2.1.3 Die Eroberung des affektiven Zuschauer*innen-Körpers
von Theresa Schütz
Erschienen in: Recherchen 164: Theater der Vereinnahmung – Publikumsinvolvierung im immersiven Theater (05/2022)
Kunst und Theater lassen sich ganz allgemein als Affizierungsmaschinen beschreiben. Denn sowohl auf der Ebene der Darstellung oder Repräsentation wie auch auf der Ebene der Wirkung werden Affekte entweder zum Ausdruck gebracht oder gezielt ausgelöst. In welchem Verhältnis Darstellung, Sprache und Handlung beim Erzeugen von Jammer und Schauder und einer damit einhergehenden »Reinigung der Affekte« der Zuschauer*innen am Beispiel der griechischen Tragödie stehen, hat bekanntlich bereits Aristoteles in seiner Poetik untersucht, wodurch markiert ist, dass solcherlei Fragen so alt sind wie die abendländische Theatergeschichte selbst (vgl. Kolesch, 2014, S. 124). Da der Affektbegriff bis in die ästhetischen Debatten des 17. und 18. Jahrhunderts vornehmlich passiv gedacht wurde – als etwas, das auf den Menschen gleichsam von außen einwirkt –, und bestimmte Affekte als überindividuell galten, kam den Künsten vornehmlich die Aufgabe zu, an einer bestimmten normativ gedachten »Affektregulation« und »Erziehung der Gefühle« mitzuwirken (vgl. Grimm, 2000, S. 17). Das Theater wurde auf diese Weise »zum Medium der Einübung und Sozialisierung des gesellschaftlich geforderten Umgangs mit Gefühlen« (Kolesch, 2014, S. 124) und Affekten. In der Theatertheorie der Aufklärung dominiert dann vor allem eine ausdrucksästhetische Auseinandersetzung, die mit der Frage verbunden ist, auf welche Weise Emotionen und Affekte von Schauspieler*innen am wahrhaftigsten verkörpert und inwieweit äußere Zeichen von den Zuschauer*innen als Zeichen für innere Gemütszustände lesbar gemacht werden können. Damit verschiebt sich der Fokus von überindividuellen, von außen auf den Menschen einwirkenden Affekten auf »individuelle und mehrdeutige Gefühle« (ebd., S. 125) und die jeweilige Begabung der Schauspielenden, diese angemessen zum Ausdruck zu bringen. Im 20. Jahrhundert – insbesondere bei den Avantgarden – überwiegen dann wieder wirkungsästhetische Überlegungen zu einer gezielten Emotionalisierung der einzelnen Zuschauenden oder einer ganzen Zuschauermenge. Sei es im synthetischen Theater der Futuristen, in Artauds theaterästhetischen Visionen oder in Piscators politischen Revuen: Im Fokus standen nun vornehmlich die Erregung, Aktivierung und Affizierung des einzelnen oder kollektiven Publikumskörpers (vgl. u. a. Warstat, 2011, S. 77 – 90).
Vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen in verschiedenen Medienkünsten vom Film über Installationskunst bis zur virtuellen Realität (sowie der sie begleitenden wissenschaftlichen Diskurse) diagnostiziert Marie-Luise Angerer eine verstärkte Fokussierung des sensitiven Zuschauer*innen-Körpers (vgl. Angerer, 2007, S. 25) und eine damit einhergehende, »neue[] Zentrierung auf das Affektive« (ebd., S. 36) als Ausdruck einer (alten) »Sehnsucht nach dem Unmittelbaren, Direkten, Nicht-Mediatisierten« (ebd., S. 9). Diese stehe im Zusammenhang mit der paradigmatischen Abkehr von der visuellen Zentrierung der Rezipierenden zugunsten haptischer Wahrnehmungserfahrungen sowie eines Zwangs zur Bewegung. In Video-, Sound- oder Rauminstallationen von Char Davies, Bill Viola, Janet Cardiff und George Bures Miller oder Olafur Eliasson werde der Zuschauer*innen-Körper zum Medium der Kunsterfahrung. An die Stelle bewusster Wahrnehmung trete nicht nur die Adressierung, sondern eine regelrechte »Eroberung des affektiven Körpers« (ebd., S. 36). Auch immersive Theaterdispositive zielen darauf, involvierte Zuschauer*innen in ihrer Ganzheit mit Raum und Weltversion in Beziehung zu setzen, und also nicht nur Geist, rationales Denk- und Imaginationsvermögen zu binden, sondern sie dezidiert auch als fühlende, spürende und leiblich affizierbare Teilhabende anzusprechen.
