Theater der Zeit

Politik und Personalien

von Leyla-Claire Rabih und Frank Weigand

Erschienen in: Scène 15: Neue französische Theaterstücke (10/2012)

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»Darf man die Massentheorie als Gesetz auf jeden Einzelnen anwenden? Darf man selektieren und wenn ja mit welchen Mitteln? Sollte ich mich lediglich auf meine Intuition verlassen? Wie kann man dabei mit Anstand Gerechtigkeit und Fairness vorgehen? Gewissensfrage.«

Diese beunruhigenden Worte spricht der junge hochintelligente Schulverweigerer und spätere Amokläufer Josh in Stéphanie Marchais’ poetischem Pubertätsdrama »In der Festung meiner Haut«. Durch seine Revolte gegen alles Mittelmäßige stellt sich der aknegeplagte Anti-Held in eine Ahnenreihe mit Bernard-Marie Koltès’ Roberto Zucco, der grundlos tötete, da sich in ihm die göttliche Kraft eines uralten Mythos vollstreckte.

Josh und auch die anderen Helden dieses Buches kennen keine Mythen mehr. Ihre Realität ist grau, trist, von Pragmatismus geprägt und gleichzeitig von bedrohlicher Unübersichtlichkeit.

Über dreißig Jahre sind vergangen, seitdem Koltès seine mythischüberhöhten »Anderen« auf die französische Mehrheitsgesellschaft losließ und ihr durch Migranten, Verbrecher und Ausgegrenzte einen Spiegel vorhielt.

Eben diese Randgestalten sind mittlerweile in einer immer rasanter globalisierten Alltagswelt von der Peripherie ins Zentrum gerückt. Der Dualismus zwischen »uns« und dem »Anderen«, den Koltès in den 1980er Jahren noch formulieren konnte, wirkt aus heutiger Perspektive naiv und idealistisch. In einer Gesellschaft, die immer heterogener und undurchschaubarer wird, ist weniger die Auseinandersetzung mit dem Anderen das Problem, sondern hauptsächlich die Frage nach dem »wir«, der Identität als Individuum, Gruppe, Nation oder Staatengemeinschaft.

Nicht von ungefähr knüpft Stéphanie Marchais’ Protagonist in seinem »Projekt der Ausrottung der Arschlöcher« an totalitäre Ideologien aus dem vorigen Jahrhundert an, die gegenwärtig auch politisch allerorten eine beunruhigende Renaissance feiern. Zu einem Zeitpunkt, an dem Wirtschaftsräume nach und nach implodieren, globale Umwälzungen und Bürgerkriege Flüchtlingsströme in vermeintlich sichere »Einwanderungsländer« spülen und gleichzeitig Demagogen und Populisten die Innen- und Einwanderungspolitik dieser Länder bestimmen, sucht der verängstigte Durchschnittbürger ideologischen Halt.

Wer sind wir? Was hält uns noch zusammen? So lauten die bangen Fragen, auf die Rassismus und Fundamentalismen allzu einfache Antworten geben.

Eben diese Fragen durchziehen auch die in SCÈNE 15 versammelten Texte. Sie alle arbeiten mit eher kleinerem Personal, handeln also scheinbar Konflikte innerhalb einer überschaubaren Gruppe von zwei bis sechs Personen aus. Der wirkliche Konfliktgrund liegt jedoch in allen Texten außerhalb der Bühne. Die diffuse Macht, die Gérard Watkins’ Protagonisten in »Personalien« zum Handeln antreibt, ist körperlos und nicht weiter bestimmbar. Auch Fabrice Melquiots Yuppie-Paar, das sich in dem Text »Juri« ganz buchstäblich das »Fremde« ins Haus holt, scheitert nicht daran, sondern an seinem übersteigerten Drang zur Selbstverwirklichung. Ebenso sind die teils naiven teils handfest brutalen Auflehnungsversuche in Stéphanie Marchais’ »In der Festung meiner Haut« eher hilflose Gesten, um eine Realität in den Griff zu bekommen, die man so nicht haben möchte. Lediglich in Sarah Berthiaumes »Yukonstyle« gelingt es den Figuren, aus ihrer Unterschiedlichkeit heraus eine Art Notgemeinschaft gegen die real existierenden Naturgewalten des kanadischen Nordwestens zu gründen. In dem dunkelsten und am stärksten pessimistischen Text in SCÈNE 15, »Abendland« von Rémi De Vos, geht eine Paarbeziehung in einem Kontext aus Alkoholkonsum, Fremdenfeindlichkeit und selbstzerstörerischem Humor stellvertretend für die gesamte westliche Welt an sich selbst zugrunde. Die »Araber« und »Jugoslawen«, über die dabei immer wieder geschimpft wird, sind nur mehr bloßer Vorwand für das eigene Versagen.

