einer so wahnsinnigen Lage ertappt und betroffen zu werden.«99
2., 4., 5., 6., 8., 10. und 11.10.2012, Bühnenproben, Ballhaus Rixdorf
5., 7., 8. und 9.11.2012, Bühnenproben, Hauptbühne, Théâtre National de Bretagne, Rennes
Siehe die Beschreibung des Szenenverlaufs und der Interaktionen der Künstler in der Tabelle unter »Soziale Emotion Liebe«, Kapitel 6, Spalte 3 »Performative Handlungen des Spielers« und Spalte 4 »Realisierung des Verhältnisses Regisseur – Schauspieler«.
Dritte Probensituation
»Aschenbachs Traum« (Lied: »Ich bin der Welt abhanden gekommen«) (Liebe)
»Ich bin der Welt abhanden gekommen,
Mit der ich sonst viel Zeit verdorben,
Sie hat so lange nichts von mir vernommen,
Sie mag wohl glauben, ich sei gestorben!
Es ist mir auch gar nichts daran gelegen,
Ob sie mich für gestorben hält,
Ich kann auch gar nichts sagen dagegen,
Denn wirklich bin ich gestorben der Welt.
Ich bin gestorben dem Weltgetümmel,
Und ruh’ in einem stillen Gebiet!
Ich leb’ allein in meinem Himmel,
In meinem Lieben, in meinem Lied!«100
1., 4., 5., 10. und 11.10.2012, Diskussion und Bühnenproben, Ballhaus Rixdorf
6., 7., 8. und 9.11.2012, Bühnenprobe, Hauptbühne, Théâtre National de Bretagne, Rennes
Siehe die Beschreibung des Szenenverlaufs und der Interaktionen der Künstler in der Tabelle unter »Soziale Emotion Liebe«, Kapitel 6, Spalte 3 »Performative Handlungen des Spielers« und Spalte 4 »Realisierung des Verhältnisses Regisseur – Schauspieler«.
Vierte Probensituation
»In dieser Nacht hatte er einen furchtbaren Traum« (Liebe)
»In dieser Nacht hatte er einen furchtbaren Traum. Angst war der Anfang, Angst und Lust und eine entsetzte Neugier nach dem, was kommen wollte. Nacht herrschte und seine Sinne lauschten; denn von weither näherte sich Getümmel, Getöse, ein Gemisch von Lärm. Er wußte ein Wort, dunkel, doch das benennend, was kam: ›Der fremde Gott!‹ Da erkannte er Bergland, ähnlich dem um sein Sommerhaus. Und in zerrissenem Licht, von bewaldeter Höhe, zwischen Stämmen und moosigen Felstrümmern wälzte er sich und stürzte wirbelnd herab: Menschen, Tiere, ein Schwarm, eine tobende Rotte. Weiber hielten züngelnde Schlangen in der Mitte des Leibes erfaßt oder trugen schreiend ihre Brüste in beiden Händen. Männer, Hörner über den Stirnen, schlugen wütend auf Pauken, während glatte Knaben mit umlaubten Stäben Böcke stachelten, an deren Hörner sie sich klammerten und von deren Sprüngen sie sich jauchzend schleifen ließen. Der Lärm, das Geheul, vervielfacht von hallender Bergwand, wuchs, nahm überhand, schwoll zu hinreißendem Wahnsinn. Dünste bedrängten den Sinn, der beizende Ruch der Böcke, Witterung keuchender Leiber und ein Hauch wie von faulenden Wassern, dazu ein anderer noch, vertraut: nach Wunden und umlaufender Krankheit. Das obszöne Symbol, riesig, aus dem Holz, ward enthüllt und erhöht: da heulten sie zügelloser die Losung. Schaum vor den Lippen tobten sie, reizten einander mit geilen Gebärden und buhlenden Händen, lachend und ächzend, stießen die Stachelstäbe einander ins Fleisch und leckten das Blut von den Gliedern. Aber mit ihnen, in ihnen war der Träumende nun und dem fremden Gotte gehörig. Und seine Seele kostete Unzucht und Raserei des Unterganges.«101
4., 6., 10. und 11.10.2012, Bühnenproben, Ballhaus Rixdorf
2., 5., 6., 7., 8. und 9.11.2012, Bühnenproben, Hauptbühne, Théâtre National de Bretagne, Rennes
Siehe die Beschreibung des Szenenverlaufs und der Interaktionen der Künstler in der Tabelle unter »Soziale Emotion Liebe«, Kapitel 6, Spalte 3 »Performative Handlungen des Spielers« und Spalte 4 »Realisierung des Verhältnisses Regisseur – Schauspieler«.
