Kleist/Versionen
Erschienen in: Recherchen 12: Das Politische Schreiben – Essays zu Theatertexten (10/2012)
Vers leitet sich von versus, dem Ausdruck für das Wenden beim Pflügen her. Bei Kleist findet sich die vielfach variierte, zugleich sprachlich-rhetorische, narrative und dramaturgische Figur einer eigentümlichen Umwendung – wie beim Ziehen der Ackerfurche oder in der Flugbahn eines Geschosses: Ein höchster oder äußerster Punkt wird erreicht, an dem Aufschwung und Fall, Wendepunkt und Stillstand ununterscheidbar werden. Was Kleist überall sucht und findet, ist die Figur eines Zwischen, eines toten Punkts, an dem es weder auf noch ab, weder vor noch zurück geht. Durch einen Schock, eine unvermutete Wendung der Dinge finden diese sich in einem Zustand, dem eine allen Einbrüchen des Außen ausgelieferte Kraftlosigkeit innewohnt und der gleichwohl mit der äußersten potentiellen Energie geladen ist. Dieser infinitesimale Hohlraum und Zwischenpunkt ist zugleich die Stelle einer möglichen Unterbrechung: utopischer Ausbruch, Sprengung der Logik, welcher die Bahn folgte, aber auch Moment einer virtuellen oder wirklich eintretenden Katastrophe.
Im vollen Bewusstsein der Vorläufigkeit und Verspätung zugleich, das sich notwendig einstellt, wenn man als Nicht-Spezialist über einen Autor spricht, bei dem eine im Internet publizierte Bibliographie allein der 90er Jahre 100 Seiten umfasst, versuche ich im Folgenden, an Kleist eine Dramaturgie der Version ins Auge zu fassen und in die Perspektive neuerer...