Einleitung
von Viktoria Volkova
Warum empirische Studien über theatrale Probenprozesse?
Menschliche Verhaltensweisen, wie sie in verschiedenen Lebenssituationen vorkommen, stellen ein Geflecht aus sozio-kulturellen sowie sozio-emotionalen Normen und Werten dar. Ein warmherziges oder verräterisches, liebevolles oder zurückweisendes Verhalten ist häufig auf eine bestimmte Gefühlslage des Menschen zurückzuführen. Auf einer Urlaubsreise entdeckt ein angesehener, betagter Schriftsteller in sich ihm bis jetzt unbekannte erotische Gefühle für einen 14-jährigen Jungen, den er sich lediglich aus der Ferne zu beobachten traut. Die Unmöglichkeit, das lange gesuchte ästhetische Ideal seiner künstlerischen Phantasie beobachten zu können, endet für den Mann tödlich.1
Oder ein anderes Beispiel: Eine Lehrerin, die wegen einer Liebesaffäre mit einem Schüler gekündigt und aus der Stadt gewiesen wurde, muss zu ihrer jüngeren Schwester ziehen und deren Mann ertragen, zu dem sie von Anfang an eine Antipathie verspürt. Mit ihrem Schwager unter einem Dach zu leben, fällt ihr von Tag zu Tag schwerer, weil er einem anderen sozialen Milieu als ihre Schwester und sie entstammt. Zwar ist er zügellos, ordinär, oft auch brutal, aber körperlich attraktiv, familienorientiert und treu, steht mit beiden Beinen im Leben und ist daher auch imstande, selbstständig für den Unterhalt seiner schwangeren Frau zu sorgen. Nach dem nächsten Gewaltakt des Hausherren an seiner Frau versucht die ehemalige Lehrerin ihre Schwester davon zu überzeugen, den Mann zu verlassen und ganz von vorne anzufangen. Die jüngere Schwester appelliert aber an die Gefühle, die sie zu ihrem Ehemann empfindet, und wehrt sich gegen die Versuche der älteren Schwester, sie aus ihrer Familie herauszuziehen. Die alleinstehende ehemalige Lehrerin ist zwar ratlos und empört über das Verhalten ihrer jüngeren Schwester, muss die Umstände aber so hinnehmen, um überhaupt noch ein Dach über dem Kopf zu haben.2
Fälle wie diese sind uns aus der Weltliteratur bestens bekannt. Zahllose Romane, Dramen, Gedichte, Stücke usw. klären uns darüber auf, welchen Stellenwert Gefühle im Leben eines Menschen haben und wie mit diesen umgegangen wird. Eine solche Aufklärungsleistung kann selbstverständlich auch das Theater bewerkstelligen. Sowohl während als auch nach einer Aufführung können wir den Ursachen und Auswirkungen eines inszenierten zwischenmenschlichen Problemkomplexes gedanklich auf den Grund gehen. Der emotionale Kern des – im buchstäblichen Sinn – gespielten (und das heißt auch: fremden, dem Zuschauer nicht selbst zugehörigen) Problems ist in der Regel relativ leicht nachvollziehbar. Nicht selten zeigen wir uns dabei darüber verwundert, wie simpel eigentlich zu lösen ist, worum die Darsteller auf der Bühne so heftig streiten.
Etwas komplexer gestaltet sich indes die Analyse von Gefühlen im Bereich der alltäglichen Lebenspraxis. Bekanntlich vermögen sich manche Gefühle wie Liebe oder Eifersucht lediglich innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens zu entwickeln. Es ist durchaus möglich, dass jemandem nicht unmittelbar bewusst ist, tiefere Gefühle für eine andere Person zu empfinden. Aber wie kann man ein Gefühlsproblem eines vertrauten Menschen, eines Patienten oder einer Versuchsperson richtig nachvollziehen, wenn man sich – figurativ ausgedrückt – in die Person nicht hineinversetzen kann? Die Gefühlslage eines anderen Menschen ist üblicherweise auf Basis von Mimik, Gestik, Körperhaltung bzw. aufgrund von seinen persönlichen Formulierungen sichtbar, die aber auch nur sehr begrenzt zum Ausdruck kommen und keineswegs ein Gesamtbild der Gefühlswelt darstellen. Darüber hinaus werden komplexe Gefühle wie Liebe, Neid, Stolz, Eifersucht etc. stets nur über einen bestimmten Zeitraum hervorgebracht, sodass man diesen nur in ihrer Entstehung nachgehen könnte. Und die Verfolgung der »Entstehung« sollte womöglich auch den Einbruch in die Privatsphäre der Versuchsperson mitbegreifen, denn wie sonst könnte der Entstehungsprozess einer Emotion beobachtet werden3? Allein aus ethischen Gründen wäre eine vollständige Analyse alltäglicher emotionaler Zustände nicht durchsetzbar. Wäre dies allerdings auch dann der Fall, wenn sich der Analyseprozess an einem Modell des Lebens orientierte? Und vor allem: Was genau wäre als elementare Analyseeinheit eines solchen »Lebensmodells« zu identifizieren? Eine Antwort auf diese Fragen findet sich erstaunlicherweise in der Theaterforschung. So schlägt die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte in ihrer grundlegenden Studie Ästhetik des Performativen vor, eine theatrale Aufführung
sowohl als das Leben selbst als auch als sein Modell zu begreifen – als das Leben selbst, insofern sie die Lebenszeit der an ihr Beteiligten, von Akteuren und Zuschauern, real verbraucht und ihnen Gelegenheit gibt, sich ständig neu hervorzubringen; als ein Modell des Lebens, insofern sie diese Prozesse in besonderer Intensität und Auffälligkeit vollzieht, so daß die Aufmerksamkeit der an ihr Beteiligten sich auf sie richtet und sie so ihrer gewahr werden. Es ist unser Leben, das in der Aufführung in Erscheinung tritt, gegenwärtig geht und vergeht.4
Ausgeklammert bleibt allerdings oft die Tatsache, dass eine Theateraufführung das Resultat eines Probenprozesses darstellt, der sich über Wochen oder sogar Monate ziehen kann. Wenn eine theatrale Aufführung zum Modell des Lebens erhoben werden kann, als was wäre dann der Probenprozess zu begreifen? Ist er ein Grundriss des Lebensmodells? Ein Modellentwurf? Literaturforscher greifen häufig auf frühere Fassungen und Entwürfe eines literarischen Werkes zurück, um präzisere und eindeutigere Antworten auf ihre Forschungsfragen zu erhalten. In der vorliegenden Studie werde ich mich zeitgenössischen Probenprozessen im Regietheater zuwenden. Auf diesem Weg werde ich nicht nur die Entstehungsbedingungen einer Aufführung beleuchten, sondern zugleich der Frage nachgehen, mit welchen Mitteln in ästhetischen Kontexten Emotionen dargestellt bzw. konstituiert werden. Leitend ist für mich in diesem Zusammenhang die folgende Annahme: Die von einer Kunstfigur in einer fiktiven Situation erlebte Emotion (Liebe, Neid, Verachtung etc.) muss sich auf die eine oder andere Weise im Prozess des Probens konstituieren. Aus diesem Grund werde ich mich in meiner Analyse auf die Frage konzentrieren, was genau im Probenprozess vollzogen wird, um die späteren Zuschauer glauben zu lassen, dass die Kunstfigur tatsächlich verliebt ist, jemanden verachtet oder beneidet. Es lohnt sich daher, theatrale Proben im Hinblick auf die Entfaltung von Emotionen zu beobachten. Deswegen untersuche ich Probenprozesse, die als Modellentwürfe des Lebens zu fassen sind.
Forschungsstand
Die theaterwissenschaftliche Untersuchung der theatralen Probenpraxis erweist sich als ausgesprochen problematisch. Schließlich finden Theaterproben gewöhnlich hinter verschlossenen Türen statt. Externen Beobachtern wird dieser Handlungsraum meist nur äußerst begrenzt zugänglich gemacht. Dieser Umstand gilt insbesondere für große Theaterhäuser. Vor allem berühmte Regisseure lassen sich zudem nur höchst ungern bei ihrer Arbeit über die Schulter schauen. Erschwerend kommt hinzu, dass sich theatrale Probenprozesse aufgrund ihrer Flüchtigkeit unmöglich in ihrer vollen Materialität dokumentieren lassen. Nicht zuletzt deshalb weist der Forschungsstand zur theatralen Probenpraxis große Lücken auf. Zwar wurden diese in den vergangenen zehn bis 15 Jahren sukzessive gefüllt, doch geschah dies insgesamt nur in einem ausgesprochen spärlichen Maß. Bis heute ungelöst sind die enormen methodologischen Probleme, denen sich eine empirische Untersuchung theatraler Probenprozesse angesichts der genannten Zugangs- und Dokumentationsprobleme unweigerlich gegenübersieht.