Es gibt drei Gründe, warum hier, am Ende des Protokolls der vier beschriebenen Probensituationen der Schaubühnen-Inszenierung, nur eine und zwar eine alle vier Probensituationen verallgemeinernde Analyse kommen wird. Erstens beziehen sich die vier geschilderten Situationen auf ein und dieselbe soziale Emotion, nämlich auf die soziale Emotion »Liebe« (und zwar Aschenbachs Liebe zu Tadzio). Zweitens wurden alle vier Probensituationen aufgrund eines eingeschränkten Probenzeitraums innerhalb von insgesamt nur zwei Wochen (in Berlin und Rennes) und als Folge oft an ein und demselben Probentag und zwar eine nach der anderen geprobt. Oft wurden sie voneinander nur durch die Ansage des Regisseurs getrennt, im Prinzip bedeutete dies aber die Fortsetzung der begonnenen Probe. Drittens enden die Proben beim Regisseur Thomas Ostermeier nie an dem Tag der Premiere, sondern werden auch nach der Premiere wiederaufgenommen und dies solange die Inszenierung auf dem Spielplan steht. Das soll heißen, dass die Änderungen der Inszenierung von einer Vorstellung zur anderen vorgenommen werden. (Als externer Probenbeobachter weiß man also nur, wie die Inszenierung bis zur Premiere geprobt wird und nicht danach. Auch ich als Probenbeobachterin, die dem Probenprozess nur bis zur Premiere beiwohnte, habe gesehen, dass die vier Szenen Teile eines Ganzen waren – also voneinander untrennbar – und deswegen für die folgende Analyse verallgemeinert werden können.) Aus diesen drei Gründen versuche ich nun, die vier geschilderten Probensituationen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen und diese auf die Kriterien der kollektiven Efferveszenz bzw. der leiblich-affektiven Rhythmisierung und auf die Komponenten der Gruppensolidarität, der individuellen emotionalen Energie und ritueller Symbole des Teams zu analysieren.
Am Anfang der Proben (vom 1. bis ca. 6.10.2012) konnte das höchste Maß an individueller emotionaler Energie beim Regisseur Ostermeier identifiziert werden. Die Gruppe war nämlich heterogen: Sie bestand sowohl aus via Casting ausgewählten Jugendlichen für die Rolle des Tadzio als auch aus den Berufstänzerinnen für die Rollen der Schwestern sowie aus festen Ensemblemitgliedern und eingeladenen professionellen Schauspielern. Deswegen war es von Anfang an die Aufgabe des Regisseurs, die Reihen zu schließen bzw. aus solchen ungleichen Einzelmitgliedern ein Team zu bilden. Auch der eingeladene Schauspieler Josef Bierbichler hat (im Vergleich zu den anderen Künstlern) seine emotionale Energie oft gezeigt. (Vgl. dazu Tabelle, Probensituation eins am 4., 8., 9.10.2012; Probensituation zwei am 2., 4., 6., 8.10.2012; Probensituation vier am 6.10.2012.) In der zweiten Hälfte der Proben in Berlin (ab ca. 6./8.10.2012) haben sich alle Probenmitglieder bereits aneinander gewöhnt. Jedoch war es