Theater der Zeit

Auftritt

Hamburg: Raus aus dem System der Unterdrückung

Thalia Theater: „Wer einmal aus dem Blechnapf frisst“ von Hans Fallada. Regie Luk Perceval, Bühne Annette Kurz, Kostüme Annelies Vanlaere

von Jakob Hayner

Erschienen in: Theater der Zeit: Playtime! – Der Theatermacher Herbert Fritsch (05/2017)

Assoziationen: Thalia Theater

„Ihr lasst den Armen schuldig werden …“, schrieb Rudolf Ditzen, besser bekannt als Hans Fallada, anlässlich der Neuausgabe seines Romans „Wer einmal aus dem Blechnapf frisst“ im Dezember 1945. Falladas Buch von 1934, zwei Jahre nach dem großen Erfolg von „Kleiner Mann – was nun?“ erschienen, erzählt die Geschichte des Sträflings Willi Kufalt. Das Buch war zwar von den Nazis nicht verboten, aber doch kritisch beäugt worden – was das Verhältnis von Fallada zu den nationalsozialistischen Machthabern ganz gut beschreibt. Der Autor verbrachte die Jahre zwischen 1933 und 1944 im idyllischen Carwitz im Mecklenburgischen, doch 1944 wurde er inhaftiert – weil er betrunken auf seine Frau geschossen hatte. Es war nicht sein erster Gefängnisaufenthalt. Fallada war in den Zwanzigern, wie sein Protagonist Willi Kufalt, wegen Unterschlagung zu einer – wenn auch weitaus kürzeren – Haftstrafe verurteilt worden. Fallada wusste, wovon er schrieb. Sein Buch ist eine Anklage, die Anklage an ein System der Unterdrückung, zu dem auch das Gefängnis gehört. „Kittchen“ heißt das bei Fallada. Das ist auch eines der Wörter, das an dem Abend im Thalia Theater bei Luk Percevals Inszenierung des Romans oft zu hören ist. Und wer einmal im Kittchen war, wird auch wieder dort landen. Vor allem das Bühnenbild von Annette Kurz verdeutlicht dies: Im Hintergrund hängt ein großes Tuch, auf dem die Schemen eines Kettenkarussells zu sehen sind, das sich manchmal dreht, mal schneller, mal langsamer. Jeder an seinem Platz, bewegt sich das Ganze zwar, bleibt jedoch im Bezugssystem unverändert, kehrt zum Ausgangspunkt zurück.

Fallada schrieb über „Wer einmal aus dem Blechnapf frisst“, dass der Roman zeige, „wie der heutige Strafvollzug und die heutige Gesellschaft den einmal Gestrauchelten zu immer neuen Verbrechen zwingt“. Angesichts dieses „Gefängnis-industriellen Komplexes“ – wie in der wissenschaftlichen Literatur ein vor allem in den USA weit entwickeltes hypertrophes System von staatlich subventionierten Privatgefängnissen mit eigener Produktion auf Grundlage von Zwangsarbeit bezeichnet wird – wäre etwas Öffnung der Inszenierung zur Gegenwart angebracht gewesen. Wer in den USA einmal inhaftiert ist, muss mit dem Verlust von Bürgerrechten wie dem Wahlrecht und dem Ausschluss vom Arbeitsmarkt sowie von Sozialleistungen rechnen – womit für viele der Weg in die Schattenwirtschaft und Kriminalität festgeschrieben ist. Die Entwicklung der Privatisierung und Ökonomisierung der Gefängnisse ist auch hierzulande zu beobachten: Im sachsenanhaltinischen Burg eröffnete 2009 das erste Privatgefängnis Deutschlands, unter anderem betrieben von dem Bau- und Dienstleistungskonzern Bilfinger Berger, der sich für diesen Geschäftszweig sehr interessiert (das Gefängnisgeschäft läuft börsennotiert mit 5,5 Prozent Dividende, „stabiler Cashflow“, wie es heißt). Vorstandsvorsitzender des Konzerns war in den Jahren darauf der CDU-Politiker Roland Koch, als hessischer Ministerpräsident für seine Law-and-Order-Politik bekannt. Auch an die Radikalisierung französischer Kleinkrimineller aus den Banlieues zu islamistischen Mördern mag man im Zusammenhang mit dem Thema noch denken. Doch Aktualität und Dringlichkeit des Stoffs bleiben bei der Inszenierung merkwürdig abwesend.

Falladas Personal aus dem Hamburg der zwanziger Jahre wird, im entsprechenden Kostüm (Annelies Vanlaere), zumeist als überzeichnete Karikatur auf die Bühne gebracht. Das verhindert leider ein substanzielles Figurenspiel und ist zudem nur selten lustig, was auch mit dem Einsatz von Dialekt nicht zu retten ist. Am überzeugendsten sind noch die Darstellungen von Bernd Grawert als Lustmörder Beerboom und Christina Geiße in den Frauenrollen. Die Ordnungsinstanzen, Wärter und Pfarrer (aus einer Zeit, bevor diese Bereiche in der Figur des Sozialpädagogen zusammengefallen sind), treffen auf die Delinquenten, Alkoholiker, Sträflinge und weitere Verwahrte in den Besserungsanstalten. Das Ensemble rollt meist mit Bürostühlen (oder im Gitterbett) auf und über die Bühne. Eine der besten Szenen ist die Darstellung eines Schreibbüros: Mit Holzratschen wird, auf Kommando einer Trillerpfeife, Tempo und Geräusch der zu bedienenden Schreibmaschinen imitiert, bis zur Ermüdung der wedelnden Arme. Alle rotieren, das macht viel Lärm, hat aber keinen Inhalt. Hier zeigt sich auch die Fragwürdigkeit der bürgerlichen Ordnung, in die sich der bis auf einen Ausbruch stoisch dargestellte Kufalt (Tilo Werner) integrieren soll. Dass der Abend letztlich wenig Überzeugungskraft entwickelt, liegt auch daran, dass die Vorstellung schon akustisch in den ersten Reihen verebbt. Das sorgt in den hinteren naturgemäß für Unmut und Unruhe. Noch vor dem Schlussapplaus setzt eine Fluchtbewegung ein, die dann doch überrascht. Das war doch nur Theater – kein Gefängnis. //

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