Theater der Zeit

Vorwort

von Christel Weiler

Erschienen in: Recherchen 9: Die Berliner Ermittlung von Jochen Gerz und Esther Shalev-Gerz – Theater als öffentlicher Raum (01/2005)

Anzeige

Unter der Geschichte, das Gedächtnis und das Vergessen.
Unter dem Gedächtnis und dem Vergessen, das Leben.
Das Leben zu schreiben aber ist eine andere Geschichte.
Unvollendetheit.

Paul Ricoeur

Was bleibt?

Wir gehen davon aus, dass vergangene Ereignisse, vor allem solche, die verstärkt unsere Aufmerksamkeit beanspruchten, ihre Spuren hinterlassen. Dass sie uns nachhaltig einen Eindruck schenken, der unseren weiteren Alltag mitbestimmt. Und sei es nur der einer unbedeutend scheinenden Verschiebung oder Störung vertrauter Perspektiven. Künftig - so wollen wir glauben - sehen wir nicht nur die Dinge anders, sondern sind die Dinge anders. Freilich nicht lange im Bewusstsein, dass wir eine neue Sicht derselben gewonnen haben. Die Produktivität der Irritation lässt sich kaum ohne besondere Anstrengung auf Dauer stellen. Das »Neue« gerinnt zum Eigenen, verfestigt sich, verschwindet somit - notwendigerweise.

Was also bleibt? Pointiert könnte man sagen: ein bewahrendes Vergessen. Um der gelingenden Alltagsbewältigung willen vergessen wir die Erfahrung der Irritation, des Innehaltens, des sich neu Ausrichtens.

Immer wieder jedoch sind es die Räume der Kunst, der Literatur, des Theaters, die dieser Art von Verfestigung entgegenwirken wollen. Wer sich auf ihr Ansinnen einlässt, hat die Chance, das sicher Geglaubte hin und wieder einer Befragung zu unterziehen.

1965, also vor vierzig Jahren, hatte Peter Weiss' Oratorium Die ERMITTLUNG in beiden Teilen Deutschlands gleichzeitig Premiere. Es war eine erste Sammlung von Stimmen, die die Ermordung der europäischen Juden durch die Nationalsozialisten auf theatral-ästhetische Weise in Erinnerung riefen. Der scheinbaren Ruhe, die sich zwanzig Jahre nach Ende des Krieges ausgebreitet hatte, war zumindest für die Zeit dieses Ereignisses ein Ende gesetzt. In der Zwischenzeit - so kann man rückblickend feststellen - avancierte dieser Text allerdings keineswegs zum Klassiker des deutschen Theaters.

1998 - nehmen wir an, dass es sich um einen Zufall handelte, dass es dieses Jahr war - geriet dieser Text und damit primär die in ihm transformierten Stimmen erneut in den Blickpunkt von Öffentlichkeit. Die Berliner Ermittlung - die Bezeichnung markiert sowohl die zeitliche Abständigkeit als auch den besonderen Ort des Vorgangs - traf weniger auf eine direkt fühlbare Anbindung ihrer Teilnehmer an die Geschehnisse des Krieges; sie hatte sich einzureihen in eine Stimmenvielfalt von Zeugnissen, Dokumenten, Diskussionen, Haltungen und Aktivitäten. Somit konfrontierte sie nicht nur mit den Schreckensbildern von Auschwitz, sondern weitaus mehr mit der Frage: wie Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen gestaltet werden kann, was wir erinnern und woran wir uns wozu erinnern sollen.

Auf den folgenden Seiten wird diesen Fragen in unterschiedlicher Weise nachgegangen. Das Ereignis BERLINER ERMITTLUNG wird nach mehreren Seiten hin ausgelotet. Es erscheint im Rahmen einer Chronologie, präsentiert sich also im Nachhinein mit einer bzw. mehreren Vor-Geschichten. Es wird einer mehrfachen Perspektivierung unterworfen, an zeitgenössische Diskurse angebunden, die es in seiner Einzigartigkeit verschwinden lassen, ohne es vergessen zu wollen; es wird aus der Sicht der Verantwortlichen kommentiert, erinnert, re-konstruiert, aus der Innenansicht von Beteiligten kritisiert, verglichen und angenommen zugleich. Keiner der Texte allerdings kann uns darüber täuschen, dass das Ereignis der Vergangenheit angehört.

Was also bleibt?

Gelungen scheint die Mühe der nach-träglichen Beschreibung von Vergangenem, wenn die Lektüre ein Moment von Verunsicherung nicht nur behaupten, sondern tatsächlich in den Leserinnen und Lesern entstehen lassen könnte. Eine Irritation, die verbunden ist mit der ernsthaften Frage danach, wie wir künftig - wissend um die Gräuel der Geschichte - miteinander umzugehen denken.

Christel Weiler Berlin, März 2005

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Die „bunte Esse“, ein Wahrzeichen von Chemnitz
Alex Tatarsky in „The Future Is For/ Boating“ von Pat Oleszkos, kuratiert von ACOMPI für die Galerie David Peter Francis, Juni 2024, vor dem Lady Liberty Deli im St. George Terminal, Staten Island, New York