immer noch meistens der Regisseur selbst (und ab und zu Bierbichler), der inmitten des Probenprozesses die Initiative zur sozialen Interaktion übernahm. Trotzdem kann man sagen, dass solch eine heterogene Gruppe von Anfang an große Solidarität zeigte: Der Regisseur Ostermeier und der Schauspieler Bierbichler versuchten oft die ganz jungen Schauspieler (die beiden Darsteller des 14-jährigen Knaben Tadzio aus den beiden Besetzungen) zu motivieren. Mittels freundlicher, virtuoser Ansprachen konnten sie die Jungen ins Spiel mit den anderen Künstlern involvieren, wobei die Jugendlichen ihrerseits großes Interesse und Anteilnahme zeigten. Für die Tänzerinnen war es eine einzigartige Gelegenheit, unter der Leitung eines Choreographen auf der einen und eines weltberühmten Theaterregisseurs auf der anderen Seite zu arbeiten, deswegen haben sie jede Regieanweisung, auch jene, die sich auf andere Probenmitglieder bezogen, inspiriert wahrgenommen und ihre Freude an der Mitarbeit durch (Mit-)Lächeln/(Mit-)Lachen oder andere eindeutige Zeichen der Zufriedenheit gezeigt. Insbesondere die drei Tänzerinnen waren diejenigen im Team, die eine leiblich-affektive Rhythmisierung an den Tag legen konnten. Sie waren nämlich die einzigen Probenbeteiligten, die die Möglichkeit hatten, beim Proben der nur auf sie bezogenen choreographischen Szenen ihre körperlichen Handlungen gleichzeitig, symmetrisch, in schnellem Tempo und ununterbrochen durchzuführen. An ihren körperlichen Handlungen, die sie im choreographischen Probenprozess emotional ausführten, konnte man den Rhythmus sehen und zwar selbst dann, wenn sie vom Choreographen bereits nach dem Ausüben dieser Handlungen korrigiert bzw. von ihm dazu aufgefordert wurden, Änderungen im Tanz- und Bewegungsmuster vorzunehmen. Was am Bewegungsmuster geändert werden musste, zeigte der Choreograph mithilfe der Körper der Tänzerinnen selbst, wobei er dieses Bewegungsmuster mithilfe ihrer Körper praktisch formte (z. B. durch das Aufstellen der Füße und Fixieren der Arme der Tänzerinnen in die erforderlichen Positionen, durch das Formen des Biegens ihrer Oberkörper usw.). Erst nach seinen Korrekturen folgte ein Durchlauf vor Augen des Regisseurs. Während solcher Durchläufe wurden die Tänzerinnen kaum von jemandem unterbrochen, so konnten sie die vorgemerkten Bewegungen ungestört und im Einklang miteinander vollziehen. Deswegen konnte bei ihnen dabei auch eine so große leiblich-affektive Rhythmisierung beobachtet werden. Der Schutz der rituellen Symbole drückte sich nicht während des Probenprozesses selbst, sondern erst vier Jahre danach aus: Der Regisseur selbst wollte die Schilderungen der Geschehnisse und Zitate der Künstler ausführlich aus den Proben zu Der Tod in Venedig/Kindertotenlieder durchsehen, bevor er sein Einverständnis zur Veröffentlichung gab.
