Theater der Zeit

Funktionen und Wirkweisen von Handlungsanweisungen im immersiven Theater

Am Beispiel von SIGNAs „Das Heuvolk“

von Theresa Schütz

Erschienen in: Recherchen 164: Theater der Vereinnahmung – Publikumsinvolvierung im immersiven Theater (05/2022)

Assoziationen: Wissenschaft SIGNA

Ein kleiner Teil des Ensembles während der Einlasssequenz von SIGNAs Das Heuvolk auf dem Gelände des Benjamin-Franklin-Village Mannheim, Foto: Erich Goldmann
Ein kleiner Teil des Ensembles während der Einlasssequenz von SIGNAs Das Heuvolk auf dem Gelände des Benjamin-Franklin-Village MannheimFoto: Erich Goldmann

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Dramaturgisch betrachtet, verbirgt sich hinter der Involvierung des Publikums durch Handlungsanweisungen zuvorderst die produktionsästhetische Planung und Organisation des Publikums in den Räumen der Aufführung, seine Aufteilung und mögliche Lenkung. Extradiegetisch beginnt der Aufführungsbesuch bereits mit einigen Anweisungen, die den Zuschauer*innen während des gemeinsamen Bustransfers vom Nationaltheater Mannheim zum Spielort mitgeteilt werden. Sie umfassen u. a. das Verbot von Handynutzung während der Aufführung sowie die Ankündigungen, alle persönlichen Dinge an der Garderobe in einem separaten Gebäude abgeben zu müssen und um Mitternacht wieder gemeinsam abgeholt zu werden (da es keine Anbindung an die öffentlichen Verkehrsbetriebe gäbe). Auf dem Gelände angekommen, werden die Zuschauer*innen von Wilhelm (Arthur Köstler) sowie zwei vermummten zotteligen Heufiguren, die sich etwas abseits hinter den Bäumen verstecken, in Empfang genommen. Gemeinsam wird die Zuschauer*innen-Gruppe zum Spielort geführt, vor dem ein weiteres Empfangskomitee festlich, schwarz-weiß gekleideter Performer*innen versammelt ist.

Die Himmelfahrer stehen Spalier, singen »Himmelsschiff, wir kommen!« und begrüßen eintreffende Zuschauer*innen mit direkten Blickkontakten. An der Schwelle des Gebäudes werden Zuschauer*innen auf die zwei eingerichteten Etagen verteilt, wobei stets versucht wird, Gäste, die sich zu kennen scheinen, sogleich voneinander zu trennen.

Die für alle Zuschauer*innen je erste Station dient der Einführung des Publikums in den fiktiven Mikrokosmos. Hier wird szenisch die Narration von Jake und seiner Gemeinschaft der Himmelfahrer, ihren Plänen und Zielen sowie ihren zentralen Glaubenssätzen vorgestellt (vgl. Kap. 2.3.3). Das Publikum wird mit einer Gemeinschaft vertraut gemacht, die ihren Alltag der »Fünf Säulen der Himmelfahrer« entsprechend eingerichtet hat, einem Bündel von »Weisungen«, die ihnen der verstorbene Gemeinschaftsgründer Jake Walcott mitgegeben habe. Diese Weisungen zum Glauben, zur Reinheit, zum Zusammensein untereinander, aber auch mit dem Heuvolk legen das soziale Miteinander fest und werden von allen Himmelfahrern verbindlich befolgt. Bei Nichtbefolgung warten entsprechende Strafen. Neben der Einführung in den Mikrokosmos und der damit verbundenen Fiktionalisierung von Zuschauer*innen als innerdiegetische Besucher*innen der »Tage des Zustroms« wird zugleich der Ablauf des Besuchs vorgestellt. Abends widmet sich die Himmelfahrer-Gemeinschaft stets ihrer rituellen Arbeit. Als Besucher*innen sind wir deshalb eingeladen, die insgesamt zehn Schreine, die Pearl Box als zentralen Ort der Reinigung sowie drei verschiedene »Schulen« zu besuchen, um die Gemeinschaft und ihre Praktiken kennenzulernen. Perspektivisch geht es innerdiegetisch darum, unter uns, dem Heuvolk, diejenigen wenigen ›Auserwählten‹ ausfindig zu machen, die sich gleichfalls berufen fühlen, Teil der Gemeinschaft zu werden.203 Zur Beschreibung des Besuchsverlaufs gehört zuletzt auch noch ein weiteres Bündel an Regeln, die den Gästen mitgeteilt werden:

