Vorwort
von Markus Joss und Jörg Lehmann
Erschienen in: Lektionen 7: Theater der Dinge – Puppen-, Figuren- und Objekttheater (10/2016)
Das Gespräch mit Theatergängern oder -machern, die dem Puppenspiel, dem Figuren-, Objekt- oder Maskentheater, dem Schattenspiel oder Material - theater … also all den Spielarten der Darstellung, die wir hier unter dem Oberbegriff THEATER DER DINGE zu fassen suchen, verbunden sind, kommt oft geradezu unweigerlich auf Erweckungserlebnisse. Das sind erste, überraschende, oftmals ausschlaggebende Begegnungen mit dieser Form von Theaterkunst. Meist sind es Liebeserklärungen.
Eine geht so: An einem heißen Sommertag in den 1990er Jahren saß ein frisch gebackener Absolvent der Fachrichtung Literatur- und Theaterwissenschaften in einem Keller der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin und schaute kritisch-interessiert auf das Spiel eines Studierenden des Studiengangs Puppenspielkunst. Der Spieler probte an seinem Diplomstück und hatte ihn „dazugeholt“, er hätte „das doch studiert“, … außer - dem waren sie befreundet, „komm doch mal vorbei“. Da saß er also und schaute angestrengt auf den ersten Versuch einer Szene, in der begehrt wurde. Diese steckte tief in der dadaistischen Logik einer Prosageschichte von Kurt Schwitters: Amanda, „die schönste Frau des Ozeanriesen Paffnich …“, und ihr Held Nasebyll hatten sich unter einem fadenscheinigen Vorwand endlich den Blicken der Mitreisenden ent- und in die Kabine des Kapitäns zurückgezogen. Nun ging es um einen der schwierigsten Vorgänge, nicht nur im realen Leben, sondern vor allem auf der Bühne: die beginnende Liebe zweier Menschen. Amanda begehrte Nasebyll, er sie – aber keiner traute sich, den ersten Schritt zu wagen, das erlösende Wort zu sprechen. Wie oft hatte man sich bei der Bebilderung eines solchen sehr besonderen Moments schon fremdgeschämt, zu Hause auf dem Sofa, bei der Betrachtung einer Vorabendserie ebenso wie im Zuschauerraum des Stadttheaters. Der plötzlich zum Regisseur Erklärte hatte für diesen Vorgang keinen Vorschlag und versuchte, sich in einen unbestimmten Gesichtsausdruck zu retten. Trotz Kellerraum war es warm im Scheinwerferlicht. Der wiederholt suchende Blick in den Text hielt keine Rettung bereit. Die beiden Puppen warteten auf dem Spielbrett. Das Meer rauschte und die Zeit tropfte herein.
Da griff der Spieler an Amandas, so Schwitters, „schlanken Blusenhals“ (Amanda war eine Tischpuppe und hatte aus zu diesem Zeitpunkt vom plötzlichen Spielleiter noch nicht hinterfragten Gründen statt Beinen zwei Rollen), zog diesen etwas nach oben, ließ sie zu Nasebyll hinüberlugen, der immer noch so tat, als betrachte er durch das Bullauge, das eine Lupe war, das Meer: und dann fuhr Amanda auf ihren Rollen langsam, in zuerst unmerklichen, winzigen Bewegungen vor und zurück, hin und her, um dabei immer wieder (wie jetzt deutlich zu sehen war) schüchtern zu ihm zu blicken, dabei tanzend, wie ein Uhrpendel: eine poetische Unmöglichkeit. Ungeduld, Zögern, Warten, zum Sprung Ansetzen, die Angst, der Moment könne misslingen, keine Worte zu haben: Das alles war in dieser schlicht anmutenden Bewegung enthalten. „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ stand unmittelbar und in großen Lettern im Probenraum. Und dieser Zauber wurde zum Ereignis: Es quietschte, erst leise, dann unüberhörbar. Die Rollen aus Holz, das Material spielte beim Begehren mit, gaben den Rhythmus, die Atmosphäre des Vorgangs vor, die Szene war unendlich lustig, traurig, absurd, vor allem aber – beängstigend menschlich. Kein Wort war gesprochen worden, die Dinge spielten Theater.
Von diesem Moment an war der bis dato im eher akademischen Blick auf das Theater geschulte temporäre Spielleiter mit etwas ihm bisher Unbekanntem nachhaltig infiziert und blieb, nicht nur für die Dauer dieser Probe, neugierig auf seinem Stuhl sitzen, das Quietschen in der Inszenierung und eine Frage im Kopf.