Momente der kollektiven Efferveszenz gab es während des gesamten Probenprozesses sehr oft. Es genügt, allein das Proben des Auftritts von Tadzio zu nennen, als nicht nur die ganze Familie auf ihn wartet, sondern auch Aschenbach, die Suppe nervös löffelnd und dauernd auf die Treppe aufblickend, Spannung in die Situation bringt (siehe dazu Tabelle, Probensituation eins, Spalte 3 und 4 vom 2.10. bis 6.11.2012). In diese Szene waren sämtliche Probenbeteiligten involviert, deswegen interagierte jeder mit jedem unausweichlich bei jeder Probe der Szene: Die Schwestern unterhielten sich miteinander, der Kellner mit der Gouvernante, die Videotechniker fokussierten mit der Kamera bald die Löffel Aschenbachs, bald den triumphierenden Blick Tadzios über den verlegenen Aschenbach. Der Erzähler musste immer auf den rechtzeitigen Einsatz des von ihm gesprochenen Textes aufpassen. Der Regisseur beteiligte sich gar an jedem auf der Bühne stattfindenden Moment, sei es die genaue Angabe der Anzahl von Suppenlöffeln, die Aschenbach zu sich nahm, das Kommentieren von Tadzios Emotionen im Moment seines Anschauens von Aschenbach oder das Antreiben der Videotechniker, den Umschnitt schneller zu machen. Vom ersten bis zum letzten Probentag dieser Szene waren in der Gruppe kollektive affektive Erregungen und kohärente Wohlgefühle zu beobachten, die sich in der genauen Ausführung der Anweisungen des Regisseurs und der positiven Reaktion auf diese Anweisungen ausdrückte.
Am Ende des dritten Schritts gilt es nun zu schlussfolgern: Durch den ereignishaften und rituellen Charakter der Interaktionen, die das ganze System jeglicher Proben prägten, stieg die emotionale Energie jedes einzelnen Beteiligten. Mit dem Begriff der emotionalen Energie bezieht sich Randall Collins auf langfristige Emotionen – das anhaltende Energieniveau, das die Betroffenen eine längere Zeit lang motiviert, sich in verschiedenen Situationen auf eine bestimmte Art und Weise zu verhalten. Die emotionale Energie der Probenbeteiligten an den drei Theatern war sehr stark, wie aus den geschilderten Probensituationen zu sehen ist: Tagaus, tagein wurden die Beteiligten immer mehr in den Probenvorgang involviert. Die wirkliche Probenarbeit endete nicht mit dem Feierabend: Sie wurde mental, emotional und technisch auch hinterher selbstständig fortgesetzt. Die Mitglieder bauten durch diverse Aktionen (gemeinsame Mittagspausen, Textdiskussionen usw.) eine emotionale Verbindung zueinander auf. Die Art, wie die im Zuge dessen erzeugten emotionalen Energien die die Inszenierungen gestaltenden Ereignisse beeinflussten, wird im nächsten Abschnitt untersucht. Dort wird darüber hinaus die Vorgehensweise bestimmt, durch die sich die Mechanismen einer Kunstfigur im Probenprozess gestalten. Zudem gehe ich darauf ein, wie die emotionalen Beziehungen zwischen den Figuren hergestellt werden. Zugleich befasse ich mich mit den Kriterien zur Herstellung der Komponenten der sozialen Emotionen in den Interaktionsritualen.