Erste Versuche einer empirischen Probenanalyse hat es in der deutschsprachigen theaterwissenschaftlichen Forschung – wenn auch nur vereinzelt – schon vor den 2000er Jahren gegeben. So präsentierte Claudia Dickhoff mit ihrer 1984 erschienenen Dissertation Probenarbeit, Dokumentation und Analyse eines künstlerischen Prozesses: dargestellt am Beispiel der Münchner Inszenierung von Niccoló Machiavellis »Mandragola« eine Studie, die sich sowohl auf qualitativem als auch auf quantitativem Weg mit der szenischen Präsenz und Interaktion der Figuren (nicht der sie darstellenden Schauspieler!) sowie der inneren und äußeren Struktur der Bühnenhandlung auseinandersetzt. Darüber hinaus enthält Dickhoffs Arbeit eine vergleichende Untersuchung von Text und Aufführungsform. Bereits die ersten Zeilen des ersten (»chronologisch-deskriptiven«) Teils machen deutlich, dass Dickhoffs Dissertation die »ungewöhnliche[n] Arbeitsbedingungen« eines eigens »für das Projekt der Münchner Theaterwissenschaft gegründeten Schauspiel-Ensembles«5 behandelt. Nach einigen weiteren Sätzen über das gegenseitige Kennenlernen der am Projekt beteiligten Wissenschaftler und Künstler sowie über den Verlauf der zweiwöchigen Leseproben und Gespräche offenbart Dickhoff den Lesern ihrer insgesamt siebenseitigen Beschreibung des Probenverlaufs eine Tatsache, welche die methodische Grundlage für eine sehr eng ausgerichtete und – aus heutiger theaterwissenschaftlicher Sicht – weniger relevante6 Probenanalyse, als sie vor dreißig Jahren noch gelten konnte, aufweist. Sie schreibt nämlich: »Am 24.9. nehmen die wissenschaftlichen Beobachter ihre Plätze oben auf der schalldichten [!], verspiegelten [!] Tribüne ein, wo sie von nun an – für die Personen im Probenraum unsichtbar – den Probenprozeß mitverfolgen werden.«7
Die wissenschaftlichen und künstlerischen Wege gehen also nach den vorherigen gemeinsamen Tischgesprächen, Leseproben und technischen Vorbereitungen komplett auseinander, sodass die Schauspieler während ihrer Proben die am Inszenierungsprozess nicht direkt beteiligten Theaterwissenschaftler nicht zu Gesicht bekommen können und die Wissenschaftler ihrerseits die Darsteller von oben wie in einem Aquarium beobachten müssen.8 Die Ebene der körperlichen Präsenz, räumlichen Nähe und des damit verbundenen wirkungsvollen Energieaustausches wird durch diese beiderseitige Absonderung folglich von Anfang an getilgt. Durch diese Maßnahme wird die konkrete Probenanalyse ferner auf vereinzelte quantitative und qualitative Aspekte beschränkt. So wird etwa einerseits die Szenenanzahl, die Dauer der Bühnenpräsenz, die Anzahl der Auftritte und der Begegnungen, das Maß der szenischen Entfernung oder der Interaktionsanteil der Charaktere in Augenschein genommen; andererseits wird sich z. B. auf die Beziehungen der Personen im Dramentext und der Inszenierung, die Untersuchung der Handlungsstruktur, die Handlung im dramatischen Text oder die Handlungsführung und Szenenkomposition in der Aufführungsform konzentriert.9 Allerdings: Was an Dickhoffs Probenstudie als ein Vorteil erachtet werden kann, ist der in der deutschen Theaterwissenschaft so selten in Betracht gezogene experimentelle Aspekt der gemeinsamen (!) Arbeit zwischen Wissenschaftlern und Künstlern. Allein die Tatsache, dass die Theatermacher mit den Wissenschaftlern zu diesem Forschungszweck zusammentrafen, ist schon als Experiment zu verstehen. Meistens lassen die Künstler so gut wie keine »Dritten« hinter die Kulissen. (Und die erstaunliche Tatsache, dass dieses Projekt bereits vor über dreißig Jahren vorgenommen wurde, macht die in ihm beschriebene theaterwissenschaftliche bzw. -praktische Veranstaltung allein durch ihren Bestand noch exklusiver.) Solche miteinander verwobenen akademisch-künstlerischen Probenexperimente sind eher seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts und eher im angelsächsischen Raum aufzufinden – genauer: in Australien, wo die professionelle künstlerische Probenpraxis überaus erfolgreich in das akademische Feld integriert werden konnte. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang vor allem die am Department for Performance Studies der University of Sydney lehrende Theaterwissenschaftlerin Gay McAuley. Sie organisiert für ihre Studenten die sogenannten »page-to-stage«-Projekte, in denen eingeladene professionelle Theaterakteure und Studierende innerhalb von dreiwöchigen Workshops gemeinsame Aufführungen hervorbringen. Über ihre theaterwissenschaftlich-pädagogische Praxis schreibt McAuley in dem Artikel »Not Magic but Work: Rehearsal and the Production of Meaning«:
The study of the rehearsal process is a central element in teaching and research in performance studies at the University of Sydney and it developed from work that began when I was teaching theatre in the Department of French before the performance studies programme was introduced. For students of French literature, a play is a book to be read, so, in an attempt to demonstrate to students that the meaning of a play is not to be found simply in the words on the page, I organized a number of what we called ›page-to-stage‹ projects. Students enrolled in these courses spent a three-week semester break observing professional actors in rehearsal, working to create a performance with a text that the students had previously studied in class. The experience provided vivid insights into the dynamically shifting and contingent nature of theatrical meaning-making, revealing to the students how meaning in the theatre is constructed by actors together with other artists and craftspeople, how the text functions within this multilayered process, and how the same words can come to bear radically different meanings in different performance versions. It occurred to me, as I watched highly skilled and experienced the- atre practitioners rehearsing plays by Corneille, Racine and Genet, that this way of working also had a great deal to offer students in departments of theatre studies. In such departments, students often spend a considerable amount of time and energy putting on plays and making their own performances, but the result is that, all too often, the only experience of rehearsal they have is what they and their peers have been able to produce. In developing performance studies as an academic discipline at the University of Sydney, my concern has been first and foremost with the work practices of professional artists, and the observation and analysis of the rehearsal process is a foundational element in the research training provided by the department and my own work.10
Solch eine jährliche Zusammenkunft von Berufsschauspielern und Theaterstudierenden mit dem Ziel einer kollektiven Analyse der Hervorbringung eines Probenprozesses sowie der gemeinsamen Realisierung einer Inszenierung ist im deutschsprachigen Raum immer noch Zukunftsmusik. Zwei- oder dreitägige Workshops, die Schauspieler und Theaterstudierende zum Zweck des Erfahrungsaustausches unter ein Dach bringen, finden in manchen Einrichtungen wohl hin und wieder statt. Die Dimension der von McAuley organisierten Projektwochen haben diese Formate hierzulande indes noch nicht erreicht. Über den Förderhintergrund und Verlauf ihres Universitätsprojektes macht McAuley noch weitere Angaben:
The Department of Performance Studies funds one project a year in which professional actors rehearse in facilities provided by the university and permit students to observe their process. These projects are part of the practical training provided for honors students preparing to undertake participant observation in professional theatre companies. They are recorded, usually using two cameras and making a live edit, and a team of three students takes responsibility for the documentation of each day’s work. Two are responsible for image and sound while the third writes a log detailing time, tape references and a brief indication of the activities involved. This log is a crucial element in making the documentation accessible to users after the event.11
Wie aus diesem Zitat folgt, verfolgen McAuleys akademisch-künstlerische Projekte den Zweck, leistungsstarke Studenten auf die teilnehmende Beobachtung (»participant observation«) von Probenprozessen in professionellen Theatern vorzubereiten. Ein derart leichter Zutritt zum sozialen Feld der professionellen theatralen Probenpraxis ist für das zeitgenössische europäische Theater sehr wünschenswert, oft aber leider utopisch. Immerhin handelt es sich selbst bei der empirischen Untersuchung von Inszenierungsprozessen um einen ausgesprochen jungen Forschungsbereich.12 Entsprechend problematisch gestaltet sich die empirische Probenforschung – insbesondere im deutschsprachigen Raum. Davon zeugt nicht zuletzt die Zahl der hier erschienenen Studien, welche – im Vergleich mit dem anglo-amerikanischen Sprachraum – bescheiden bleibt. Der Grundstein für das weitaus größere Spektrum des angelsächsischen Probendiskurses wurde bereits in den 1990er Jahren gelegt. Allerdings beschränkt sich die Aufmerksamkeit der meisten Probenforscher seither entweder auf die Arbeitsmethoden einzelner Regisseure (auf die Theorie, Historiographie oder Notizen »interner«, d. h. zum Theaterbetrieb gehöriger Beobachter) oder aber auf die Analyse bestimmter Inszenierungsprozesse.13
Einen bedeutenden Beitrag zur Erforschung der theatralen Probenpraxis im deutschsprachigen Raum leistete die Theaterwissenschaftlerin Annemarie Matzke mit ihrer 2012 veröffentlichten Habilitationsschrift Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Probe. Anhand von Anekdoten, die von Schauspielern und Theatermachern überliefert wurden, beleuchtet Matzke das »Verhältnis von Theater und Arbeit im Zeitraum vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart«14. Zur Methodologie der empirischen Untersuchung von Probenprozessen schreibt Matzke: »Die wenigen methodischen Auseinandersetzungen in der Theaterwissenschaft mit der Probenpraxis lassen sich in einen aufführungsanalytischen, ethnologischen und literaturhistorischen Zugang differenzieren.«15 In ihrer Arbeit weist Matzke auf drei weitere Publikationen hin, die im Kontext der Probenforschung vor einigen Jahren entstanden sind.16 Der Theaterforscher Hajo Kurzenberger rückt in seinem Buch Der kollektive Prozess des Theaters. Chorkörper. Probengemeinschaften. Theatrale Kreativität »die Herstellungs- und Rezeptionsvorgänge vor, während und nach der Aufführung: die Interaktionen der Probe, der Theaterorganisation, der Gruppen- und Ensemblebildung«17 in den Fokus. In Anlehnung an Kurzenberger untersuche ich den Probenprozess in den nachstehenden Kapiteln als einen sozialen Gruppenprozess, dessen Verlauf »von [seiner] Struktur, vom Status und der Funktion [seiner] Mitglieder, vor allem aber von […] der Anzahl der Beteiligten [abhängig ist]«.18 Die empirische Untersuchung von theatralen Probepraktiken ist in der Regel äußerst rar: Zumeist kann/darf dem Probenprozess nicht in seiner vollen Länge beigewohnt werden, weswegen die Forscher nur noch einzelne Aspekte der Probenpraxis fokussieren bzw. diese in kleineren Arbeiten thematisieren. Auch Matzke hat über die Aspekte der Probenforschung nur ansatzweise geschrieben, bevor ihre wertvolle Habilitationsschrift erschien. So berichtete sie während der internationalen Tagung Regie heute – Soziale Dimensionen des Inszenierens an der Zürcher Hochschule der Künste im November 2011 in ihrem Referat »Konzepte proben – Probenprozesse in postdramatischen Theaterformen« (welches ein Jahr später in der Publikationsreihe subTexte veröffentlicht wurde) über die Herausforderungen der empirischen Probenforschung. In ihrem Konferenzbeitrag problematisierte Matzke zum einen die verschiedenen Formen des theatralen Probens, die mit dem postdramatischen Diskurs in Erscheinung traten; zum anderen diagnostizierte sie fehlende »Methoden zur Probenbeobachtung «19.
