Sehnsucht nach dem Gesamtkunstwerk – und der Zweifel an der Sprache
von Jörg Lehmann
Erschienen in: Lektionen 7: Theater der Dinge – Puppen-, Figuren- und Objekttheater (10/2016)
Ein Jahrzehnt vor der Wende zum 20. Jahrhundert veröffentlicht der belgische Dramatiker Maurice Maeterlinck einen Text unter dem Titel Androidentheater (Quelle 15), in welchem in aller Zurückhaltung eine grundlegende Reform des Theaters formuliert wird: „Vielleicht wäre es notwendig, alles Lebendige ganz von der Bühne fern zu halten.“
Der heutige Leser reibt sich verwundert die Augen – ist die Datierung falsch? Befinden wir uns denn nicht im Jahr 1890 in Europa mitten in der Zeit des Siegeszugs eines naturalistischen Theaters? Eines Theaters, in welchem der Dialog unangefochten im Mittelpunkt der Bühnenhandlung steht, die Wohnzimmer immer detailgetreuer ausgestattet werden, schlesische Weber schlesischen Dialekt sprechen, in denen in Gärten Tee getrunken wird, während in anderen Kirschbäume gefällt werden, aber vor allem: Menschen auf der Bühne leben und lieben, durch Türen gehen, Mäntel ablegen und an Tischen sitzen?
„Das lange 19. Jahrhundert“, wie Joachim Fiebach in seiner 2015 erschienenen Welt Theater Geschichte das betreffende Kapitel der Theatergeschichte überschreibt, ist ein für die Genese des Theaters der Dinge höchst spannungsgeladener und vor allem für dessen öffentliche Wahrnehmung überaus ambivalenter Zeitraum. Fiebach konstatiert: „Vielleicht zu keiner anderen europäischen Zeit gab es so viel und vielfältig ausdifferenziertes, professionell betriebenes Theater und einen so erstaunlichen Reichtum...