1Den Begriff Studiensituation verwende ich in Anlehnung an Stanislawski. Zu betonen ist, dass er in enger Beziehung zur russischen Originalfassung des oben genannten Buchs steht. Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht eine begriffliche Differenz, die sich zwischen der deutschen Übersetzung und der russischen Originalausgabe feststellen lässt. So wird der Ausdruck »predlagaemye obstojatel’stva« in der deutschen Textfassung als »vorgeschlagene Situationen« übertragen (Konstantin Stanislawski: Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst: Tagebuch eines Schülers. Die Arbeit an sich selbst im schöpferischen Prozess des Erlebens, Teil 1, Westberlin 1984, S. 400). Im russischen Original ist hingegen von »vorgeschlagene[n] Umstände[n]/Bedingungen« die Rede. Als ich den Begriff Studiensituation einführte (bzw. noch früher auf den Begriff der Probensituation einen besonderen Wert legte), meinte ich indes nicht (nur) die Umstände, sondern gerade die Situation an sich. Falls an dieser Stelle die russische Übersetzung des Begriffs Studiensituation für ein besseres Verständnis des Kontextes behilflich wäre, würde ich ihn im Russischen als »učebnaja situacija« (dt.: Studiensituation) fassen, also nicht als »učebnye obstojatel’stva« (dt.: Studienumstände). Nach meinem Verständnis nimmt eine Studiensituation (genauso wie eine Probensituation) sowohl auf die Umstände (die entweder »vorgeschlagen« wurden oder die sich durch die nicht vorgeplanten Verstrickungen bildeten) Bezug als auch auf die Zeit, den Ort, die Wechselwirkung und die Beziehungen zwischen den Beteiligten. Zugleich bezieht sich eine Probensituation auf die vergangenen (für einige Mitglieder bekannte und für die anderen unbekannte), gegenwärtigen (von den Beteiligten auf unterschiedliche Weise bzw. in unterschiedlichem Maß wahrgenommene) und zukünftigen Ereignisse, die innerhalb der gesamten Situation stattfinden, die nicht unbedingt an einen Ort und an eine zeitliche Einheit (d. h. nicht nur an einem Probentag stattfindende Situation) gebunden ist. Eine Studiensituation ist genauso wie eine Probensituation ein Oberbegriff mit allen geschilderten Merkmalen.
2Stanislawski: Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst, Teil 1, S. 88f.
3Eine vertrauliche, intime Interaktion im Schauspielunterricht (oder in den Proben) ist eine Interaktion, deren Inhalt die Schauspieler nicht gerne hinter die Studien- bzw. Probenräume hinaustragen würden. Manche Schauspieler treten gar strikt gegen jegliche Bekanntmachung von derartigen professionellen Interaktionen auf. Der Inhalt solch einer vertrauten Interaktion ist in jedem Studien-/Probenprozess unterschiedlich und bezieht sich auf die rein professionellen Vorgänge eines konkreten Studiums/Probens. Als Gegenstand der Fachdiskussion können z. B. misslungene szenische Handlungen des einen Schauspielers oder – im Gegenteil – vorteilhafte »Entdeckungen« des anderen sein.
4Collins: Interaction Ritual Chains, S. 107.
5Jonathan H. Turner, Jan E. Stets: The Sociology of Emotions, Cambridge 2005, S. 74.
6Diese wirklichkeitskonstituierenden bzw. -transformierenden Sätze und Handlungen sind Ausprägungen des in Kapitel 3 erläuterten Konzepts einer radikalen Performanz. In den Existenz- und Gelingensbedingungen eines jeden Systems ist etwas angelegt, das mit diesem in Widerstreit liegt. Es ist das Performative, das Dynamiken in Gang setzt, die die Grenzen des Systems überschreiten (vgl. Kapitel 3.3, Anm. 43). Aus der Wiedergabe der Probensituationen wird ersichtlich, dass die Interaktionen der Künstler jene dynamische Kraft besaßen, die das System jedes einzelnen Probenprozesses prägten und die dieses System hiermit zugleich zu fixieren, zu ändern und abermals zu fixieren vermochten.
7Vgl. Antonio R. Damasio: Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins, Berlin 2009, S. 55f. (The Feeling of what Happens. Body and Emotion in the Making of Consciousness, New York 1999.) Vgl. auch Turner/Stets: The Sociology of Emotions, S. 95.
8Damasio: Ich fühle, also bin ich, S. 67f. [Hervorhebungen im Original.]
9Antonio Damasio im Interview mit Manuela Lenzen in Manuela Lenzen: »Der Emotionator«, in: Gehirn und Geist, Nr. 1, 2007, S. 30–33, S. 31f.
10Turner/Stets: The Sociology of Emotions, S. 95f.
