Theater der Zeit

Thema

Rückkehr zum Dreiweg

Zur Aktualität des Chors im Theater

von Sebastian Kirsch

Erschienen in: Theater der Zeit: Alles außer gewöhnlich – Die Schauspielerin Jana Schulz (03/2017)

Seit gut 2500 Jahren steht bei Sophokles: Als Ödipus vom delphischen Orakel zu hören bekam, dass er sich „mit der Mutter vermischen müsse“, geriet er in Panik. „Und ich, als ich das gehört hatte, floh dorthin, wo ich niemals die Schandtaten, die mir das furchtbare Orakel vorhersagte, erfüllt sähe“, gibt der unglückliche Tragödienheld zu Protokoll. Vielleicht hätte Ödipus in Delphi aber besser zweimal hingehört, anstatt in kopfloser Angst eine Entscheidung zu fällen, die dann zu den bekannten Ergebnissen führte. Oder auch dreimal. Der in altphilologischen Fragen überaus versierte Rechtshistoriker Egon Flaig hat es vor einigen Jahren im Detail untersucht: So wie er von Sophokles’ Ödipus wiedergegeben wird, kann der berühmte Spruch der delphischen Pythia tatsächlich auf drei verschiedene Weisen verstanden werden. Und jene Bedeutungsmöglichkeit, die Ödipus sich wählte, ist nicht unbedingt die wichtigste. Denn „sich mit der Mutter vermischen“ kann im altgriechischen Original zwar natürlich den inzestuösen Verkehr mit der leiblichen Mutter bezeichnen, den Ödipus so fürchtet. Es kann im Wortlaut aber auch bedeuten: „die Herrschaft in der eigenen Mutterstadt übernehmen“ – was Ödipus, der schon bald nach seiner Orakelvisite den thebanischen Thron besteigt, unwissentlich auch tun wird. Vor allem aber kann die Wortkette schlicht und ergreifend meinen, dass man...

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