Rauchen und die Verrichtung der Notdurft finden außerhalb des Hauses der Götter statt. Lautes Sprechen und Gelächter sind im und um das Haus herum verboten. / Das Benutzen von Mobiltelefonen gefährdet die zeremonielle Arbeit und stört den Empfang von Jakes Wellen. / Ansammlungen größerer Gruppen stören die zeremonielle Arbeit. Wenn eine Zeremonie begonnen hat, den Schrein nicht mehr betreten. […] / Um ungefähr 23 Uhr verlassen wir alle gemeinsam das Haus der Götter, um in die Kapelle zu gehen.204

Nach etwa 15 bis 20 Minuten wird von den Performer*innen in ihren Figuren ein erster Raumwechsel initiiert, der sicherstellt, dass alle Zuschauer*innen einigermaßen gleichmäßig auf die Schreine verteilt werden, damit das SIGNA-Aufführungen bestimmende Verhältnis von zwei bis drei Zuschauer*innen auf eine*n Performende*n realisiert werden kann. In den Schreinen wird dann nach und nach mehr von der Gesamtnarration preisgegeben, indem die Figuren Fiktionswissen in ihre Erzählungen, die zumeist zwischen den verschiedenen Ritualen Raum finden, einfließen lassen. Mit jedem ersten Schreinbesuch wird zugleich die obligatorische Handlungsanweisung verbunden, beim Betreten die sogenannten Trickster, die sich in Gestalt von kleinen Clownspuppen wie auf kleinen Altären gebettet oberhalb der Türschwellen befinden, mit einem Gruß zu versehen. Innerdiegetisch sorgen sie für den reibungslosen Ablauf der Rituale, weshalb es wichtig sei, sie nicht zu verstimmen.

Im nächsten Schritt beginnt die Einbeziehung der Zuschauer*innen als fiktionalisierte Besucher*innen in die verschiedenen Zeremonien und Rituale, die in den Schreinen praktiziert werden und den innerdiegetischen Alltag der Himmelfahrer repräsentieren. Der vorgesehene Grad der Mitwirkung kann dabei von teilnehmender Beobachtung bis zu aktiver Teilnahme reichen. Das Tätigkeitsspektrum von Zuschauer*innen während der rituellen Praxis umfasst dabei von vorbereitenden Aufgaben wie der Reinigung von Geschirr oder Körperteilen der menschlichen Hüllen über das Ritual unterstützende Tätigkeiten wie dem Schlagen eines Rhythmus, dem chorischen Nachsprechen von Schwüren oder dem Trinken und anschließenden Ausspeien einer alkoholischen Flüssigkeit bis zur aktiven Ritualteilnahme durch eine eigene materielle oder immaterielle Opfergabe. Entscheidend ist hierbei, dass die Besucher*innen allen pro Schrein ausgegebenen Handlungsanweisungen Folge leisten. Eine Verweigerung hat den Ausschluss aus der Zeremonie sowie einen Raumverweis zur Folge.205Jenseits der Rituale, insbesondere in den drei »Schulen«, wurde ich bei meinen zwei Aufführungsbesuchen in weitere aktive Tätigkeiten wie das Basteln kleiner Heupüppchen und Komponieren und/oder gemeinsamen Singen eines Liedes einbezogen. Häufig kommen auch Handlungsanweisungen in Form von Botengängen vor, bei denen Performer*innen Zuschauer*innen bitten, etwas – zumeist handelt es sich um Speisen oder eine geheime Botschaft – an eine bestimmte Person in einem anderen Schrein zu übergeben, wodurch ein Raumwechsel für die Zuschauenden initiiert werden kann.