Vor dem Hintergrund der oben angedeuteten Zugangs- und Dokumentationsprobleme ist auch Sabine Krügers probenanalytische Studie über die Inszenierungspraktiken der katalanischen Theatergruppe La Fura dels Baus zu erwähnen. Krügers Feststellung, dass »der Gegenstand der Proben noch keinen Platz im allgemeinen akademischen Diskurs eingenommen hat«20, bekräftigt die Ausgangsthese der vorliegenden Dissertation, wonach die empirische Untersuchung von Probenprozessen ein noch sehr junges und nur wenig entwickeltes Unterfangen darstellt. Auch Krüger kann die Gründe nicht übergehen, die dafür verantwortlich sind, dass der Probenprozess von der Theaterwissenschaft bislang noch nicht adäquat erforscht worden ist. Neben der »Instabilität und Kurzlebigkeit von (westlichen) Theatergruppen «21, der »Transformation der Probensituation« durch die »(handelnde) Präsenz des Forschers«22 und dem »von den beteiligten Künstlern selbst nicht erwünschte[n] Zutritt hinter die Kulissen des Theaters für externe Beobachter«23 hebt Krüger eine weitere Hürde für die empirische Probenforschung hervor: die »Motivation, die ›Authentizität‹ des Probenprozesses zu erhalten, indem Aufzeichnung und Dokumentation des künstlerischen Geschehens ausschließlich durch interne, an der Inszenierung beteiligte Künstler und Dramaturgen vollzogen [werden] «.24 Um diesen Punkt zu bekräftigen, führt Krüger das Beispiel des Projekts »Inszenierungsdokumentation« an der Akademie der Künste in Berlin sowie ein Zitat Peter Ullrichs aus dem Vorwort über die Dokumentationsmethodik dieses Projekts an:
Die Dokumentation wird von den am Inszenierungsprozeß Beteiligten selbst hergestellt. Also keine Dokumentation ›von außen‹ durch Wissenschaftler, Journalisten, Studenten usw., sondern ›von innen‹, durch Dramaturgen, Regieassistenten, Regisseure. Das sichert Authentizität in der Darstellung.25
Solch eine Direktive würde in einem seltenen »externen« Probenbeobachter, der – folgt man der Logik der Dokumentationsmethodik – wohl aus Versehen dennoch in die Proben gelangen konnte, Verständnis hervorrufen. Denn die Begründung, warum die Probendokumentation so einseitig bleiben und dadurch so »empowered and restricted in unique ways«26 dargeboten werden soll, geht aus diesem Appell nicht hervor bzw. bleibt sehr vage. Im Gegenteil erweitert ein externer Blick auf die Proben den Horizont der theoretischen Reflexionen über das Fach. Hingegen umfasst das Herangehen der ausschließlich »internen « Beobachter an die Probe meistens nicht mehr als Interviews mit dem Regisseur und manchmal auch mit weiteren beteiligten Künstlern, wobei diese Interviews dazu noch vor oder/und nach dem unmittelbaren Proben stattfinden, bereits einige Zeit vorausgeplant und so in die »Tagesordnung« des Regisseurs gut integriert sind. Die Beschreibungen des monatelangen Probenverlaufs selbst, die täglichen Fixierungen der dort stattfindenden Geschehnisse sowie das Erstellen eines gleichwertigen verwertbaren Materials seitens der »Internen« sind des öfteren kein Thema. Eine weitere bekannte australische Theaterprobenforscherin, Kate Rossmanith, weist auf diese Lücke im Vorgehen der Theaterangehörigen eindeutig hin:
Rehearsal accounts by practitioners about their own work come in the form of interviews, short articles where actors or directors re- flect on particular rehearsal processes, practitioners writing about their specific working approach, and lengthy casebooks where directors and actors document the daily work of rehearsal through- out a specific process. Overall, while this material offers insights into the usually private sphere of rehearsal, it does not necessarily extend into examining or describing the minutiae of what actually occurs over the weeks and even months of a process.27
Dieser Sachverhalt wirft Licht auf den Stellenwert des Materials der vorliegenden Probenuntersuchung: Als Regiehospitantin bei den drei angesehenen Regisseuren Dimiter Gotscheff, Thomas Langhoff und Thomas Ostermeier gelang es mir, den Ablauf der Probenprozesse mit den dort stattgefundenen Gesprächsverläufen (teilweise auch mit Videokamera) aufzuzeichnen und vieles davon in Tabellen zu überführen. Diese Aufzeichnungen, Transkriptionen und Tabellen können hiermit nicht nur für meine eigene, sondern auch für weitere Feldforschungen verwertbar sein. Es ist also ersichtlich, dass die Probenpraxis eine spannende Forschungsdomäne ist und dass viele ihrer Aspekte – um das Wort »Neuland« zu vermeiden – noch einer umfassenden Erforschung bedürfen.
Von der Soziologie der Probe zur Soziologie der Emotionen: methodische Überlegungen
Warum ist die Frage nach der Entstehungsweise und Struktur einer Emotion relevant? Bis heute können Forscher verschiedenster Disziplinen, von Philosophen bis zu Neurowissenschaftlern, nicht eindeutig auf die Frage antworten, was eine Emotion ist, wodurch sie sich von einem Gefühl unterscheidet, was genau ihre Entstehungsbedingungen sind usw. Diese Unschlüssigkeit ist durchaus erklärlich, wenn man sich vor Augen führt, dass die Antworten auf diese Fragen von dem Ziel, der gewählten Methode sowie dem Material der jeweiligen Untersuchung abhängen.
Für fast jegliche Art von Probenforschung – ausgenommen vielleicht nur der historische Probendiskurs, dessen Hauptmethode die Arbeit mit überlieferten Dokumenten, Anekdoten und anderen Artefakten ausmacht28 – ist zugleich auch ein Probenbesuch erforderlich. Vor und hauptsächlich nach dem Besuch von drei gesamten Probenprozessen an großen Berliner Häusern – dem Deutschen Theater (DT), dem Berliner Ensemble (BE) und der Schaubühne am Lehniner Platz – wurde mir klar, dass eine wissenschaftliche Analyse von theatralen Probenprozessen die Hinzuziehung einer empirischen Forschungsmethode erfordert. Eine empirische Herangehensweise an den Probenprozess ermöglicht mir einerseits eine genauere Auseinandersetzung mit dem sozialen Aspekt der Probe (eine heutzutage vernachlässigte Domäne) und andererseits die Auslotung des soziologischen Aspektes der Emotionsforschung. Dass der soziale Aspekt der Probe sehr wenig erforscht ist, hat seinen Grund wohl in der Mystifizierung und im Flüchtigkeitscharakter der Probe. Der Ausdruck der »Mystifizierung « der Probe ruht meines Erachtens auf der Annahme derjenigen Forscher, die den Zugang zur Probe nicht als Hindernis erleben müssen. Dies sind meistens solche Probenforscher, die entweder selbst mehrere Jahre im Theaterbetrieb tätig waren oder bereits eng mit Theatermachern zusammenarbeiten: Für sie existieren tatsächlich keine Zugangshürden, sodass der Zutritt zur Probe keine außergewöhnliche, sondern eher eine selbstverständliche Angelegenheit ist. Ein Blick auf den professionellen Hintergrund solcher Forscher genügt, um zu begreifen, warum sie jegliche »Mystifizierung« der Probe als ein künstlich geschaffenes Problem ansehen und diese »Mystifizierung« überhaupt in Frage stellen. Ich hingegen musste auf meinem Weg auf die Hinterbühne viele Hürden überwinden: Eine permanente Stelle im Theaterbetrieb habe ich nämlich nicht und als Theaterwissenschaftlerin hat man keinen Vorrang vor den unzähligen Probeninteressenten, die sich für die selten ausgeschriebenen Regiehospitanzstellen an großen Berliner Häusern bewerben. (Des öfteren sind diese Stellen überhaupt nicht ausgeschrieben.) Es ist also kein Mythos, dass der Probenprozess in der Regel nur ausgesprochen begrenzt zugänglich ist. Allerdings will ich damit nicht sagen, dass die Probe mit einem Zauberritual mit magischen Sprüchen gleichgesetzt werden soll (obgleich es sich hier natürlich immer auch um einen rituellen Prozess handelt!): Selbstverständlich ist die Probe einerseits ein alltäglicher, gewöhnlicher Arbeitsprozess zwischen professionellen Künstlern, die unter gewissen – dem Theater eigenen – Gesetzen und Bedingungen miteinander über Jahre und Jahrzehnte hindurch interagieren. Es sind nicht nur bestimmte rituelle Prozesse und Praktiken, die man in den Proben miterleben kann; es sind auch (für Theaterleute) alltägliche Beziehungen, Arbeitskonstellationen, Interaktionen, Aktionen, die einen »normalen« Probentag ausmachen. Mein Vorschlag lautet nun, die Anknüpfungspunkte für die Methodik meiner nachstehenden Analysen gerade in solchen Alltagspraktiken der Künstler aufzuspüren. Die Alltagssituationen innerhalb des Probenprozesses verdienen meines Erachtens eine weitaus stärkere Aufmerksamkeit. So erkläre ich die Alltagssituation der Probe im Folgenden zur Einheit der vorliegenden Probenanalyse und nenne diese Alltagssituation fortan eine Probensituation.