Das Zustandekommen des vorliegenden Buchs ist vom anhaltenden Wunsch der Herausgeber beflügelt, den Zauber, das Überraschende des Anfangs dieser ersten Begegnungen mit dem Theater der Dinge im Nachhinein vielleicht besser lesen, verstehen zu können. Um der Frage nachzugehen: Was ist das Besondere, die Kraft, letztlich das magische Andere dieser Theaterform? Was ist es, das da von der Bühne herab in einer unerhörten Leichtigkeit, aber mit Nachdruck nach uns greift? Ist die Puppe, der Schatten, das Objekt, das Ding vielleicht so etwas wie das „mythische Element“ des Theaters?
Dieses Buch will eine Handreichung für all diejenigen sein, die sich für Spielformen des Puppen-, Figuren- und Objekttheaters interessieren. Wir fassen diese Spielarten der Darstellenden Kunst in dieser Publikation unter den Begriff Theater der Dinge und stellen dessen Spezifik und Historie, die Ausbildung und mögliche Arbeitsfelder vor. Durch Bündelung verstreuter Veröffentlichungen und durch eine Vielzahl von für diesen Band entstandenen Texten und deren Zusammenstellung wird eine Lücke im Diskurs und der Wahrnehmung dieser innovativen Spielart von zeitgenössischem Theater für Theaterschaffende, Lehrende und Lernende geschlossen.
Der 1. Teil des Buches ist der Historie gewidmet und beginnt mit einem einführenden Essay von Silvia Brendenal, in welchem die Bandbreite gewachsener Spielweisen im Theater der Dinge aufgezeigt wird. Es folgen in chronologischen Kapiteln Schlaglichter auf jene Momente der Geschichte des Gegenstandes, in denen die Puppe, das Objekt, das Ding auf der Bühne selbst zum Protagonisten, zum Impulsgeber für das jeweilige Theater wurde oder aber den Referenzpunkt für avantgardistische Entwürfe darstellte. Historische Quellen, Aufsätze und Gespräche werden zu diesen Momentaufnahmen geordnet und durch einleitende Texte der Herausgeber gerahmt.
Der 2. Teil des Bandes stellt die Ausbildung für das Puppen-, Figuren- und Objekttheater im Rahmen eines Studiums an einer Kunsthochschule vor.
Die Möglichkeit eines solchen Studiums ist in der deutschen Bildungslandschaft relativ jung. 1971/72 wurde der Studiengang Puppenspielkunst an der damaligen Staatlichen Schauspielschule, heute Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin gegründet. 1983 folgt der Studiengang Figurentheater an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart. In den ersten Beiträgen des Kapitels kommen die langjährigen Leiter der beiden Studiengänge zu Wort und wir erfahren etwas über die gesellschaftliche Situation, in der diese Gründungen stattfanden, und einiges über die sich rasch abzeichnenden differenten methodischen und ästhetischen Feldbestimmungen.
Beiden Gründungen gemeinsam ist die Zuordnung der Studiengänge zu Hochschulen der Darstellenden Kunst, Studienziel in Stuttgart wie in Berlin ist die Entwicklung der Studierenden zu Darstellenden Künstlerinnen und Künstlern. Beiden Studiengängen ist aber immer auch eine starke Affinität zur Bildenden Kunst eigen, das Potential des Theaters der Dinge entspringt u. a. aus der Verortung an genau dieser Schnittstelle. Folglich sieht sich auch die Ausbildung in dieser Form der Darstellung mit der besonderen Herausforderung konfrontiert, die Elemente und Einflüsse aus Theater und Bildender Kunst sichtbar zu machen, innerhalb des Studiums zu gewichten, sie in wechselseitiger Beeinflussung nutz- und erlebbar zu machen – das ist die Kraftquelle, aber auch eine Herausforderung an Lehrende und Lernende zugleich, mitunter bis zum methodischen und künstlerischen Spagat.
Nach diesen beiden Texten zur Geschichte der Studiengänge berichten dann gegenwärtig Lehrende beider deutscher Hochschulen in Form von Essays und Gesprächen über ihre Setzungen, Erfahrungen und Visionen in und für ihre jeweiligen Ausbildungsbereiche. Dabei wurde versucht, das Studium der Zeitgenössischen Puppenspielkunst in Berlin und des Figurentheaters in Stuttgart nicht streng nach dem jeweiligen Curriculum abzubilden, sondern einzelne Bereiche von zu erlernenden Tätigkeiten und Fertigkeiten unter Schlagworten zusammenzufassen.
Teil 3 des Buches versammelt neben den wichtigsten Daten, Bewerbungszeiten etc. der beiden deutschen Hochschulen die Adressen und Kontaktmöglichkeiten aktueller Ausbildungsstätten.
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde bei Aufzählungen durchgängig die maskuline Schreibvariante verwendet.
Wir möchten uns ganz herzlich bei unserer Lektorin Nicole Gronemeyer für ihre leisen, aber beharrlichen Hinweise und bei Silvia Brendenal für freundschaftliche Beratung, Ansporn und elementare Unterstützung bedanken.
Markus Joss und Jörg Lehmann
Berlin, Juli 2016