Die in die Aufführung integrierten Rituale erfüllen innerdiegetisch zwei Funktionen, die auch in der Ritualtheorie als charakteristisch herausgestellt werden:

Rituale sind transformative Handlungen, die einem tradierten Muster folgen. […] Einerseits tragen sie formale, regelhafte und repetitive Züge, durch die sie für den Einzelnen oder für eine Gruppe stabilisierend und kohärenzstiftend wirken. Andererseits können Rituale als kontingente und transgressive Ereignisse beschrieben werden, deren Funktion darin besteht, unterschiedliche Arten von Grenzüberschreitungen zu ermöglichen (Warstat, 2014, S. 297, Hervorhebungen TS).

Beide Funktionen – ihre die Gemeinschaft stabilisierende Wirkung einerseits und ihr Potenzial einer Initiation von Grenzüberschreitungen andererseits – finden sich auch in der fiktionalisierten Lebenswelt der Himmelfahrer wieder. So sorgen die regelmäßigen Rituale bzw. Zeremonien für die Strukturierung ihres Alltags, welche gerade nach dem Tod von Jake von zunehmender Wichtigkeit für den Erhalt der Gemeinschaft ist. Und die Zeremonien stellen für die einzelnen Figuren veritable Formen der Grenzüberschreitung dar, insofern sie für die Dauer der beschworenen Manifestation der Gottheit in einen tranceartigen Zustand geraten. Auf der Ebene der Publikumsinvolvierung zeitigt die Teilnahme an den Ritualen für Zuschauer*innen zunächst einen stabilisierenden Effekt, zumal der Aufführungsbesuch dadurch klar strukturiert ist und im Vergleich zu anderen SIGNA-Arbeiten von den Zuschauer*innen wenige proaktive Gesprächsimpulse erwartet werden. Betrachtet man die gesamte Aufführung als Ritual206, dann lässt sich durchaus davon sprechen, dass auch Zuschauer*innen – und zwar nicht nur mit ihrer Teilnahme am Abschlussritual (vgl. Kap. 4.4.2) – eine Form temporärer Grenzüberschreitung erfahren können.

Es zeigt sich nach diesen ersten Beschreibungen des Ablaufs der Aufführung, dass die Publikumsinvolvierung durch Handlungsanweisungen in Das Heuvolk immer zugleich die Involvierung in das soziarelationale Aufführungsgeschehen sowie die Involvierung in die repräsentierte, fiktionalisierte Lebenswelt der Himmelfahrer betrifft. Beide Ebenen sind auf diese Weise systematisch miteinander verknüpft und zudem in kommunizierte Regelwerke, Normen und Orientierungsweisen eingebettet. Regeln, die es pragmatisch braucht, um das Publikum bestmöglich durch die Räume und die inszenierte Weltversion zu lenken, werden, wie im oben genannten Zitat der ausgegebenen Regeln deutlich wird, in ihrer Begründung fiktionalisiert und innerdiegetisch durch einen Sprechakt, mit dem die Direktiven an die Besucher*innen weitergereicht werden, bekräftigt. Sich als Gast auf das Aufführungsgeschehen wie auch den Mikrokosmos einzulassen, bedeutet notwendigerweise, sich den ausgegebenen Regeln unterzuordnen.

