Kommentar
Die Treppe der anderen
Thema mit Variationen: Der Sturm auf den Reichstag und sein tanztheaterähnliches Moment
Erschienen in: Theater der Zeit: House of Arts – Über Macht und Struktur am Theater (10/2020)
Assoziationen: Debatte
Demokratie ist Belagerung“, übertitelt der Tagesspiegel ein Gespräch mit Jan-Werner Müller. „Deswegen hat Jürgen Habermas recht“, sagt der Politikwissenschaftler dort, „wenn er für das Verhältnis von Öffentlichkeit und Parlament das Bild einer Belagerung vorschlägt.“
Hatten demnach die gut 250 Menschen (Reichsbürger, denen Nahstehende sowie bunt gemischte Mitläuferinnen und Mitläufer), die am 28. August 2020 auf die Stufen des Reichstags liefen, um sich dort selbst zu feiern, das Recht, dies zu tun? Ein Großteil der Medien hatte berichtet, es hätte einen „Sturm auf den Reichstag“ gegeben, die Menge hätte letztlich in das Gebäude gewollt – obwohl es, soweit sich das recherchieren ließ, keinen Beleg für den Versuch des Eindringens gibt. Nach knapp zehn Minuten war der von der Polizei „befriedete Bezirk“ wieder leer, die Menge verlief sich. Wäre eine andere Reaktion als die der Empörung wünschenswert gewesen, wie sie unter anderem von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier kam?
Das Zulaufen auf den Reichstag habe ich schon dreimal gesehen – ausgehend von sehr verschiedenen Akteuren. Unabhängig von den jeweiligen Intentionen hat es ein tanztheaterähnliches Momentum: Die Überwindung von Zäunen, das gemeinschaftliche Hineinlaufen in den abgesperrten Bereich, auf den Reichstag zu, und die Einforderung von Rechten, die man im Bundestag zumindest als ungenügend wahrgenommen sieht,...