4. Die Option für das ‚Natürliche‘
von Wolfgang Engler
Erschienen in: Authentizität! – Von Exzentrikern, Dealern und Spielverderbern (03/2017)
Authentizität ist auch ein Kampfbegriff. Im Namen der Authentizität verwirft man kulturelle Modelle, bestreitet deren Legitimität, entmachtet sie und setzt neue in Umlauf. Dabei wechseln formalistische und naturalistische Konzeptionen des Authentischseins einander ab.
In naturalistischer Lesart ist ein Mensch dann authentisch, ‚er selbst‘, wenn er nicht ganz ‚bei sich‘ ist, sich seiner Äußerungen nicht versieht: im Traum, im Fieberschlaf, von Angst gepackt oder von übergroßer Freude hingerissen. Allein der Zusammenbruch der Selbstkontrolle bringt die Wahrheit an den Tag. Dem auf schnöde Weise nachzuhelfen, entwickelten Kriminalbeamte, Verhörspezialisten subtile Methoden. Wie kommt man einer Legende auf die Schliche, die die Tat verdeckt? Indem man stets von Neuem auf einen Beschuldigten eindringt, ihn ermüdet, bis ihm ein verräterisches Wort entschlüpft. Indem man einzelne Sequenzen der Erzählung an der zeitgleichen Körpersprache kontrolliert – unstete Augenbewegung, Erröten, Schweißausbruch – und an diesen Stellen nachhakt. Indem man ihn auffordert, seine Geschichte von hinten nach vorn zu erzählen, woraufhin der Plot zersplittert etc.
Diese Epistemologie des Unwillkürlichen als des wahrhaft Validen ist tief im Alltag, in unserer Kultur verankert. Zwischen dem Gesagten und dem Gemeinten, dem Offensichtlichen und dem Verborgenen zu unterscheiden, war Menschen zu allen Zeiten geläufig; je verlogener die Zeiten, desto ausgeprägter dieser Spürsinn. Nur...