Auch der Alltag in der fiktionalen Gemeinde ist streng reglementiert und erfolgt in routinierten Abläufen. Wir besuchen die Himmelfahrer am frühen Abend, wenn sich alle ihrer zeremoniellen Arbeit in den Schreinen widmen. Von weiteren gemeinsamen, streng getakteten Aktivitäten am Vormittag – morgendliche Traumdeutung, gegenseitige Rasur, Gymnastik oder Einzelreinigung in der Pearl Box – erfahren wir nur aus Berichten der Figuren. Die Rituale selbst sind in sich ebenfalls streng reglementiert und in ihrem Ablauf festgelegt: Ihnen muss eine Anfangsreinigung, eine kollektive Beschwörung der Trickster und eine Form von symbolischer Kreisziehung vorangehen. Es folgt das Aussprechen oder Singen der Anrufung an jenen Erdkerngott, der sich in der menschlichen Hülle manifestieren soll. Die wichtigste Phase ist das Eindringen des Gottes in und sein Aufenthalt im Körper der Figuren, die dabei zumeist in eine Form von Ekstase versetzt werden. Je nach variierender Dauer der ›Besetzung‹ des Gottes erfolgt dann die Auflösung des Kreises, die Endreinigung und ein obligatorischer Dank an die Trickster für den reibungslosen Ablauf. Dieser Ritualverlauf ist den Himmelfahrern, genau wie die Gesamtstruktur der Gemeinde und die bereits genannten »Weisungen« für das Zusammenleben, von ihrer Führungsfigur Jake vorgegeben worden und wird von ihnen in geschäftiger Hörigkeit befolgt. Fragt man einzelne Himmelfahrer nach Sinn und Zweck mancherlei Aktivität, rekurrieren sie stets auf Jakes Willen als letzterklärende Instanz. Da der Alltag der fiktionalen Himmelfahrer in erster Linie darin besteht, Rituale durchzuführen, lernen die Besucher*innen diese Lebenswelt schließlich auch am besten kennen, wenn sie an den Ritualen selbst teilnehmen. Es lässt sich festhalten, dass der fiktionale Mikrokosmos bei Das Heuvolk den Modus der Publikumsinvolvierung mitbestimmt. Handlungsanweisungen bilden dabei das zentrale Element der Einbeziehung des Publikums in das Aufführungsgeschehen wie auch in die Lebenswelt der fiktionalisierten Glaubensgemeinschaft.

Die verschiedenen Regeln lassen sich auch als Handlungsskripte verstehen, die die entsprechenden Handlungsoptionen und Handlungsspielräume von Figuren wie auch Zuschauer*innen mitbestimmen. Auch Teile der Szenografie, die Ausstattung der einzelnen Schreine mit ihren Tricksterstationen, altarähnlichen Konstellationen und Jake-Porträts, legen in Das Heuvolk Handlungsspielräume fest. Insbesondere den Requisiten, die während der Zeremonien zum Einsatz kommen, wohnen nicht nur Handlungsskripte im Sinne eines Wissens um ihre Benutzung, sondern auch Handlungsmacht inne (vgl. dazu Bennett, 2020, S. 22). Eine Betbank, ein Musikinstrument, eine Feder, eine Waschschüssel, ein Schnapsglas, Kordeln oder kleine Püppchen – all diese Objekte werden im Sinne Latours Akteur-Netzwerk-Theorie zu Aktanten in einem Netzwerk, das handelnde Menschen und Dinge situativ miteinander ausbilden. Den Dingen kommt in der rituellen Praxis der Himmelfahrer Handlungsmacht zu und ihre Mit-Wirkung ist konstitutiv für das Gelingen der Zeremonien.207 Im Gegensatz zu vielen anderen SIGNA-Arbeiten, in denen das Gespräch zwischen Zuschauer*innen und Performer*innen im Zentrum des szenischen Geschehens steht, überwiegt in Das Heuvolk ein gemeinsames, aktives Mit-Tun. Dies führt dazu, dass Zuschauer*innen im Aufführungsverlauf an sich beobachten können, wie sie Teil dieser innerdiegetisch mit bestimmter Bedeutung aufgeladenen Mensch-Ding-Konstellationen werden, z. B. indem sich das Grüßen der Trickster bei Betreten eines Schreins automatisiert und ganz selbstverständlich vollzogen wird.

