Deuten
von Maria Kuberg
Erschienen in: Lektionen 8: Neue Dramatik (10/2025)
„Quand le doigt montre le ciel, l’imbécile regarde le doigt.“1 Ausgehend von der Vorstellung, dass der Theatertext für die Bühne geschaffene und damit von ihr nie ganz unabhängige Literatur ist, ging die Theatersemiotik der 1990er Jahre davon aus, dass der Theatertext, anders als andere literarische Texte, „theatrale Zeichen (oder, genauer: Signifikanten) in Rechnung [stellt], die er selbst nicht besitzt“2. Damit gemeint waren solche Zeichen, die, anstatt der Logik der Repräsentation zu folgen, Präsenz erzeugen und so auf das hic et nunc der Aufführungssituation verweisen. Zu solchen Zeichen gehören Deiktika, die neben dem fiktionalen Raum, in dem sie gesprochen sind, auf der Bühne immer auch den gemeinsamen Bezugsraum zwischen Zuschauer:innen und Akteur:innen als Verweisraum beanspruchen. Wer auf der Bühne „Hier“ sagt, meint nicht nur das „Hier“ der fiktionalen Handlung, sondern auch das „Hier“ der Bühne selbst. Und Theatertexte können, so die Überzeugung der postdramatischen und theatersemiotischen Theoriebildung, dieses Bühnen-„Hier“ allenfalls implizieren oder nachempfinden, es aber nicht selbst erzeugen. Damit erfährt eine der wichtigsten Elemente strukturalistischer Literaturforschung einen wohl unbeabsichtigten Twist. Gemeint ist die Ablehnung eines idealistischen Literaturverständnisses, nach dem die Literatur als Nachahmung zweiter Ordnung einem Dualismus von Form und Inhalt unterliegt, der durch Deutung gleichsam aus dem...