Wichtig ist an dieser Stelle festzuhalten, dass wir es in den Ausführungen Angerers mit einem völlig anderen Affektverständnis zu tun haben als dem eingangs am Beispiel historischer Theaterformen zitierten. Mit der Etablierung der Affect Studies46 in den Kultur-, Geistes- und Sozialwissenschaften kam es im Verlauf der letzten zwei Dekaden zu einer neuen, interdisziplinären Verständigung darüber, »was ›Affekt‹ ist, [und] wie sich Affekte oder affektive Prozesse, Zustände oder Dynamiken adäquat fassen und theoretisch eingrenzen lassen« (Slaby, 2018, S. 53). Um diese Fragen zu beantworten, rekurrieren weite Stränge der Affect Studies auf die (über Gilles Deleuze vermittelte) »Ethik« des Philosophen Baruch de Spinoza, in dessen drittem Teil er eine eigene Affektenlehre entwirft. Unter Affekte versteht er »Affektionen des Körpers, von denen die Wirkungsmacht des Körpers vermehrt oder vermindert, gefördert oder gehemmt wird, und zugleich die Ideen dieser Affektionen« (Spinoza, 2010, S. 223). Affektionen bezeichnen in seinem monistischen Denken bestimmte Modalitäten einzelner erkennbarer Entitäten in einer dynamischen, relationalen Ontologie (vgl. Slaby/Mühlhoff 2019, S. 29), und nur solche, die die Wirkungsmacht von Körpern vermehren oder vermindern, nennt Spinoza Affekte. Letztere bezeichnen also eine machtvolle, relationale Kraft oder Intensität, die zwischen verschiedenen Entitäten wirkt und diese verändert zurücklässt. Körper kommen auf diese Weise als Ergebnis affektiver Modulationen (vgl. Angerer, 2015, S. 167) und Individuen als »sich in einer komplexen Beziehungsdynamik vorübergehend stabilisierende Knotenpunkte, die mit anderen Individuen und einem gemeinsamen prägenden Milieu verwoben [sind]« (Slaby/Mühlhoff 2019, S. 30, dt. TS) in den Blick. Aus dieser Definition ergibt sich zumindest für Teile der Affect Studies die entscheidende sozialontologische Denkfigur relationalen Affizierens und Affiziert-Werdens: »Ein Affekt ist ein Wechsel oder die Transformation eines Körpers, die durch die Begegnung mit einem anderen Körper ausgelöst wird, […] [wobei gilt:] Körper können andere Körper nicht affizieren, ohne selbst affiziert zu werden – alles was affiziert, wird auch selbst affiziert« (Kwek/Seyfert, 2015, S. 128).
Eine solche Perspektivierung eröffnet die Möglichkeit, nicht mehr vornehmlich menschliche Individuen und ihre jeweiligen psychologischen Beweggründe, sondern die verschiedenen Intensitäten und Beziehungsqualitäten zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Körpern in den Fokus zu rücken. Affekte werden damit nicht (mehr) als innerliche Zustände eines Individuums, sondern als Bestandteile komplexer, raum-zeitlich ausgedehnter, sozial-relationaler Situationen zwischen Körpern und ihren jeweiligen »Beziehungsgeschichte(n)« (Slaby/Mühlhoff, 2019, S. 31, dt. TS) des Affizierens und Affiziert-Werdens gefasst. Für Affektdenker Brian Massumi resultiert daraus, Körper selbst als prozessuale, sich im Wandel befindliche Ereignisse affektiver Modulationen zu begreifen. Woraus wiederum folgt, auch Subjektivität als verkörpertes, relationales Werden anzunehmen (vgl. Massumi, 2010, insbesondere S. 72ff.).47 Für Massumis Denken ist entscheidend, Affekt und Emotion kategorial voneinander zu unterscheiden. Während Affekte vom Körper unmittelbar nur als Bewegung bzw. als »Intensität« gespürt werden können, damit eine gleichsam »präsubjektive« Ebene adressieren, die nicht vom Bewusstsein eingeholt werden kann, sind Emotionen »der Ausdruck des Affekts in Gesten und Sprache« (ebd., S. 54) und damit phänomenologisch zugänglicher Erfahrungsinhalt. Je nach historischem Kontext lassen sich diese Erfahrungsinhalte als bereits in kulturelle Bahnen und semantische Kontexte gefasste Kategorien wie z. B. Angst, Wut, Scham oder Freude definieren (vgl. von Scheve, 2019, S. 43).
Dass ich mich der Massumischen Unterscheidung von Affekt und Emotion nicht anschließe, manifestiert sich in dieser Studie über meine vielfachen Bezugnahmen auf Sara Ahmed, die in ihren Texten Emotion, körperliches Spüren und Kognition dezidiert zusammendenkt. Sie folgt der Überzeugung, dass Emotionen keine innerlichen, individuellen, psychologischen Zustände, sondern soziale und kulturelle Praktiken, ja, »forms of action« (Ahmed, 2014, S. 4) sind. Schmerz, Ekel oder Glück sind für Ahmed kontingente, kulturell zirkulierende und materialisierende Beziehungsweisen, die Körper sozial-relational prägen, mit Bedeutungen verkleben und in der Welt (wie auch zur Welt) ausrichten. Die strukturelle Erzeugung von Emotionen verstanden als ein kontinuierlicher – auch diskursiver – Prozess von »doing emotions« bringt Körper als Subjekte mit bestimmten Re-Aktionsweisen hervor.