Wenngleich diese Ausführungen zeigen, dass Besucher*innen von Das Heuvolk zwar grundsätzlich die Möglichkeit haben, sich selbstständig im Gebäude zu bewegen, zu entscheiden, wo sie wie lange bleiben und mitmachen oder mit wem sie ein Gespräch suchen, so zeigt sich doch, dass die handlungsanweisungsbezogene Involvierung der Zuschauer*innen, die in Das Heuvolk dominiert und zuvorderst über diverse inner- wie extradiegetisch geltende Regelkataloge in Gang gesetzt wird, dafür sorgt, Handlungsspielräume abzuzirkeln und eng zu halten. Zuschauer*innen müssen sich während ihres Besuchs dem rituellen Tun der Himmelfahrer und damit ihren reglementierten Abläufen unterordnen. Das dichte Netz an Regeln, expliziten Handlungsanweisungen und impliziten, den Dingen innewohnenden Handlungsskripten zielt auf eine vereinnahmende Wirkung bei den teilnehmenden Zuschauenden ab. Permanente Beschäftigung soll an die Stelle von Gesprächen treten und damit innerdiegetisch sicherstellen, dass nicht zu viele kritische Nachfragen gestellt werden und dass Himmelfahrern auch gar nicht erst widerfahren kann, zu viel von sich und der Gemeinschaft preiszugeben. Geschäftigkeit, Regeltreue und das Einfügen in eine vorgegebene, sinnstiftende Ordnung zeichnet die Himmelfahrer aus – und ebendiese Lebensform, die auf der machtvollen Vereinnahmung von Individuen zum Zwecke eines vermeintlich höheren Ziels basiert, gilt es, kennenzulernen, indem man selbst zum Subjekt ihrer vereinnehmenden Strukturen wird.

Der Schrein der Göttin Maria Marena, alles in Weinrot und angenehm duftend. Hier befinden sich neben Davina (Marie S. Zwinzscher), der »Hülle«, auch die beiden Diener*innen Natalia (Agnieszka Salamon) und Ahmad (Jaavar Sidi Aly). Nach meinem obligatorischen Trickstergruß nimmt sich Natalia meiner an. Eine zweite ältere Zuschauerin stößt noch dazu. Natalia erklärt uns, dass Maria Marena die Göttin des Leids sei, dass insbesondere Frauen viel Leid zu (er-)tragen hätten und fragt, ob wir bereit wären, einen Teil unseres Leides als Opfergabe für Maria Marena darzubringen. Die Zuschauerin antwortet auf die Frage, welches Leid sie in sich trage, dass ihr Mann vor dreieinhalb Jahren verstorben sei und dass sie das Leid lieber für sich behalten möchte, was Natalia anstandslos akzeptiert. Ich erkläre mich bereit, ein Leid von mir zu teilen. Dafür soll ich zunächst einen Schluck von einem hochprozentigen Schnaps nehmen und die Statue einer nackten Frau in der Mitte des Raumes anspeien. Dann soll ich mich auf den Boden setzen, auf den schweren Teppich an der Schwelle zu der zwei Stufen hohen Podesterie, auf der die nackte und komplett mit roter Körperfarbe bemalte Davina auf einer Chaiselongue liegt und etwas abwesend wirkt. Dann gibt mir Natalia noch mal einen Schluck einer roten, alkoholischen Flüssigkeit zu trinken – in dieser solle ich mein zu teilendes Leid bündeln und es anschließend in die Opferschale von Davina/Maria Marena spucken. Sie werde dann Kontakt mit mir aufnehmen und ich könne ihr – mit Worten oder still – mein Leid mitteilen. Mit dem beißenden Schluck Alkohol in meinem Mund versuche ich, gedanklich ein bestimmtes Leid zu fokussieren und es mir über die Erinnerung wieder präsent zu machen. Davina/Maria Marena beginnt nun, sich mit dem Oberkörper zu mir herabzubeugen, sie schaut mir tief in die Augen. Dann nimmt sie meine rechte Hand in ihre. Tatsächlich entsteht durch den geradezu hypnotischen Blickkontakt, die physische Nähe und den Gedanken an eine schmerzhafte Erinnerung ein sehr intensiver Moment, dem sich beide eine ganze Weile hingeben. Ich spüre, wie sich Davina/Marie eine Vorstellung eines schwerwiegenden Leids macht, davon ihrerseits ganz ergriffen wird, sich dann Stück für Stück im Schmerz zu verlieren scheint und schließlich von mir ablässt.208

Anhand dieser Miniatur lässt sich zeigen, wie ich als Zuschauerin qua handlungsanweisungsbezogener Involvierung vor allem auf innerfiktionaler Ebene gleich zweifach vereinnahmt werde. Aus der Gast-Perspektive, aus der heraus ich die repräsentierte Lebenswelt der fiktiven Himmelfahrer erkunde, macht es einen durchaus freundlichen und offenen Eindruck, nicht nur als unbeteiligte Voyeurin durch die eingerichteten Privaträume wandeln zu müssen, sondern auch an den Ritualen der Gemeinschaft teilnehmen zu dürfen. Zugleich suggerieren die Mitglieder, dass man ihnen mit der Unterstützung bei der zeremoniellen Arbeit auch einen Dienst erweise.