Die Herausgliederung der Situation im Kontext der Probenarbeit scheint nicht zufällig zu sein. Der Philosoph und Kunsttheoretiker Gerald Raunig macht in mehreren Schriften auf Hegels Theorie der Situation aufmerksam, die in dessen Vorlesungen zur Ästhetik entfaltet wurde.29 Raunig vermerkt, dass Hegel die Funktion der Kunst darin sieht, »Raum für die Kollision von Differenzen zu schaffen«30 und als Mechanismus zur Schaffung eines solchen Raums die Öffnung des allgemeinen Weltzustandes31 vorschlägt. Laut Hegel ist dieser »geöffnete (Dritte) Raum«32 zwischen der Einfühlung und dem allgemeinen Zustand gerade die Situation. Und so ist es »die Besonderheit des Zustandes, dessen Bestimmtheit jene Differenz und Spannung hervorbringt, die erst das auslösende Moment für die Handlung darstellt«33. Oder um mit Hegel selbst zu sprechen:
Die Situation im allgemeinen ist einerseits der Zustand überhaupt, zur Bestimmtheit partikularisiert, und in dieser Bestimmtheit zugleich das Anregende für die bestimmte Äußerung des Inhalts, welcher sich durch die künstlerische Darstellung ins Dasein herauszukehren hat. Vornehmlich von diesem letzteren Standpunkte aus bietet die Situation ein weites Feld der Betrachtung dar, indem es von jeher die wichtigste Seite der Kunst gewesen ist, interessante Situationen zu finden […].34
Die wichtigste Aufgabe der Kunst sieht Hegel also in der »Erzeugung einer Situation als ›Mittelstufe zwischen dem allgemeinen, in sich unbewegten Weltzustande und der in sich zur Aktion und Reaktion aufgeschlossenen konkreten Handlung‹«35. Deswegen bedarf es der Künstler, also konkreter Personen, die konkrete Aktionen durchführen und auf diese Weise eine Situation »und damit eine Möglichkeitsbedingung für das […] Betätigen all dessen [schaffen], was im allgemeinen Weltzustande noch unentwickelt verborgen liegt«.36 Und auch die Künstler selbst spüren (sei es bewusst oder unbewusst), dass der Drehund Angelpunkt ihrer Aktionen die Schaffung einer Situation sein soll. So widmete der Regisseur Thomas Ostermeier eine Vorlesung über sein eigenes Kunstschaffen im September 2014 in London der Frage nach der Identifikation und Ergründung der theatralen Situation. Die lateinische Phrase Totus mundus agit histrionem, die zu Shakespeares Zeiten über den Pforten des Globe Theatres hing, deutete er darin folgendermaßen:
The somewhat ›official‹ version, ›All the world’s a stage‹, suggests that we are acting in our lives like characters of a play on stage. But the sentence also implies that we are driven to act by the situations that we are confronted with [hervorgehoben von mir, V. V.] in our life. Totus mundus agit histrionem can also be translated as totus – all, mundus – world, agit can also be an active word, and histrionem is not the story, as some might think, but it means ›actor‹. The sentence might therefore not only be read as ›the whole world acts like an actor‹, but also ›the whole world acts the actor‹ – the whole world forces the actor to act. And by extension: we are forced by the world to act like an actor. We are constantly forced to pretend to be somebody else. We are driven to change identities, to put on a mask, in order to find out, through playing, who we are and who the other might be.37
Ostermeier berichtete, dass man als Schauspieler während der Proben oft mit der Frage »Was spiele ich in diesem Moment als Figur?« (»What am I playing as a character at the moment?«) konfrontiert sei. Er als Regisseur müsse mit seinen Schauspielern oft ganz »banale«38 Wahrheiten während der Proben (wieder) entdecken, wie etwa solche, die sich darauf beziehen, dass ein probender Schauspieler nicht umhin kann, eine theatrale Situation anders als wahrhaft zu spielen:
When you discuss with the actors how to play a certain scene, you will not need to talk about how you can, in this very moment, be truthful to the situation, or to the character. Instead, you can talk about what you are playing in this moment, as a character. The actor will be playing a character who is playing a situation. […] For an actor in a rehearsal space who has to find his or her way into the dramatic situation, and who feels blocked and restrained by the pressure to be truthful to this situation, it will be an act of liberation when the director is able to reassure them: do not even think about being truthful to the situation. Just play the moment the character is playing. This means that there is no more right or wrong. As a result, anything you do as an actor, even very bad acting, cannot be but truthful, because it is, for instance, Iago who is simply playing the role of Othello’s best friend. The very fact of not successfully, of not entirely ›truthfully‹ acting, therefore might even become the very beauty of portraying Iago […].39
Das Wichtigste für den Schauspieler beim Proben einer theatralen Situation sei laut Ostermeier das Gefühl des Unerwarteten bzw. das der Überraschung, das die Schauspieler – im Gegensatz zu den literarischen Figuren – nicht so einfach und selbstverständlich erzielen können, weil die Akteure über den Ausgang der Szene bereits im Vorfeld der Proben Bescheid wissen. Im Gegenteil hat die Figur in der Literatur keine Ahnung davon, was mit ihr als Nächstes passieren wird. Oft habe man in den Proben mit einer doppelten oder sogar dreifachen theatralen Situation zu tun:
We should keep a sense of the surprise that something really works out well, rather than just expecting it as a given. It seems almost banal to state that none of the characters in a play have lived through the situation they are confronted with before; they do not know what is going to happen next. Still, this needs to be explicitly mentioned, and I have to constantly remind actors of this fact. Too often do we make decisions or arrive at certain ways of playing a scene because of our knowledge of the play as a whole. The character, however, does not know the scene; the character only ever makes an attempt to adapt to the situation, and to respond to the problem he or she is confronted with. […] I believe that if we saw a Richard Gloucester on stage in front of us who was completely convincing, he would be very boring from the start. We should see him having problems being Richard himself – problems being somebody else. This doubled theatrical situation […] helps me to approach and understand how to stage [Shakespeare’s] plays. The double, or sometimes even triple, theatrical situation suggests an answer to many of the questions I have raised, about who we are or could be: we are multiple ›I‹s who try to adapt to the situations we are confronted with by playing, by pretending to be somebody else.40
Eine in der Literatur gegebene Situation mit darstellerischen Mitteln in einer theatralen – und d. h.: neu entdeckten – Situation herzustellen, ist also die wichtigste, um nicht zu sagen: die Schlüsselaufgabe der probenden Künstler.
Rund um die Erzeugung einer Situation dreht sich auch die Lehre der Schauspielkunst von Konstantin Stanislawski.41 In seinen bekanntesten Werken Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst im schöpferischen Prozess des Erlebens (Teil 1) und Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst im schöpferischen Prozess des Verkörperns (Teil 2) beschreibt Stanislawski, wie die Schauspielstudenten von ihrem fingierten Lehrer Torzow die »Umstände« erläutert bekamen und anhand dieser Vorgaben Situationen auf der Studiobühne erzeugen mussten, die danach zusammen mit dem Lehrer auf Fehler hin analysiert wurden. Genau auf solch eine Analyse der erzeugten Situationen während des Studienprozesses an einer Schauspielschule geht Stanislawski in den genannten Werken ein.42 Die darin gegebenen Beispiele zur Beschäftigung mit der Situation als maßgeblicher Analyseeinheit waren für mich ein entscheidender Anstoß, um auch in meiner Studie die Probensituation ins Zentrum zu rücken und zur wichtigsten Einheit meiner Analyse zu erheben.
In einem nächsten Schritt galt es, die Kriterien zu bestimmen, anhand derer die einzelnen Situationen der in der vorliegenden Arbeit erörterten Probenprozesse herauszuheben waren. Praktisch jede Aufführung im Regietheater wird auf der Basis (mindestens) eines literarischen Werkes inszeniert. Das heißt, dass schon im Vorfeld der Proben mehr oder weniger klar ist, welche Themen und Probleme das zu inszenierende Stück behandeln wird. In jedem Fall nehmen die beteiligten Akteure zuallererst das entsprechende Buch aus dem Regal und lesen den Inhalt des literarischen Werkes. Erst unmittelbar während des Probenprozesses selbst entstehen dann Ereignisse bzw. erzeugen die Künstler Situationen, die das eine oder andere in der literarischen Vorlage bereits vorgegebene Thema auf je spezifische Weise wiedergeben oder herstellen. Gerade diese Situationen, die nur während des gemeinsamen Probenvorgangs entstehen bzw. erzeugt werden, machen das vorgegebene literarische Problem oder Thema auf der Bühne überhaupt erst sichtbar. Und gerade diese Situationen werden von den Künstlern fortwährend – von einem Probentag auf den anderen (aber jedes Mal auf eine neue Weise) – wiederholt. Folglich werden gerade diese Probensituationen den Kern meiner Analyse bilden. Leitend wird für mich in diesem Zusammenhang die folgende Frage sein: Wie genau entstehen solche Situationen während der Proben? Die Antwort auf diese Frage sollte meines Erachtens im ereignishaften Charakter einer jeden Aufführung gesucht werden.43 So ist ein jeder Probentag für diejenigen, die an ihm teilnehmen können, selbst bereits ein besonderes Ereignis. Dieses besteht seinerseits aus weiteren »kleinen« Ereignissen – und damit auch aus weiteren Interaktionen, Handlungen, Empfindungen –, die sämtliche Probentage prägen. Angesichts dessen werde ich die emotionalen Ereignisse, die in den sozialen Interaktionen der Probenbeteiligten auftreten und in die Bühnenfassung der späteren Theateraufführung eingehen, als soziale Emotionen bezeichnen. Soziale Emotionen stellen zugleich auch die Mechanismen dar, nach denen sich eine Kunstfigur konstituiert, denn aus den gemeinsamen Ereignissen – sprich: aus gemeinsam erlebten Vorgängen, aus Gesprächen, Witzen, Stress und Anstrengungen, aus Auflockerungen und Gelächter sowie überhaupt aus der Einstellung auf einer »emotionalen Wellenlänge« bzw. aus dem Wunsch heraus, etwas gemeinsam zu verstehen – ergeben sich für jeden Schauspieler eben jene Voraussetzungen, an denen er sich bei der Konstituierung seiner Kunstfigur orientiert.
Für meine Probenanalysen werde ich im Folgenden von einem breiteren Methodenmix Gebrauch machen. Dieser umfasst:
1. die empirische Beschreibung und Dokumentation der gesamten Probenprozesse mittels detaillierter Probennotizen und Videoaufzeichnungen,
2. Gespräche, die ich als Probenmitglied mit sämtlichen Proben- teilnehmern führen konnte,
3. Interviews mit den Schauspielern,
4. den Rückgriff auf Performativitäts-, Emotions-, Improvisations-, Ritual-, Raum-, Zeit- und Intermedialitätstheorien sowie
5. die Analyse von Probenpraxen, wie sie z. B. in theoretischen Schriften (Lang, Engel, Diderot, Lessing, Goethe), Anekdoten (Goethe, Schiller), Tagebüchern (Wachtangow, Brecht) oder den Schauspiellehren von Stanislawski und Cechov zu finden sind.