Für immersive Theaterdispositive ist entscheidend, dass sie nicht nur den Zuschauer*innen-Körper mit Strategien desorientierender Raumwahrnehmung, spezifischem Geruchs- und Sounddesign oder sozialen Begegnungen konfrontieren, situativ vereinnahmen und damit affektiv modulieren, sondern dass es auch zur gezielten Herstellung bestimmter Emotionen wie Unsicherheit, Angst, Überforderung, Scham etc. kommt.48 Im Unterschied zu Theateraufführungen im konventionellen Dispositiv verbleiben die erzeugten Emotionen nicht im Zuschauerraum, sondern kommen im von allen und allem geteilten Erfahrungsraum gleichsam selbst zur Aufführung; als unmittelbare Verkörperungen geraten sie damit on display.49 So werden sie nicht nur zum Gegenstand wechselseitiger (Selbst-)Beobachtung, sondern können im Aufführungsverlauf handlungsauslösendes oder bedeutungsstiftendes Potential entfalten. Sei es, indem ein*e Performer*in auf die emotionale Reaktion einer*eines Zuschauenden direkt reagiert und sie zum Gegenstand einer gemeinsamen, diskursiven Aushandlung macht (wie es bei SIGNA oft der Fall ist), oder sei es, dass Emotionen (wie bei Punchdrunks Sleep no more) zum konstitutiven mit-erzählenden Element der Wirklichkeitssimulation werden (vgl. Kap. 2.2.3). Wie die Analysen in Kapitel 4 darlegen werden, forcieren immersive Aufführungsdispositive komplexe Affizierungs- und Emotionalisierungsprozesse. Indem sie Situationen herbeiführen, in denen die strukturelle Erzeugung bestimmter Emotionen – wie Nostalgie, (An-)Spannung, Ekel oder eine Sehnsucht nach Zugehörigkeit – begünstigt wird, nehmen sie Zuschauer*innen-Körper affektiv ein und führen ihnen über gelebte Erfahrungen des zur Weltversion Ausgerichtet-Werdens am eigenen Leib vor, in welcher Weise und welchem Maß Emotionen sozial-relational verfasst sind und (in-)dividuelle50 Selbst-/Weltverhältnisse inner- wie außertheatral mitformieren.
46 Mit der Bezeichnung Affect Studies adressiere ich jene um die Jahrtausendwende entstandene Theoriebewegung, die sich aus verschiedenen feministischen, posthumanistischen und Strängen des Neuen Materialismus innerhalb der Cultural Studies heraus entwickelte und hinsichtlich der Methoden, Theorien und Schreibstile äußerst divers aufgestellt ist. Für einen Überblick siehe Gregg/Seigworth, 2010, Clough, 2007 oder Slaby, 2008. Als zentrale Vertreter*innen gelten Brian Massumi, Lauren Berlant, Eve Sedgwick, Margaret Wetherell, Lawrence Grossberg sowie Sara Ahmed, auf deren Schriften ich in meinen Analysen verstärkt Bezug nehme.
47 In der Theaterwissenschaft war Gerko Egert einer der Ersten, der Erkenntnisse dieser theoretischen Strömung auf die Analyse von Aufführungen angewendet hat. In seiner Studie Berührungen. Bewegung, Affekt und Relation im zeitgenössischen Tanz (2016) zeigt er, was es heißt, Affekte weder als innerliche Zustände noch als verkörperte Repräsentationen ebensolcher zu begreifen, sondern als im Raum miteinander produzierte Zustände zwischen bewegten und sich bewegenden Körpern (auf der Bühne wie auch seitens der Zuschauer*innen).
48 Für die beispielgebende, sozial-relationale Erzeugung von Schuldgefühlen bei teilnehmenden Zuschauer*innen während der Performance-Installationen Schuldfabrik von Julian Hetzel und Guilty Landscapes von Dries Verhoeven siehe Schütz, 2019.
49 Zum Zusammenhang von »display« und »displacement« in immersiven Produktionen von Thomas Bellinck oder SIGNA siehe auch Wihstutz, 2019, insbesondere S. 45 – 47.
50 Die Schreibweise »(in)dividuell« verweist auf jene produktive Umakzentuierung, die Michaela Ott – über Simondon und Deleuze und das Konzept des »Dividuellen« bzw. der »Dividuation« – vorgenommen hat, vgl. Ott 2015. Im Kern geht es auch hier darum, das Individuum nicht mehr als ungeteiltes Einzelding (und neoliberales Subjekts) zu verstehen, sondern von »dividuellen Selbstverhältnissen« (ebd., S. 163) auszugehen, von »Interverhältnissen« (ebd., S. 57) und dynamischen Teilhabeprozessen, die Subjekte konstitutiv hervorbringen.