Die beschriebene Situation im Schrein von Maria Marena lebt zunächst von einer Wissensasymmetrie: Während die drei Performer*innen um die Handlungsskripte wissen, die mit ihrem Schrein und ihrer rituellen Praxis verbunden sind, sind wir beiden Zuschauer*innen weitestgehend unwissend. Was wir zu diesem Zeitpunkt lediglich erfahren haben, ist, dass in den Schreinen Rituale stattfinden, die darauf abzielen, die Erdkerngötter in menschliche Hüllen fahren zu lassen, um diese mit in die »Neue Welt« nehmen zu können. Nach Betreten des Schreins und dem bereits automatisierten Trickstergruß meinerseits werden ich und die kurz danach noch hinzustoßende Zuschauerin von Natalia an das bevorstehende Ritual herangeführt. Da ich entlang ihrer Ausführungen den Eindruck bekomme, dass das Stattfinden der Zeremonie von einem Freiwilligen aus unserer Reihe abhängt und meine Mit-Besucherin ablehnt, erkläre ich mich bereit. Schritt für Schritt befolge ich, was Natalia mir aufträgt, zu tun. Während der Zeremonie versucht mich Davina alias Maria Marena, mit Nähe, Körperkontakt und intensivem Blickkontakt in ihren Bann zu ziehen, sucht dabei meinen Ausdruck nach Zeichen eines vorgestellten Schmerzes ab. Ich lasse mich auf die Situation ein und versuche mich an ein Leid, das mir in meiner Kindheit widerfahren ist, so intensiv wie möglich zu erinnern, und dabei auch, die damit verbundenen, wieder aufkommenden Gefühle zuzulassen. Ich realisiere, wie Maria Marena darauf reagiert, wie sie sich von meiner Emotion anstecken lässt, wie sich Tränen in ihren Augen sammeln, sich ihr Körper verändert und sie selbst Medium einer verkörperten Schmerzempfindung wird, in der sie sich dann verliert. Wir befinden uns in dieser Szene für einen Augenblick in einem reziproken Verhältnis wechselseitiger Affizierung par excellence: Zunächst bezeugen wir (vor-)einander eine leidvolle Erfahrung und dann werden wir in körperlicher Nähe Zeuginnen unserer wechselseitigen Affizierung. Ich lasse mich hier for the ritual’s sake auf eine Situation ein, die mich situativ und emotional komplett vereinnahmt. Zugleich werde ich mit dem Befolgen der Regeln und Anweisungen im Rahmen der aktiven Teilnahme an der Ritualhandlung ähnlich wie in Das halbe Leid (vgl. Kap. 4.3) zur Komplizin bei der gemeinsamen Erzeugung einer schmerzhaften Leid-Empfindung, die innerfiktional die Manifestierung der Göttin sicherstellt. Diese damit verbundene zweite Ebene der Vereinnahmung beginne ich allerdings erst verspätet, nach der bereits gemeinsam ausgeführten Ritualhandlung, zu realisieren.