11Damasio: Ich fühle, also bin ich, S. 337f. (Beim Verweis auf die »innere Simulation« versieht Damasio seine Aussage mit dem Link zu Vittorio Gallese und Alvin Goodman: »Mirror neurons and the simulation theory of mind-reading«, in: Trends in Cognitive Sciences, vol. 2, no. 12, 1998, S. 493–501. In der Theorie der Spiegelneuronen handelt es sich um spezielle Nervenzellen, die in einem Beobachter spiegelbildlich die Aktionen, Gefühle oder Körperzustände des beobachteten Objekts wachrufen. Auf solche Weise werden vom Beobachter äußere wie innere Zustände des Beobachteten simuliert bzw. mitempfunden.)
12Ebd., S. 75.
13Turner/Stets: The Sociology of Emotions, S. 96.
14Vgl. Kapitel 5.2.
15Titel für die Szenen »Mann, tut das weh!«, »Aufstand« (»Der Doktor ist gekommen!«) und »Das Abc« stammen von den Künstlern selbst. Titel für die Szenen »Liebeserklärung«, »Sie hören von mir kein Wort mehr« und »Auch wenn Sie mir zweihunderttausend geben würden« stammen von mir.
16Alle Titel der ausgewählten Szenen am BE stammen von mir.
17Alle Szenentitel der Schaubühnen-Produktion sind von mir der vorhandenen Textvorlage entnommen.
18DT-Textfassung vom 18.1.2010, S. 10.
19Dimiter Gotscheff hat den Schauspieler Samuel Finzi in den Proben oft mit diesem Spitznamen angesprochen.
20Siehe eine detaillierte Beschreibung der Szene »Liebeserklärung« bzw. die Weise, wie sie erstmalig im Probenraum geprobt wurde, im Kapitel 4.1 dieses Bandes.
21Mein Probenvideo vom 28.1.2010.
22Bis zu diesem Probentag hat Katrin Wichmann ihren Text »Liebeserklärung« auf eine beschleunigte bzw. aufgeregte Weise gesprochen, als hätte sie Atemnot bekommen.
23Transkribiert auf Basis meines Probenvideos vom 16.2.2010.
24Almut Zilchers Figur sprach im Stück Texte von Irina Arkadina aus Die Möwe. In Čechovs Stück ist Arkadina eine berühmte Schauspielerin. Wohl deswegen hat auch Zilchers Figur, die in manchen Monologen die Züge einer Schauspielerin verriet, das Schauspieltalent von Wichmanns Figur in dieser Szene eingeschätzt. Diese »Talent-Einschätzung« war eine Anspielung auf eine Konversation zwischen Irina Arkadina und Nina Saretschnaja aus dem Čechov’schen Stück. In jener Konversation lobt Arkadina das Talent der jungen Amateurschauspielerin Saretschnaja und sagt, sie müsse unbedingt zur Bühne gehen.
25Dimiter Gotscheff pflegte sich »Mitko« nennen zu lassen.
26DT-Textfassung vom 18.1.2010, S. 12. Originale Zeichensetzung der DT-Textfassung beibehalten.
27DT-Textfassung vom 22.1.2010, S. 35ff.
28Zitiert aus: Kasimir Malewitsch: Suprematismus: die gegenstandslose Welt, Köln 1962, S. 200.
29Unter »Teppich« werden Texte verstanden, die die Figuren ohne jegliche Reihenfolge, quasi durcheinander vortrugen. Dieses »Aneinander-vorbei-Sprechen« sollte den Hintergrund für die Schicksale der Figuren darstellen.
30Meine Probennotizen vom 1.2.2010.
31Meine Probennotizen vom 5.2.2010. Da ich das Wort »aufflackert« akustisch gehört habe, das den Sinn des Satzes verstellt, kann ich nur ahnen, was der Schauspieler in Wirklichkeit gesagt hat. Es mag sein, dass »auffächert« gemeint war.
32Meine Probennotizen vom 9.2.2010.
33Meine Probennotizen vom 10.2.2010.
34Mein Probenvideo vom 19.2.2010.
35Meine Probennotizen vom 23.2.2010.
36Mein Probenvideo vom 23.2.2010.
