Delay, Verspätung, ist eines der Schlüsselwörter in Thomas Köcks Stück „atlas“. Ein verspäteter Anschlussflug reißt ein Loch in die Zeit, Wartezeit für eine junge Frau, „totzeit die / einzig wahre utopie vielleicht“, heißt es. Ortlos, eingespannt im Transitbereich eines Flughafens, füllt sich dieses Loch, stürzen von den Bewusstseinsrändern her fragmentarisch erinnerte Szenen, Geschichten, Lebensläufe, Orte und Zeiten hinein, heften sich vage aneinander, formieren sich zu einer Geschichte und zu Geschichte. Denn auch die großen Zeitläufte scheinen angehalten – Historie tritt in die REM-Phase, in der die Ereignisse verarbeitet werden. Nur dass das bei Köck keine Traumarbeit ist, sondern politische Traumata-Arbeit. Anhand einer einzigen Familiengeschichte betreibt „atlas“ eine Geschichtsschreibung, die von den menschlichen Kollateralschäden der Weltpolitik erzählt, unausgesprochen vererbt über Generationen.
Der Tan Son Nhat International Airport in Ho-Chi-Minh-Stadt im Süden Vietnams, auf dem die junge Frau unfreiwillig festsitzt, ist Zwischenstopp einer Recherchereise, auf der sie nach dem Tod ihrer Mutter einer Familientragödie nachgeht. Es wird eine vietnamesisch-deutsche Familienaufstellung, inklusive Kaltem Krieg, Exil, Mauerfall und dauernder Angst. Also auch eine Migrationsgeschichte: Die Mutter, angeblich ein Waisenkind, kam als vietnamesische Vertragsarbeiterin in die DDR, bekam dort trotz Ausreiseandrohung im Falle einer Schwangerschaft ein Kind, diese Tochter. Vor 1989 in Wohnblöcken kaserniert,...