Ausschlaggebend hierfür war insbesondere eine kurze Begegnung mit Ahmad nach dem Ritual. Er erwähnte mir gegenüber, dass Davina als eine der Einzigen in der Gemeinde schon fast komplett von Maria Marena eingenommen sei und dass er sie sehr vermisse. In einem anderen Schrein hatte ich zuvor erfahren, dass die Himmelfahrer, die als Hülle fungieren, davon erheblich physisch wie psychisch in buchstäbliche Mitleidenschaft gezogen würden und dass auch ihre kognitiven Kapazitäten davon nachhaltig angegriffen würden. Stück für Stück begreife ich, dass es sich bei den Zeremonien im Grunde um die Persönlichkeit gefährdende, ja um regelrecht zerstörerische Rituale handelt, bei denen Hüllen wie Davina nicht nur ihren Körper für die in sie fahrende Göttin, sondern auch ihre Persönlichkeit für die Zukunft der Gemeinschaft opfert. Und dies tut sie wie zahlreiche andere Mitglieder, die in den Schreinen als Hüllen fungieren, weil sie Jakes Weisungen und seinem propagierten Weltbild Glauben schenkt. Sie alle opfern sich für die Gemeinde und sind selbst ›Opfer‹ von Jakes autoritärer, einnehmender Struktur, mit der er für diese Konstellation ›anfällige‹ Menschen instrumentalisiert, zerstört und ausbeutet. Auf diese Weise betrachtet, treten die Himmelfahrer innerdiegetisch als verkörperte Handlungs(an)weisungen ihres spirituellen Führers Jake in Erscheinung. Sie haben Jakes Aufträge derart verinnerlich, dass sie bereit sind, sich dafür selbst aufs Spiel zu setzen. Und die an den Ritualen teilnehmenden Zuschauenden wirken daran innerfiktional im Modus (ver-)einnehmender Komplizenschaft mit, zumal sie diese Form der Gewalt und des Machtmissbrauchs durch Mitwirkung am Ritual nicht nur hinnehmen, sondern auch fortsetzen. Nicht zuletzt aus diesem Grund bietet sich zur Beschreibung eines solchen handlungsanweisungsbezogenen Involvierungsmodus der Begriff der Komplizenschaft im Sinne von »Mittäterschaft« an. Der*die Zuschauer*in macht sich hier innerfiktional mitschuldig, insofern er durch sein aktives Mit-Tun das hierarchisch formierte System stützt.

Während Gesa Ziemer, die das Konzept der Komplizenschaft in die Theaterwissenschaft eingeführt hat, mit dem Begriff zuvorderst eine Gemeinschaft von Künstler*innen im Blick hat, welche sich temporär durch den kollaborativen Einsatz bestimmter Taktiken herausbildet, um Kritik zu platzieren (vgl. Ziemer, 2013), adressiere ich mit Rekurs auf die Theaterwissenschaftlerin Liesbeth Thorlacius (und über sie hinaus) Komplizenschaft als einen, involvierte Zuschauer*innen betreffenden Modus von innerdiegetischer Vereinnahmung (vgl. Thorlacius, 2015, S. 93 – 96). Sich dieser gewahr zu werden, setzt voraus, sein eigenes Tun nicht nur im Kontext des Aufführungsgeschehens, sondern zusätzlich auch im Kontext der repräsentierten Lebenswelt zu reflektieren. Denn erst so lässt sich im Fall von Das Heuvolk erkennen und begreifen, dass ich als Zuschauerin mit meiner ›artigen‹ Teilnahme an Ritualen wie dem von Maria Marena innerfiktional zur Komplizin Jakes werde, insofern ich mit meinem Mit-Wirken unbeabsichtigt seine hierarchische Struktur stütze und (s)ein System machtvoller Manipulation perpetuiere. Qua meiner aktiven Ritualteilnahme werde ich innerfiktional von den Handlungs- und Beziehungsweisen eines Mikrokosmos vereinnahmt, in dem höriges Sich-an-die-Regeln-Halten als die verbindliche Norm und Richtschnur kollektiven Miteinanders gilt. Dafür, dass es zu dieser Form der Komplizenschaft als Vereinnahmung auf innerdiegetischer Ebene kommen kann, braucht es das aktive Mit-Tun der Zuschauer*innen, braucht es das Befolgen der Handlungsanweisungen.

203 So heißt es in der Begrüßungsrede: »Heuvolk, an unserer Liebe dürft ihr teilhaben! Auch wenn ihr nur diesen einen Abend bei uns bleibt, sollt ihr unsere Brüder und Schwestern sein. Und wenn Jake es will, werdet ihr hier bleiben und mit uns gehen aus der Finsternis, aus dem Käfertal. Ja, so sei es, ein Zeichen wird kommen und wer bei uns bleibt, wird keinen Zweifel mehr haben, wird Jake sehen und Trost gibt ihm der Himmel!« (Zitat aus dem Dokument »Anfangsrede« aus den Produktionsmaterialien von Signa Köstler. Es zeigt, dass es insbesondere in den einführenden Passagen von SIGNA-Aufführungen durchaus auch geskriptete Teile gibt.)