Auf dieser methodischen Grundlage werfe ich die Frage danach auf, was genau ein theatraler Probenprozess unter emotions-, ritual- und performativitätstheoretischen wie auch theaterwissenschaftlichen und soziologischen Gesichtspunkten ist. Ziel meiner Untersuchung ist also einerseits, die theaterwissenschaftliche Forschungsmethodik des Theaterprobenprozesses auszubauen. Warum sind Probenprozesse für die Öffentlichkeit zumeist unzugänglich? Was sind die Kriterien, nach denen sich ein Probenprozess zusammensetzt? Mit welchen ästhetischen Kategorien wird bei der Probenuntersuchung operiert? Meines Erachtens ist für die Theaterwissenschaft eine sich auf die Emotionsforschung beziehende Methode der Probenforschung relevant. Aus diesem Grund verfolge ich andererseits, wie die Emotionen der Kunstfiguren innerhalb der sozialen Interaktionen zwischen den Künstlern am Beispiel eines »Modellentwurfs des Lebens« – des theatralen Probenprozesses – entstehen.44 Welche emotionalen Ereignisse werden im Prozess der Zusammensetzung einer Probe buchstäblich in Szene gesetzt? Wie entwickeln sich die Beziehungen zwischen den Kunstfiguren durch die sozialen Interaktionen der Künstler? Zum einen gehe ich sowohl als Probenbeobachterin als auch als Probenbeteiligte empirisch vor. Die unmittelbare Teilnahme als Regiehospitantin ermöglichte mir, einen engen Kontakt mit den Künstlern zu knüpfen und sie bei Bedarf zu interviewen. Zum anderen werde ich die Performativitätstheorien aufgreifen, die die kunstwissenschaftliche Forschung seit den 1990er Jahren maßgeblich bestimmen. Mit dem »performative turn«, der sich vom Logozentrismus des »linguistic turn« absetzte, »verlagerte sich [das kunstwissenschaftliche Interesse] nun stärker auf die Tätigkeiten des Herstellens, Produzierens, Machens und auf die Handlungen, Austauschprozesse, Veränderungen und Dynamiken, durch die sich bestehende Strukturen auflösen und herausbilden«.45 Den Probenprozess betrachte ich demnach vor allem vor dem Hintergrund seines performativen Charakters. Um der Komplexität dieses facettenreichen Handlungsraums auf den Grund zu gehen, werde ich mich in den folgenden Kapiteln auf eine Vielzahl von Theorieansätzen beziehen. Dies betrifft etwa die Aufführungs- bzw. Performancetheorien, anhand derer in erster Linie das grundlegende Verhältnis zwischen Aufführung, Performance und Probe bestimmt wird. Aufgrund von diesem Verhältnis wird für die Analyse die Struktur des Probenprozesses zum Vorschein gebracht. Mit Hilfe der Performativitätstheorien wird eine Annäherung an den Prozess der Zusammensetzung einer Probe möglich. Die Theorien der Ritualität, der Grenzüberschreitung, der Raumästhetik und der Intermedialität sind für die vorliegende Studie deswegen von großer Relevanz, weil anhand dieser Theorien zum einen der Transformations-, zum anderen der Flüchtigkeitscharakter und die erschwerte Dokumentierbarkeit des Probenprozesses hervorgehoben werden. Die verwendeten Probentheorien ermöglichen mir auf der einen Seite, die auf die Proben bezogenen Schlüsselbegriffe zu revidieren. Auf der anderen Seite knüpft ein Blick in die Geschichte der Probentheorien und Schauspielmethoden an das Analyseverfahren des Regietheaters an, den Prozess seines Werdegangs sowie weitere im Regietheater verlaufende Prozesse in den Fokus der Betrachtung zu nehmen. Rezipiert werden darüber hinaus die Improvisations- sowie die Emotionstheorien. Mit deren Hilfe werden die tiefe Verbindung und Wechselwirkung der schauspielerischen Improvisation und emotionalen Ereignisse im Probenprozess deutlich gemacht.
Verlauf der Untersuchung
Die vorliegende Forschungsarbeit besteht aus einer Einleitung, sieben Kapiteln und einem Schlusswort. In den ersten vier Kapiteln werden die theoretischen und praktischen Zusammenhänge ausgelotet, die der Konstituierung eines Probenprozesses zugrunde liegen. Die Kapitel fünf bis sieben sind dem Phänomen der sozialen Emotionen sowie ihrer Funktion gewidmet, als Mechanismen der Konstituierung von Kunstfiguren im Probenprozess zu dienen. Der Stellenwert der ersten vier Kapitel wird nach den Kriterien und Begriffen ermessen, die sich für die theaterwissenschaftliche Methodik der Probenuntersuchung sowie für die Zusammensetzung eines Probenprozesses als relevant erweisen.
In Kapitel eins gehe ich der »Genealogie« der Probe auf den Grund und spezifiziere in einem ersten Schritt das Verhältnis der Probe zur Performance bzw. Aufführung: Eine Performance richte sich, wie Marvin Carlson mit Recht bemerkt46, immer auf jemanden und schließt damit stets einen Performer und einen Zuschauer ein. Eine Probe (ich verwende dafür häufiger den Begriff Probenprozess) sei nach der Definition von Annemarie Matzke eine Serie von Aufführungen47. Vor dem Hintergrund der von Carlson artikulierten Präsenz sowohl des Performers als auch des Zuschauers liegt die Betonung in Matzkes Definition der Probe auf Aufführungen. Denn in den Proben wird permanent etwas von jemandem vor jemandem aufgeführt. (Die Akteure führen z. B. Szenen vor dem Regisseur und/oder vor anderen Akteuren auf. Oder der Regisseur selbst führt vor einem Akteur etwas auf, um ihm durch Anschauung den Dreh- und Angelpunkt der Szene zu erläutern usw.) Aus diesem Zusammenhang ergibt sich die Notwendigkeit nicht nur einer Performer-, sondern auch einer Beobachterpräsenz in den Proben. Unter einem Beobachter wird nicht nur der »ideale Zuschauer« – der Regisseur – verstanden, sondern auch eine Person, die protokolliert und mit ihrem externen, fremden Blick eine Leerstelle füllt, die eine Performance aufgrund ihres Flüchtigkeitscharakters immerzu aufweist. Hans-Friedrich Bormann und Gabriele Brandstetter führen aus, dass »[d]ie Rede von der Performance eine Leerstelle, einen Verlust [markiert]«48. Der externe Blick befragt den Wert der Performance »nach dem Abstand zwischen Präsentation und Wahrnehmung, der sich in den Dokumenten und Erinnerungstexten der Beobachter artikuliert«49. Außerdem werden in Kapitel eins die zu analysierenden Einheiten eines Probenprozesses identifiziert. Im Zuge dessen gehe ich auf die Struktur eines Probenprozesses ein. An jedem Probentag ereignen sich Situationen, aus denen sich der gesamte, monatelange Probenprozess zusammensetzt. So hebe ich auf eine Probensituation als diejenige Analyseeinheit ab, die ihrerseits im Format einer Aufführungssituation vollzogen wird und aus Handlungssituationen besteht. Eine Probensituation definiere ich als einen Standort, der vergangene, gegenwärtige oder zukünftige Ereignisse in sich fasst, sodass diese Ereignisse für die Erarbeitung der Inszenierungsstrategien und Bühnenkonstellationen berücksichtigt werden können. Kurze, einmalige Aufführungen, auf die theatrale Proben als Modus und Format angewiesen sind, heißen Aufführungssituationen. Sie werden von den Beteiligten – Performern und Beobachtern – im Prozess des Probens gemeinsam erlebt. An dieser Stelle tritt die kleinste Einheit der Probenuntersuchung – die Handlung – ins Blickfeld. Mit den Handlungen werden die Situationen hervorgebracht. So werden an einem bestimmten Ort zu einer gegebenen Zeit in einer ereignishaften Art und Weise Handlungen durchgeführt, die das Ziel haben, eine theatrale Vorstellung zu materialisieren. Vor diesem Hintergrund erläutere ich in Kapitel 1.2 in Rekurs auf die von mir besuchten DT-Proben zu Dimiter Gotscheffs Inszenierung Krankenzimmer Nr. 6 das Verhältnis zwischen der Proben-, Aufführungs- und Handlungssituation.