Während weltweit gesellschaftliche Massenbewegungen – von »Occupy« über die Revolutionen in Tunesien und Libyen bis hin zu den eskalierenden Studentenstreiks in Québec – nach Alternativen zur vorherrschenden politischen, ideologischen und wirtschaftlichen Realität suchen –, zweifeln hier also Autoren bereits am Funktionieren der kleinsten gesellschaftlichen Zelle: dem traditionell systemerhaltenden heterosexuellen Paar.

Drei der in diesem Band versammelten Stücke zeigen Zweierbeziehungen in der Sackgasse: In »Personalien« beschreibt Gérard Watkins, wie ein junges Paar in finanziellen Schwierigkeiten an der krankhaften Beschäftigung mit dem eigenen Stammbaum zerbricht. Das fiktionale Stück ist trotz seiner kafkaesken Absurdität tief in der politischen Realität seiner Entstehungszeit verankert: 2007, kurz nach seiner triumphalen Wahl zum französischen Präsidenten, schickte sich Nicolas Sarkozy an, die Einwanderungsgesetzgebung zu verschärfen. Ein Entwurf, das sogenannte »Amendement Mariani«, das später für nicht verfassungsgemäß erklärt wurde, sah neben einer Reihe drakonischer Maßnahmen gegen illegale Einwanderer systematische DNA-Tests bei Visa-Anträgen zum Zwecke der Familienzusammenführung vor. Watkins’ Protagonisten sind jedoch keine afrikanischen Einwanderer, die ihre Identität vor der französischen Mehrheitsgesellschaft bloßlegen müssen, sondern zwei ganz banale Vertreter ebendieser Gesellschaft: »ein durchschnittliches europäisches Ehepaar, das weder besonders viele Werte besitzt, noch besonders viel Geld« (Watkins). In einer knappen lakonischen Sprache stellt der Autor eine Analogie zwischen dem immer stärker abgeschotteten Schengen-Raum, der »Festung Europa«, und dem faschistischen Vichy-Staat her. Auch wenn die beiden Figuren französische Namen tragen und sich auf die französische Vergangenheit beziehen, könnte »Personalien« im Prinzip überall in einem Europa spielen, das sich zunehmend uniformiert.

Das Gleiche ist bei den Yuppie-Eltern in Fabrice Melquiots »Juri« der Fall, in dem ein kinderloses Paar kurzerhand einen ausländischen Jugendlichen kidnappt, ihn zwangsadoptiert und seine gesamten rassistischen Vorurteile auf ihn projiziert. Zwar gewinnt der Text durch die französische Kolonialvergangenheit zusätzlich an Brisanz, doch ist die Schieflage zwischen der Sterilität in der westlichen Welt und dem aus hiesiger Sicht unverantwortlichen Kinderreichtum in Afrika und Asien ein universelles Phänomen, das verstärkt in den Medien auftritt, seitdem Popstars und Hollywoodschauspieler mit Vorliebe Kinder aus Krisengebieten adoptieren. »Juri« und »Personalien« zeigen die bösartige Karikatur einer europäischen Realität: das gelangweilte, fortpflanzungsunfähige Paar, das keinerlei politische oder gemeinschaftliche Interessen hat und sich gewissermaßen »ins Private« zurückzieht.

In Rémi De Vos’ »Abendland« wird diese Langeweile auf die Spitze getrieben: Ohne politische Überzeugungen oder Ansprüche gerät ein Alkoholiker in den Dunstkreis der Rechtsextremen aus der Kneipe nebenan und beteiligt sich rege an Trinksprüchen auf »die weiße Rasse«. Gleichzeitig zelebriert er mit seiner zunehmend ermüdeten Partnerin jeden Abend dasselbe Ritual, bei dem er sie beschimpft und mit Mord droht – nur um schließlich nach Liebe winselnd auf die Knie zu sinken. In diesem Kontext festgefahrener Dekadenz erscheint es fast plausibel, dass Stéphanie Marchais’ Protagonist Josh in »In der Festung meiner Haut« seine Eltern hinrichtet, um sie zu »erlösen«.

Während die Autoren aus Frankreich ihren Figuren keinerlei lebbaren Ausweg aus der tristen Absurdität ihres Daseins gestatten, gesteht einzig die junge Quebecer Dramatikerin Sarah Berthiaume ihren Protagonisten noch wirkliche Beziehungen zu: Im Yukon im extremen Nordwesten Kanadas, wo Kälte und Rauheit auch den Alltag und vor allem das Verhältnis zu den indianischen Ureinwohnern prägen, treffen drei junge Menschen aufeinander: das Halbblut Garin, die Japanerin Yuko und die schwangere Herumtreiberin Kate. Jeder von ihnen hat einen Verlust hinter sich – und doch schaffen sie es zuletzt, gemeinsam und durch das Akzeptieren der eigenen Verwundungen eine Zukunft für alle zu konstruieren – auch wenn diese noch unklar ist.