204 Zitiert aus den Produktionsmaterialien von Signa Köstler.

205 Mir ist dies während meiner zwei Aufführungsbesuche zweimal passiert: Einmal wollte ich im Schrein der »Twins« nicht ein weiteres Mal die bereits von anderen Zuschauer*innen angefassten und dementsprechend bereits sehr abgegriffen aussehenden Kaubonbons in den Mund nehmen, was zum Ausschluss vom Ritual führte. Und ein anderes Mal, im Schrein der »Lady of 100 Birds«, in dem zu Beginn ein sogenannter Reinheitstest gemacht wird, schlug ein von einer Performerin an den Körpern der Teilnehmer*innen nah geführtes Glöckchen bei mir aus, markierte damit innerfiktional meine ›Unreinheit‹ und begründete meinen Raumverweis. Es zeigt sich hier, dass Performer*innen die Möglichkeit haben, Besucher*innen gezielt zu einem Raumwechsel zu bewegen (z. B. wenn ein Schrein zu voll ist oder ein Gast schon zu oft dabei war), indem sie sich innerfiktional einen Vorwand überlegen und dem*der Zuschauenden gegenüber durchsetzen.

206 Man könnte – wie Joy Kalu dies für SIGNAs Ventestedet aufgezeigt hat (vgl. Kalu, 2017, S. 70) – argumentieren, dass Das Heuvolk selbst die Struktur eines Übergangsrituals mit den drei Phasen Trennungsphase, Schwellenphase und Wiedereingliederungsphase aufweist. In der Trennungsphase wird »[d]as rituelle Subjekt, sei es ein Einzelner oder eine Gruppe, […] von einer bestimmten sozialen Position und den mit ihr verbundenen Beziehungen, Umgebungen, Regeln und Aufgaben losgelöst« (Warstat, 2014, S. 297). Auf Das Heuvolk übertragen, ist die Trennungsphase durch die gemeinsame Busfahrt zum Spielort sowie die aufwendige Begrüßungszeremonie markiert. In der Schwellenphase befindet sich »[d]as rituelle Subjekt […] in einem Zwischenstadium, das weder Merkmale des vergangenen noch des künftigen Zustands aufweist und neue, teilweise verstörende Erfahrungen ermöglicht« (ebd.). Beim Heuvolk-Besuch ist das die Phase, in dem die Zuschauer*innen die fiktionalisierte Lebenswelt der Himmelfahrer kennenlernen und an ihren Ritualen teilnehmen. In der Wiedereingliederungsphase kehrt »[d]as rituelle Subjekt […] in einen relativ stabilen Zustand zurück und verfügt nun über eine neue soziale Position mit entsprechend veränderten Beziehungen, Umgebungen, Regeln und Aufgaben« (ebd.). Auf Das Heuvolk bezogen, ist hiermit die Auslassphase sowie die Rückfahrt mit dem Shuttle in die Mannheimer Innenstadt angesprochen. Sie gestaltet sich für jene Zuschauer*innen, die sich mit dem Abschlussritual für eine Mitgliedschaft entschieden haben, entsprechend anders, gehorcht aber der Struktur.

207 An dieser Stelle möchte ich darauf hinzuweisen, dass sich die eklektisch entwickelte Fiktion der Himmelsfahrer hinsichtlich der Ausgestaltung ihrer Ritualpraktiken auch Wissen aus außereuropäischen (Ritual-)Kulturen und Religionen aneignet. Wenngleich diese Aneignung innerdiegetisch als Kritik an Jakes synkretistischem Glauben und dessen Verankerung innerhalb einer westlichen kolonialen Matrix gelesen werden kann, haftet ihr in der gemeinsamen Ausführung auch etwas Spektakuläres und Exotisierendes, im Sinne einer pauschalisierenden Feier einer ›anderen‹ Form des (religiösen) Weltbezugs, an.

208 Aus dem Erinnerungsprotokoll meines ersten Besuchs von Das Heuvolk am 16.6.2017 in Mannheim.

 

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