In Kapitel zwei wende ich mich den konstitutiven Elementen des theatralen Probenprozesses zu. Performative Räume, die Arbeit mit der literarischen Vorlage, der Umgang mit der Zeit, die Ritualität des Probens – all dies sind maßgebliche Kriterien, nach denen ein Probenprozess gestaltet wird. In Anlehnung an die Theorien der Raumästhetik bzw. an die Aufführungs-, Wahrnehmungs- und Performativitätstheorien gehe ich davon aus, dass performative Räume als ein Zusammenspiel von Handlungsvollzügen zwischen Performer und Beobachter zu begreifen sind, die einerseits stets aus kinästhetischen, multisensorischen, transtemporalen sowie dynamisch ästhetischen Vorgängen bestehen und andererseits immerzu einen architektonisch- geometrischen Raum füllen, in dem eben dieses komplexe Zusammenspiel stattfindet (vgl. Kapitel 2.1). Die Erläuterung eines weiteren Kriteriums – die Bearbeitung der literarischen Vorlage im Probenprozess – bezieht sich auf das Verhältnis zwischen Bühne und Text sowie auf die Einwirkung dieses Verhältnisses auf die materielle Hervorbringung der Aufführung. Anhand der Arbeitsweisen mit den entsprechenden Textvorlagen während der Proben für die Inszenierungen Endstation Sehnsucht am Berliner Ensemble (Regie: Thomas Langhoff) sowie Krankenzimmer Nr. 6 am Deutschen Theater (Regie: Dimiter Gotscheff) beleuchte ich die Beziehungen der Schauspieler und der von ihnen verkörperten Figuren zu den jeweiligen Texten der genannten Stücke. Im Zuge dessen treten freilich gewisse Unterschiede in den Blick: So vollzog sich die Wechselwirkung zwischen Bühne und Text in Langhoffs Inszenierung weitaus anders als im Fall Gotscheffs. Während des Probenverlaufs gab es zahlreiche »psychologische « Besprechungen, da sich die Akteure auf den psychologischen Zustand der von ihnen verkörperten Figuren konzentrieren und deren Handlungen mithin genau so fixieren mussten, wie es die psychologische Situation der betreffenden Szenen erforderte. In den Proben zur Gotscheff-Inszenierung entwickelten die Akteure jedes Mal eine spezifische Beziehung zum Text, die von ihnen explizit artikuliert wurde. Auf diese Weise wurde die Textvorlage in den Rang einer autonomen Einheit erhoben, die von den dargestellten Kunstfiguren gänzlich unabhängig war und insofern – um einen Ausdruck des Co-Regisseurs Ivan Panteleev aufzugreifen – nur noch als bloße »Metapher« in Anspruch genommen werden konnte (vgl. Kapitel 2.2). Die zeitliche Dimension der Probe – das dritte konstitutive Probenelement – lässt sich im Anschluss an den von Hans-Thies Lehmann eingeführten Begriff der geteilten Zeit ermessen, d. h., sie lässt sich als eine »offene[.] Prozessualität« verstehen, »die weder Anfang noch Mitte noch Ende hat«50. Auf den Probenprozess angewendet, zeige ich am Beispiel einiger Probensituationen am BE und DT, wie die Zeit »geteilt« wird. Genauer: Ich lege dar, in welchem Verhältnis der äußere Zeit-Rahmen (die von der Theaterleitung bis zum Premierentermin gesetzte Zeitspanne) und der innere Zeit-Rahmen (die von den beteiligten Künstlern selbst bestimmte Zeit, die im Lauf ihrer gemeinsamen Suche nach den Elementen der Aufführungskonzeption entsteht und u. a. durch den wechselseitigen Austausch von Erfahrungen vertieft werden kann) zueinander stehen. Anhand der Probensituationen wird das Zeitdehnungsvermögen des inneren Zeitrahmens beschrieben. (Der Begriff Zeitdehnung ist mehrdeutig: Er bezieht sich zum einem auf den Einsatz von medialen, aber auch schauspielerischen Techniken in bestimmten Szenen; zum anderen zielt er auf die Wahrnehmungswirkung sowohl der Schauspieler als auch der Beobachter ab – vgl. dazu ausführlicher Kapitel 2.3.) Über eine Zeitdehnung unterläuft der innere Zeitrahmen die Grenzen der Probenbedingungen. Eine Zeitdehnung ist ein Vorgang, der direkt mit dem Ausgang einer Probensituation verbunden ist: Der innere Zeitrahmen wird ausgedehnt, damit eine Probensituation, die sich maßgeblich um die Suche nach spezifischen künstlerischen Entscheidungen dreht, bis zum gesetzten Premierentermin einen erfolgreichen Ausgang finden kann. Die zeitliche Dimension eines Probenprozesses wird also in Bezug auf die Verhältnisse der erwähnten zeitlichen Kategorien ermessen. Ein weiteres relevantes Kriterium der Probenkonstituierung bezieht sich auf die Identifizierung von Theater und Ritual. Wie die Ritualforscher Ursula Rao und Klaus-Peter Köpping belegen, können »beide Handlungsdomänen des Performativen« »andere Wirklichkeiten aufzeigen«51. Als »Handlungsdomäne des Performativen« hebt das Theater, und um so mehr ein theatraler Probenprozess, auf die Wirkung des Performativen ab, Transformationen der Wirklichkeit vorzunehmen. Unter Transformationen begreift Erika Fischer-Lichte »Übergänge von einem Zustand in einen anderen«52. Es ist die transformative Kraft des Performativen, die aufgrund des Übergangs der Teilnehmer von einem Zustand in den anderen die Wirklichkeit anders wahrnehmbar macht, insofern sie diese Wirklichkeit – in der zitierten Ausdrucksweise von Köpping und Rao – »anders aufzeigt«. Die Beteiligten werden in einen liminalen Zustand53 versetzt, wie der Ritualforscher Victor Turner bemerkt. Eine solche »Schwellenerfahrung«, wie sie Turner und später auch Fischer-Lichte für die Spezifität der Theatersituation ausmachen, stellt das Schlüsselkonzept jeder theatralen Probe dar. Sich während der Probe in einem Schwellenzustand zu befinden, heißt zugleich, bei der Suche nach bestimmten künstlerischen Entscheidungen ungeschützt etwaigen inneren wie äußeren Transformationen ausgesetzt zu sein. Im Zuge dessen wird indes mitnichten jede gefundene Entscheidung mit Erfolg gekrönt. »Gelingen oder Scheitern?« ist die Frage, die jeden Probentag begleitet. Wie genau sich dieses Changieren zwischen Erfolg und Misserfolg konkret gestaltet, werde ich auf der Grundlage einiger ausgewählter Probensituationen zu illustrieren versuchen. Ein besonderes Augenmerk lege ich in diesem Zusammenhang auf die sich innerhalb des Probenprozesses einstellenden Transformationsvorgänge bzw. Grenzüberschreitungen.
In Kapitel drei wird eine wichtige, von mir eingeführte ästhetische Kategorie – die Ästhetik der Herausforderung – erläutert. Mit dieser Kategorie hebe ich auf den Unterschied zwischen einem Probenprozess und einer »fertigen« Aufführung ab. Anhand von Probensituationen aus den Schaubühne-Proben zu Der Tod in Venedig in Regie von Thomas Ostermeier (vgl. Kapitel 3.2 und 3.3) sowie aufgrund der in Kapitel zwei angeführten Fallbeispiele zur rituellen Dimension der Probe werde ich herausstellen, dass die Ästhetik der Herausforderung eine komplexe Konstellation von rituellen, vertrauten und intermedialen Verhältnissen repräsentiert. Diese Verhältnisse haben einen entscheidenden Einfluss auf die Wahrnehmungen der Beteiligten sowie die Grenzauflösung zwischen Realem und Fiktivem. Die Kategorie der Ästhetik der Herausforderung markiert den Unterschied zwischen einer Probe und einer fertigen Aufführung. Die ästhetische Erfahrung einer Theaterprobe – mit Erika Fischer-Lichte verstanden als »die Erfahrung der Schwelle, des Prozesses der Verwandlung«54 – begreift die Herausforderung als eine selbstreferenzielle Kategorie (ein geschlossener und vertrauter Prozess des Probens, der hinter verschlossenen Türen verläuft, richtet sich auf den unmittelbaren Prozess der performativen Hervorbringung der Aufführung). Demgegenüber richtet sich die Herausforderung einer fertigen Produktion nur auf den Zuschauer (durch die bereits entworfenen Verhaltens- und Spielweisen, das szenische Geschehen etc.). Echtzeit- und partizipative Tendenzen, auf die ich in den Kapiteln 3.2 und 3.3 eingehe, sind wichtige Eigenschaften einer Ästhetik der Herausforderung. Echtzeit-Tendenzen sind Einschübe von Ereignissen, die in realer Zeit in den Proben entstehen und in dem Zustand, in dem sie darin erschienen, in die Bühnenfassung – und zwar auch in realer Zeit – eingehen. Eine Situation soll also während einer fertigen Aufführung zwischen den Akteuren und Zuschauern eben so verlaufen, als fände sie innerhalb einer Probe zwischen allen Beteiligten statt (vgl. dazu Kapitel 3.3). Mit dem Begriff der partizipativen Tendenz beziehe ich mich auf eine Grenzverschiebung zwischen den Künsten und Alltagspraktiken, wie sie sich seit den 1990er Jahren in den Künsten verzeichnen lässt. Künstler nehmen verstärkt an »nicht-künstlerischen« Aktivitäten teil, während Nicht-Künstler zunehmend Zutritt zu »rein« künstlerischen Bereichen bekommen (berührt wird durch diese Entwicklung u. a. das Problem, was als »künstlerisch« und was als »nicht-künstlerisch« zu verstehen ist). In Bezug auf die Kunst des theatralen Probens sind es die raren Hospitantenstellen, öffentliche Proben, Workshops und Lesungen, die die für gewöhnlich geschlossenen Probenprozesse ein wenig »nach außen« öffnen.
In Kapitel vier wird der Stellenwert der Improvisation für die Entstehung der Aufführung festgelegt. Auf Basis der von Konstantin Stanislawski und Keith Johnstone beschriebenen Stimulierungsmethoden des Unbewussten der probenden Schauspieler führe ich in Anlehnung an den russischen Improvisationsforscher Andrej Tolšin den Begriff des Improvisationszustands ein. Der Improvisationszustand ist ein veränderter Zustand des Bewusstseins, durch den es einem Schauspieler möglich wird, Handlungen, die unbewusst entstehen, bewusst in Szene zu setzen. Zur genaueren Erläuterung dieses Aspekts stütze ich mich in Kapitel 4.1 im Wesentlichen auf eigene Notizen, Protokolle und Videoaufnahmen. Soziale Interaktionen zwischen dem Regisseur, den Schauspielern sowie sämtlichen Probenbeteiligten durchdringen den gesamten Produktionsvorgang: Vorschläge, Bemerkungen, spontane Ideen oder ungeplante Vorfälle können den Verlauf der Proben in eine andere Richtung lenken (beispielsweise können sie die ursprünglichen Intentionen des Regisseurs bei der Gestaltung einiger Szenen beeinflussen). Anhand von Beispielen aus der Schauspielgeschichte und aus den von mir besuchten Proben wird in diesem Kapitel gezeigt, dass der Schwellenzustand sowohl »von außen« – durch soziale Interaktionen – als auch »von innen« – also durch Impulse, schöpferisches Wahrnehmen, Assoziationen etc. – erlangt werden kann. In Kapitel 4.2 analysiere ich den Bezug bzw. den Einfluss der Improvisation auf die Emotionsebene im rituellen Prozess der Proben. Die Improvisationskunst des Schauspielers tritt als Voraussetzung für den performativen Einsatz seines Körpers in den spontan entstehenden Probensituationen auf. Mit performativen Handlungen werden Emotionen zum Ausdruck gebracht. Emile Durkheims Theorie der kollektiven Efferveszenz55, mit der er die starke, sozial geteilte affektive Erregung der Teilnehmer kollektiver Rituale beschrieb, wurde 1967 von Erving Goffman weiterentwickelt. Goffmans These, dass alle Interaktionen (auch diejenigen zwischen zwei Teilnehmern in einer kleinen Gruppe) ritueller Herkunft sind56, entwickelte Randall Collins später zur Theorie der Interaktionsrituale (interaction ritual chains57), die postuliert, dass nicht nur kollektive, sondern auch individuelle Emotionen bedeutende Funktionen für Gruppen und Gemeinschaften aufweisen. Da Theaterprobenprozesse eben solche rituellen Prozesse sind und auf die Aufrechterhaltung ihres rituellen Symbols – der gemeinsamen, vertrauten Suche nach den Komponenten der Aufführung – fokussieren, werden Emotionen, die im Wahrnehmungs- und Verkörperungsprozess der Kunstfigur unausweichlich zum Ausdruck kommen, in Improvisationsausprägungen – Folgen sozialer ritueller Interaktionen – aufgespürt.