37Regiebuch zu Krankenzimmer Nr. 6 vom 26.2.2010, Deutsches Theater Berlin.
38DT-Textfassung vom 22.1.2010, S. 26f.
39Meine Probennotizen vom 3.2.2010.
40Gemeint ist der abgesonderte Raum, den jede Figur beim Vortragen ihres Textes um sich herum schaffen sollte, um den Zuschauern ihre Einsamkeit im geschlossenen Raum zu vermitteln.
41Mein Probenvideo vom 11.2.2010.
42Textfassung vom 13.1.2010, S. 19f.
43Meine Probennotizen vom 14.1.2010.
44Meine Probennotizen vom 18.1.2010.
45Meine Probennotizen vom 19.1.2010.
46DT-Textfassung vom 22.1.2010, S. 15ff.
47Meine Probennotizen vom 27.1.2010.
48Mein Probenvideo vom 28.1.2010.
49Ebd.
50Originalschreibweise beibehalten.
51Meine Probennotizen vom 28.1.2010. (Dimiter Gotscheff über das Konzept der in seiner Inszenierung darzustellenden Figuren.)
52Meine Probennotizen vom 10.2.2010.
53Mein Probenvideo vom 16.2.2010.
54Mein Probenvideo vom 19.2.2010.
55Meine Probennotizen vom 23.2.2010
56Meine Probenvideos vom 23.2.2010.
57BE-Textfassung, S. 34–38.
58Ebd., S. 61f.
59Ebd., S. 63–72.
60Ebd., S. 68.
61Ebd., S. 49ff.
62Meine Probennotizen vom 29.1.2011.
63BE-Textfassung, S. 53ff.
64Meine Probennotizen vom 29.1.2011.
65BE-Textfassung, S. 83–86.
66Meine Probennotizen vom 31.1.2011.
67Meine Probennotizen vom 3.2.2011.
68Die Nachbarin der Kowalskis.
69Meine Probennotizen vom 9.2.2011.
70Meine Probennotizen vom 12.2.2011.
71Meine Probennotizen vom 24.2.2011.
72Meine Probennotizen vom 4.3.2011.
73BE-Textfassung, S. 43–49.
74Meine Probennotizen vom 10.1.2011.
75Meine Probennotizen vom 19.1.2011.
76Meine Probennotizen vom 20.01.2011.
77Meine Probennotizen vom 21.1.2011.
78Meine Probennotizen vom 22.1.2011.
79Meine Probennotizen vom 5.2.2011.
80Meine Probennotizen vom 9.2.2011.
81Meine Probennotizen vom 16.2.2011.
82Meine Probennotizen vom 28.2.2011.
83Textfassung der Schaubühne am Lehniner Platz, S. 4f.
84Meine Probennotizen vom 2.10.2012.
85Meine Probennotizen vom 4.10.2012.
86Meine Probennotizen vom 5.10.2012.
87Meine Probennotizen vom 6.10.2012.
88Meine Probennotizen vom 8.10.2012.
89An dieser Stelle konnte ich das gefallene Wort nicht gut genug heraushören, weil Josef Bierbichler zu weit von mir entfernt saß und zu leise sprach. Aus großer Entfernung hörte sich das Wort an wie »Schwanenseele«.
90Meine Probennotizen vom 9.10.2012.
91Meine Probennotizen vom 10.10.2012.
92Meine Probennotizen vom 11.10.2012.
93Meine Probennotizen vom 12.10.2012.
94Meine Probennotizen vom 1.11.2012.
95Meine Probennotizen vom 2.11.2012.
96Textfassung der Schaubühne vom 4.11.2012, S. 5f.
97Meine Probennotizen vom 2.11.2012.
98Meine Probennotizen vom 6.11.2012.
99Textfassung der Schaubühne am Lehniner Platz, S. 6f.
100Textfassung der Schaubühne am Lehniner Platz, S. 7.
101Textfassung der Schaubühne am Lehniner Platz, S. 7ff.