Trotz thematischer Gemeinsamkeiten unterscheiden sich die Theateransätze der hier versammelten Autoren teilweise erheblich: Fabrice Melquiot ist auch in Deutschland kein Unbekannter mehr. Seine mittlerweile über vierzig Theatertexte faszinieren durch poetischen Ideenreichtum und Sprachfantasie – doch hat sich zwischen den eher romantischen Anfangstexten des Dramatikers (z. B. dem in SCÈNE 5 abgedruckten »Espresso Blues«) eine Hinwendung zur schonungslosen Gesellschaftsanalyse vollzogen. Mit den Mitteln des Boulevardtheaters geht Melquiot in »Juri« gegen eine Gesellschaft an, die den Anspruch hat, bestimmen zu dürfen, was »französisch« ist und was nicht. Die Tatsache, dass »Juri« – der erste von Melquiots Texten, der tatsächlich an einem Boulevardtheater aufgeführt wurde – dort zu einem absoluten Misserfolg geriet, zeigt deutlich, dass es auch innerhalb des französischen Theatersystems eine Grenze zwischen »ernsthaftem« öffentlich subventioniertem und rein kommerziellem Privattheater gibt, die man als Autor besser nicht überschreitet.

Rémi De Vos ist einer der wenigen Superstars unter den französischen Dramatikern, dem der Spagat zwischen inhaltlichem Anspruch und leichter publikumswirksamer Verpackung mit großem Erfolg gelingt. Seine Texte werden sowohl im Privattheater als auch auf subventionierten Bühnen aufgeführt und auch vielfach nachgespielt (allein von »Abendland« gibt es sechs verschiedene französische Inszenierungen), da die oft sehr volksnahe Komik und der pointierte Dialogwitz auch »schwere« Themen massentauglich machen.

Im krassen Gegensatz dazu steht Gérard Watkins, der mit seiner eigenen Compagnie weitgehend eigene Texte inszeniert und sich ohne Rücksicht auf kommerzielle Verluste als herber, mitunter auch etwas eindimensional mahnender Kritiker unserer Realität positioniert. Anders als De Vos und Melquiot, die mit starken Theaterinstitutionen und Verlagen im Rücken tätig sind, arbeitet Watkins mit seinem Perdita Ensemble, einem Kollektiv aus Schauspielern, Musikern und bildenden Künstlern, ohne festen Ort und Produktionssicherheit. Dabei ist es sicherlich von Vorteil, dass Watkins als Schauspieler immer wieder auch in erfolgreichen Kinoproduktionen auftritt.

Auch Stéphanie Marchais ist ursprünglich Schauspielerin, hat mittlerweile aber quasi die Seiten gewechselt und betreut als Lektorin das Theaterprogramm des kleinen aber feinen Verlages Quartett. Durch ihre extrem poetische Herangehensweise an Theatertexte und die überbordende, teilweise fast barocke Sprache in der Tradition von Autoren wie Paul Claudel ist sie zweifellos die »französischste« Autorin dieser Auswahl. Mit dem hohen sprachlichen Anspruch ihrer Texte hängt vermutlich auch die Tatsache zusammen, dass sie nur selten inszeniert, dafür aber vielfach szenisch gelesen und für den Hörfunk adaptiert werden.

Den Hauptberuf als Schauspielerin merkt man auch den Texten von Sarah Berthiaume deutlich an. Mit wenigen lakonischen Sätzen entwirft sie sehr präzise und komplex angelegte Charaktere, die in ihrer Zerbrechlichkeit und Verschrobenheit einerseits sehr kanadisch sind, andererseits das universelle Porträt einer Generation liefern, die sich in ihren schier unbegrenzten Möglichkeiten verheddert und im Grunde nach einem ganz einfachen banalen Glück sucht. Die gänzlich unzynische Herangehensweise an die Traumata ihrer Figuren machen Texte wie »Yukonstyle« zu liebevollen Hymnen an die kleinen Beschädigungen in uns allen. Mit ihrem unbedingten Glauben an die Notwendigkeit einer Beziehung zwischen den Menschen (den sie mit vielen anderen Quebecer Autoren teilt) bietet Sarah Berthiaume einen kleinen versöhnlichen Lichtblick in der ansonsten relativ pessimistischen Düsternis dieser Textauswahl.

Wir wünschen Ihnen bonne lecture!

Leyla-Claire Rabih und Frank Weigand im Juli 2012

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