In den ersten vier Kapiteln des vorliegenden Buches werden Theorien und Methoden diskutiert, die es der Theaterwissenschaft ermöglichen, eine Probenpraxis anders als nur aufführungsanalytisch und literaturhistorisch zu untersuchen. Die Beobachterpräsenz lässt rituelle, intermediale sowie partizipative Tendenzen in den Fokus der Untersuchungsmethodologie der Probenpraxis rücken.
Kapitel fünf ist den sozialen Emotionen in den Probenprozessen gewidmet. Dabei werden die Interaktionsrituale in den Probensituationen in den Fokus gerückt. Es werden konkrete Probensituationen am DT, BE und der Schaubühne herausgestellt. Dabei wird das Augenmerk insbesondere auf die Interaktionen der Künstler gelenkt. Randall Collins’ Theorie der Interaktionsrituale besagt, dass Interaktionen stets einen rituellen Charakter haben58. Das bedeutet, dass den Interaktionsritualen der Künstler in den Proben eine die Wirklichkeit transformierende Kraft des Performativen zugrunde liegt. Ausgehend von Gesprächen, Improvisationen, Bewegungen und Handlungen werden Schritt für Schritt Szenen einer Aufführung gestaltet. Das Ziel all dieser ritualisierten Aktivitäten besteht darin, spezifische emotionale Ereignisse ins Leben zu rufen. Diese emotionalen Ereignisse, die durch kollektive Handlungen entstehen, werden in der Soziologie soziale Emotionen genannt. Emotionsforscher wie Robert A. Thamm, Jan E. Stets und Jonathan H. Turner heben in diesem Zusammenhang zahlreiche Klassifizierungen von Emotionen hervor. Je nach Klassifikation und struktureller Besonderheit (heutzutage sind insgesamt ca. 72 strukturelle Merkmale bekannt59) werden die jeweiligen Emotionen entsprechend betitelt. Was die Interaktionsrituale in den drei von mir beobachteten Probenprozessen betrifft, so habe ich die darin zum Vorschein gekommenen Emotionen als Liebe, Verachtung, Eifersucht und Stolz klassifiziert. Diese Betitelung erfolgte auf der Grundlage der Beziehungen, Probleme und Themen, die in den Werken der inszenierten Autoren (Anton Cechovs Krankenzimmer Nr. 6, Tennessee Williams’ Endstation Sehnsucht, Thomas Manns Der Tod in Venedig) aufzufinden sind. Hinzuzufügen ist, dass die Art und Weise, wie die Klassifizierung von Emotionen in der vorliegenden Studie zustande gekommen ist, nicht nur methodologisch, sondern auch historisch bedingt ist. Die Versuche, Emotionen für Schauspielmethoden zu klassifizieren und ihre Funktion für die Gestaltung der Rollenfigur zu bestimmen, weisen zurück ins 18. Jahrhundert, als das Regietheater etabliert wurde. Neben Theatertheoretikern wie Franciscus Lang, Denis Diderot, Gotthold Ephraim Lessing oder Johann Jakob Engel, die einen wesentlichen Beitrag zur Emotionsforschung im Theater geleistet haben, setzten sich auch Theaterpraktiker wie Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller mit den Emotionen in der Schauspielkunst auseinander. Im 20. Jahrhundert wurden die in der bürgerlichen Schauspielkunst aufgestellten Postulate über die affektive Wahrnehmung vor allem von Konstantin Stanislawski, Michail Cechov, Jewgeni Wachtangow, Wsewolod Meyerhold und Bertolt Brecht weiterentwickelt, revidiert und perfektioniert. Die von mir vertretene These, mit welchen Mitteln Emotionen im Theater des 21. Jahrhunderts erforscht werden können, formuliere ich anhand der sechs ermittelten Komponenten des von mir herangezogenen Emotionsmodells. Im Zentrum stehen dabei die physiologischen Veränderungen und performativen Handlungen der Schauspieler, die konkrete Realisierung des Verhältnisses Regisseur – Schauspieler, die intentionalen Objekte und das subjektive Erleben der Darsteller sowie die mit diesem Erleben verbundene Gedankeninhalte, die aus den beobachteten Interaktionsprozessen oder geführten Interviews zum Vorschein gebracht werden können. In Kapitel sechs werden die sozialen Emotionen Liebe, Verachtung, Eifersucht und Stolz tabellarisch entfaltet. Anknüpfend an die damit einhergehenden Emotionsbeschreibungen werden in Kapitel sieben einige Arten des Aufbaus von Kunstfiguren vorgestellt. Aspekte wie die »Überaufgabe« (in der Ausdrucksweise von Stanislawski, die bei der Analyse des Werks gefundene Idee), die Arbeitsweise des Regisseurs, die Art der Interaktion zwischen dem Regisseur und den Schauspielern sowie der Einsatz des Stegreifspiels der Darsteller sind dabei entscheidend. So werden in Rekurs auf die in Kapitel sechs präsentierten Emotionsbeschreibungen die Konstituierungsprozesse der Kunstfiguren der drei von mir beobachteten Probenprozesse wiedergegeben. Die Kapitel fünf bis sieben bilden insofern den analytischen Kern der vorliegenden Dissertation.
Endnoten
1 Die Grundlage dieses Beispiels bildet die Erzählung Der Tod in Venedig von Thomas Mann.
2 Dieses Beispiel fußt auf dem Stück Endstation Sehnsucht von Tennessee Williams.
3 Es sei denn, es würde für diese Zwecke eine spezielle voraussetzungsreiche Langzeitstudie durchgeführt, für die Fachforscher aus mehreren Disziplinen – von der Soziologie bis zu Hirnforschung und Neurowissenschaften – hinzugezogen werden sollten.
4 Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M. 2004, S. 359.
5 Claudia Dickhoff: Probenarbeit, Dokumentation und Analyse eines künstlerischen Prozesses: dargestellt am Beispiel der Münchner Inszenierung von Niccoló Machiavellis »Mandragola«, München 1984, S. 16.
6 Weniger relevante, weil die heutige Theaterwissenschaft bei der Probenforschung vor allem von einer »aktiven« Beobachtung einer Probe ausgeht. (Es wird vorausgesetzt, dass der Beobachter bei Bedarf in Kontakt mit den Theaterschaffenden treten kann, was automatisch seine Teilnahme am Probenprozess begreift. Allein seine körperliche Präsenz im Probenraum begreift eine teilnehmende Beobachtung.) Eine teilnehmende Beobachtung eines Probenprozesses ermöglicht nämlich den Einsatz von solchen Kategorien, die erst in den 1990er Jahren entwickelt wurden. Dickhoffs Studie hingegen fokussiert zum größten Teil nur quantitative Aspekte der Probe, den Umgang mit dem Dramentext bzw. die Beschreibung der Handlungsstruktur, was vor über drei Jahrzehnten aufgrund der damals vorhandenen Theorien noch als ein durchaus relevantes Vorhaben galt.
7 Ebd., S. 16f. [Einfügungen von mir, V. V.]
8 Die Methode der teilnahmslosen Beobachtung ist in der empirischen Sozialforschung zwar nicht unüblich, aber eine Probenanalyse lässt sich – wie sich seit dem »performative turn« (siehe Anmerkung 43) in den Künsten beobachten lässt – nur dann adäquat durchführen, wenn der Beobachter zumindest im Proberaum präsent ist und für alle Teilnehmer sichtbar ist. Aber in Dickhoffs Fallstudie geht es um ein gut durch- und vorgeplantes Projekt zwischen den Künstlern und Wissenschaftlern, das auch gerade die extra dafür ausgearbeitete Vorgehensweise voraussah, die die »Absonderung« der einen Teilnehmer von den anderen einschloss. Vor über dreißig Jahren waren Theaterprobenbesuche u. a. durch Hospitanten oder andere externe Beobachter eine sehr selten vorkommende Praxis. Heutzutage wäre solch eine Vorgehensweise mit »Absonderung « bei einer Probenuntersuchung eher nur zu ganz eng gesteckten Forschungszielen möglich, denn meistens sitzen heute die »Dritten« zusammen mit den Theatermachern im Proberaum und beobachten den Probenvorgang, ohne dass sich die Theatermacher vor ihnen extra »verspiegeln« lassen, wie es in Dickhoffs Studie der Fall war.
9 Vgl. Dickhoff, S. 1–3.
10 Gay McAuley: »Not Magic but Work: Rehearsal and the Production of Meaning«, in: Theatre Research International, Volume 33, No. 3, 2008, S. 276–288, S. 277f. [Hervorhebungen von mir, V. V.]
