Auftritt
Mühlheim: Man kriegt, was man flieht
Theater an der Ruhr: „Leonce und Lena“ von Georg Büchner. Regie Philipp Preuss, Ausstattung Ramallah Aubrecht
von Martin Krumbholz
Erschienen in: Theater der Zeit: Wie es euch gefällt – Christian Friedel vertont Shakespeare (12/2016)
Assoziationen: Theater an der Ruhr
Wenn König Peter vom Reiche Popo in seiner Ratlosigkeit verkündet, die Sitzung des Staatsrats sei aufgehoben, versteht er das Wort „aufheben“ nicht im Hegel’schen Sinn. Er will einfach sagen, dass die Sitzung beendet sei. In Philipp Preuss’ Inszenierung steckt unter der weißen Louis-XIV.-Perücke des Königs kein anderer als dessen Sohn Leonce, beide, König und Sohn, gespielt von Fabio Menéndez: So amtsmüde der eine ist, so heiratsmüde gibt sich der andere. Sie unterscheiden sich durch ihre Intelligenz: Der Alte strunzdumm, der Junge trotz seiner habituellen Melancholie hellwach. Zu DDR-Zeiten gab der Staatsrat eine treffliche Vorlage für bissige Politsatire, aber das ist nicht mehr das Thema der Mülheimer Aufführung, die ganz auf der Höhe der Zeit ist. Sie bespielt – hochvirtuos – den Automatenkomplex: die Fernsteuerung des Einzelnen durch Algorithmen, durch die Macht des Netzes in einer globalisierten Welt.
Schon Büchner macht sich über den Automatenbetrieb lustig, wenn er Leonce und Lena, dem Wunsch des Königs gemäß, „in effigie“, also als Abbild verheiraten lässt. Aber nicht nur das: Bereits Büchners kostbare Sätze haben etwas Automatenhaftes. Ganz ungeniert geben sie sich als Collage aus allen erdenklichen Quellen, ein Bonmot jagt das andere, gut geklaut ist halb gewonnen. Preuss unterstreicht das, indem er ab und zu künstliche Lacher einblenden lässt wie in Studio-Comedys: Nicht über jeden der wohlgedrechselten Scherze wird man freiwillig lachen. Und trotzdem hat der Text diese stupende Qualität, bis heute. Eine Qualität aus zweiter Hand, die dennoch etwas Einzigartiges hervorbringt.
Der Landstreicher Valerio hat sich zu einem vierköpfigen weißhaarigen Scherzkeks diffundiert (Thomas Schweiberer, Peter Kapusta, Rupert J. Seidl und Klaus Herzog). Man spricht im Chor oder auch nicht, umstreicht den Prinzen hautnah, schneidet einander das Wort ab, schleppt Lenas Gouvernante ins Gebüsch, um sie dort zu vögeln und Ähnliches mehr. Die vier sind „nichts als ein schlechtes Wortspiel“, wie Leonce sagt, Kasperlefiguren, Klone, wandelnde Zitate und alles andere als Individuen. Sie machen die Show, während Leonce – Menéndez spielt ihn souverän – noch gewisse Reste romantischer Ambitionen im Hinterkopf aufbewahrt. Wenn er von „Idealen“ spricht und sich das Wort mit den vielen Vokalen auf der Zunge zergehen lässt, ist das ironisch gemeint und auch wieder nicht. Bei der ersten Begegnung mit der tief frustrierten, sexuell ausgehungerten Lena vom Reiche Pipi – „an einen irrenden Königssohn ist gar nicht zu denken“ – geht es plötzlich ganz lyrisch zu. Liebe auf den ersten Blick. „Ist denn der Weg so lang?“ Lenas Frage ist die eines nervigen Kleinkindes, aber Gabriella Webers samtweicher Tonfall macht alles wett. Liebe auf den ersten Ton, müsste es also heißen. Unwiderstehlich schließt sich der Kreis: Man kriegt, was man flieht.
Es ist eine unwiderstehlich kurzweilige, intelligente Aufführung geworden, eine Fremdblutinfusion für das Theater an der Ruhr, das sich zumeist auf das Genie eines Einzelnen – Roberto Ciulli – verlässt. Nicht jeder Einfall mag originell sein (dass die abgelegte Geliebte Rosetta (Simone Thoma) ein virtuelles Phänomen ist, liegt auf der Hand), aber der Umgang mit dem Text zeugt von einem feinen Gehör. Einem elaborierten Code kann man nur mit elaborierten Mitteln begegnen. Die Bühne von Ramallah Aubrecht ist nichts als ein mit glitzernden Perlensträngen abgeteilter Raum, ein „leerer Tanzsaal“ wie Leonces Kopf. Im hinteren Teil steht die Videokamera, die für die Liebesszenen, aber nicht penetrant häufig bemüht wird. Die Musik von Kornelius Heidebrecht nimmt das Glockenspiel-Motiv auf, das sich schon im Text findet. „Gib dem Herrn das Geläute“, will Valerio verstehen, wenn es sich doch um ein rituelles „Geleite“ handelt. Dass die Übergänge zwischen Heirats- und Todesglocken nicht zu hören sind, ist – ganz existenziell – die Pointe in Büchners wunderbarem Stück. //