11 Ebd., S. 287, Anm. 3.
12 Vgl. Gay McAuley: »The Emerging Field of Rehearsal Studies«, in: About Performance, No. 6, 2006, S. 7–13.
13 Um nur die wichtigsten Studien auf diesem Gebiet zu nennen: Shomit Mitter: Systems of Rehearsal. Stanislavsky, Brecht, Grotowski, and Brook, London/New York 1992; Alison Oddey: Devising Theatre. A Practical and Theoretical Handbook, London 1994; Mark Bly (Hg.): The Production Notebooks. Theatre in Process. Volume 1, New York 1996; Thomas A. Kelly: The Back Stage Guide to Stage Management. Traditional and New Methods for Running a Show from First Rehearsal to Last Performance, New York 1999; Tiffany Stern: Rehearsal from Shakespeare to Sheridan, Oxford 2000; John Perry: The Rehearsal Handbook for Actors and Directors. A Practical Guide, Wiltshire 2001; Kate Rossmanith: Making Theatre-Making. Rehearsal Practice and Cultural Production, Doctoral Thesis, Department of Performance Studies, University of Sydney, 2003; Jen Harvie, Andy Lavender (Hg.): Making Contemporary Theatre. International Rehearsal Processes, Manchester/New York 2010; Alex Mermikides, Jackie Smart (Hg.): Devising in Process, Hampshire 2010; Gay McAuley (Hg.): About Performance. Rehearsal and Performance Making Process, Sydney 2006; Gay McAuley: Not Magic but Work, Manchester University Press 2012.
14 Annemarie Matzke: Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Probe, Bielefeld 2012, S. 27.
15 Ebd., S. 106. In der vorliegenden empirischen Studie werden soziologische Methoden der Emotionsforschung mit den Methoden der Ritual-, Improvisations- und Performativitätsforschung kombiniert. Nähere Ausführungen dazu finden sich im Abschnitt Methodische Überlegungen dieser Einleitung.
16 Melanie Hinz, Jens Roselt (Hg.): Chaos und Konzept. Proben und Probieren im Theater, Berlin 2011; Jen Harvie, Andy Lavender: Making Contemporary Theatre, Manchester/New York 2010; Thomas Oberender: Leben auf Probe. Wie die Bühne zur Welt wird, München 2009.
17 Hajo Kurzenberger: Der kollektive Prozess des Theaters. Chorkörper. Probengemeinschaften. Theatrale Kreativität, Bielefeld 2009, Klappentext.
18 Ebd., S. 22.
19 Annemarie Matzke: »Konzepte proben – Probenprozesse in postdramatischen Theaterformen«, in: Hajo Kurzenberger, Stephan Müller, Anton Rey (Hg.): Wirkungsmaschine Schauspieler – Vom Menschendarsteller zum multifunktionalen Spielmacher, Berlin 2011, S. 42–52, S. 44.
20 Sabine Krüger: Monster unterm Bett – Das IMPERIUM von La Fura dels Baus. Ein analytischer Blick auf künstlerische Inszenierungsverfahren und intime Probenprozesse, online veröffentlichte Dissertationsschrift, Freie Universität Berlin 2014, S. 18. www.diss.fu-berlin.de/diss/receive/FUDISS_thesis_000000096096 [letzter Abruf: 19.6.2018.]
21 Ebd.
22 Ebd., S. 18 u. 19.
23 Ebd., S. 22.
24 Ebd., S. 19f.
25 Peter Ullrich: »Vorwort: ›Was ist das: Inszenierungsdokumentation?‹«, in: Theaterarbeit dokumentiert. Bestandsverzeichnis Inszenierungsdokumentationen, Hrsg.: Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Berlin 1999, S. 7–14, S. 8, zit. nach Krüger: Monster unterm Bett, S. 20.
26 James Clifford: »Introduction: Partial Truths«, in: James Clifford and George E. Marcus (Hg.): Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography, Berkeley/ Los Angeles/London 1986, S. 1–26, S. 9.
27 Kate Rossmanith: Making Theatre-Making. Rehearsal Practice and Cultural Production. Doctoral Thesis. Department of Performance Studies, University of Sydney, 2003, S. 16.
28 Vgl. dazu abermals Matzke: Arbeit am Theater.
29 Vgl. z. B. Gerald Raunig: Charon. Eine Ästhetik der Grenzüberschreitung, Wien 1999, insbes. S. 11–15 und 119–121; ders.: Wien Feber Null. Eine Ästhetik des Widerstands, Wien 2000, darin vor allem Kapitel 16: »Vom Grenz-Wall zum Intervall. Hegels Situation, Theorie der Grenze und Politik der Differenz«, S. 99–107.
30 Gerald Raunig: »Spacing the Lines. Konflikt statt Harmonie. Differenz statt Identität. Struktur statt Hilfe«, in: Stella Rollig, Eva Sturm (Hg.): Dürfen die das? Kunst als sozialer Raum, Wien 2002, S. 118–127, S. 121.
31 Vgl. ebd.
32 Ebd.
33 Ebd.
34 Georg W. F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik, Band 1, Frankfurt/M. 1986, S. 260f., zit. nach Raunig: »Spacing the Lines«, S. 121.
35 Ebd., S. 261, zit. nach Raunig: »Spacing the Lines«, S. 121f.
36 Raunig: »Spacing the Lines«, S. 122.
37 Peter M. Boenisch, Thomas Ostermeier (Hg.): The Theatre of Thomas Ostermeier, London/New York 2016, S. 190. [Andere Hervorhebungen im Original.]
38 Dieses und das vorangehende Zitat basieren auf meinen persönlichen Notizen zu Ostermeiers Vortrag am 26.9.2014 während des internationalen Symposiums Reinventing Directors’ Theatre at the Schaubühne Berlin an der Royal Central School of Speech and Drama in London.
39 Boenisch, Ostermeier: The Theatre of Thomas Ostermeier, S. 188. [Hervorhebungen im Original.] 34
40 Ebd., S. 188f.
41 Vgl. dazu Kapitel 5.1 sowie Konstantin Stanislawski: Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst: Tagebuch eines Schülers, Teil 1: »Die Arbeit an sich selbst im schöpferischen Prozess des Erlebens«, Westberlin 1984; ders.: Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst: Tagebuch eines Schülers, Teil 2: »Die Arbeit an sich selbst im schöpferischen Prozess des Verkörperns«, Westberlin 1984.
42 Vgl. Stanislawski: Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst: Tagebuch eines Schülers, Teil 1 und Teil 2. Im ersten Teil dieses Klassikers werden die Lernprozesse der zwei ersten Studienjahre beschrieben. Torzows Schüler handeln auf der Studiobühne anhand der von ihm gegebenen Umstände. Er analysiert zusammen mit seinen Schülern, wie sie auf der Bühne agiert haben. Im zweiten Teil werden die ersten professionellen Proben, an denen Torzows Studenten teilnahmen, und die während dieser Proben erzeugten Situationen beschrieben.
43 Max Herrmann begreift die Aufführung nicht als ein fertiges Werk, sondern als ein Ereignis. Die Aufführung vollzieht sich demnach als ein einmaliges, unwiederholbares Ereignis. Vgl. dazu Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 53.
44 Es ist nachvollziehbar, dass eine Emotionsanalyse am Beispiel des Alltagslebens eines realen Menschen aus vielen – z. B. (forschungs-)ethischen und zeitlichen – Gründen undenkbar ist: Wer würde sich schon gerne einer permanenten Beobachtung von außen unterziehen bzw. seinen Alltag über Jahre hindurch in ein »Forschungslabor« verwandeln lassen? Ein alternatives Forschungsmaterial für solch eine Fallstudie könnten eventuell die sogenannten reality game shows wie Big Brother bieten. In diesen jahrelang dauernden, live ausgestrahlten reality shows willigen die Teilnehmer (gegen Entgelt) ein, so gut wie keinen (oder nur sehr begrenzten) Kontakt mit der Außenwelt zu halten, rund um die Uhr videoüberwacht zu werden und dadurch dauerhaft wie unter einer Lupe zu leben. Aber Fälle, in denen Privatpersonen Massenmedien oder Forscher über Jahre in ihr Alltagsleben hineingelassen hätten, entziehen sich zumindest meiner Kenntnis.
45 Erika Fischer-Lichte: »Vom ›Text‹ zur ›Performance‹. Der ›performative turn‹ in den Kulturwissenschaften«, in: Kunstform International: Kunst ohne Werk, Bd. 152 (Oktober–Dezember 2000), S. 61–63, S. 61.
46 Vgl. Marvin Carlson: Performance. A Critical Introduction, London/New York 1996, S. 6.
47 Matzke: Arbeit am Theater, S. 105.
48 Hans-Friedrich Bormann, Gabriele Brandstetter: »An der Schwelle. Performance als Forschungslabor«, in: Hanne Seitz (Hg.): Schreiben auf Wasser. Performative Verfahren in Kunst, Wissenschaft und Bildung, Bonn 1999, S. 45–55, S. 46.
49 Ebd., S. 50.
50 Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt/M. 1999, S. 327.
51 Klaus-Peter Köpping, Ursula Rao: Einleitung »Die ›performative Wende‹: Leben – Ritual – Theater«, in: dies. (Hg.): Im Rausch des Rituals. Gestaltung und Transformation der Wirklichkeit in körperlicher Performanz, Münster/Hamburg/ London 2000, S. 1–31, S. 11.
52 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Performativität. Eine Einführung, Bielefeld 2012, S. 113.
53 Vgl. Victor Turner: The Ritual Process – Structure and Anti-Structure, London 1969, S. 95f.
54 Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 349.
55 Vgl. Emile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens (1912), Frankfurt a. M. 2001.
56 Vgl. Erving Goffman: Interaktionsrituale: über Verhalten in direkter Kommunikation (1967), Frankfurt a. M. 1991.
57 Vgl. Randall Collins: Interaction Ritual Chains, Princeton NJ 2004.
58 Vgl. ebd., S. 15, S. 44–46.
59 Vgl. Robert A. Thamm: »The Classification of Emotions«, in: Jan E. Stets, Jonathan H. Turner (Hg.): Handbook of the Sociology of Emotions, New York 2007, S. 11–37, S. 34.