1. Sozialkritik und postmoderner Kapitalismus
von Bernd Stegemann
Erschienen in: Kritik des Theaters (04/2013)
Die Freiheit der Kritik ist in der kapitalistischen Demokratie ein verbürgtes Recht. Doch wo andere Gesellschaften neidvoll auf den ungehinderten Kommunikationsfluss schauen, stehen inzwischen die meisten Bewohner des freien Westens desinteressiert am Ufer des immer breiter werdenden Stroms aus Informationen, Meinungen und Werbung. Nur wenn sich unmittelbar Betroffene zu einer gemeinsamen Kundgebung ihres Protestes versammeln, stellt sich noch das existentielle Gefühl der Empörung ein. Gilt es den Neubau eines Regionalbahnhofes, der zu teuer ist, oder eines Flughafens, der die Wohnqualität stört, zu verhindern, sind sich die Beteiligten über die Ursachen ihres Protestes einig. Fragt man dieselben »Kritiker« auf ihrem Weg in den Urlaub, so ist die Benutzung des Fernverkehrs deutlich weniger ein Werk des Teufels. Der Flug in den sonnigen Süden gilt als Menschenrecht des arbeitenden Nordeuropäers. Doch der Überflug bewohnter Gebiete ist zu verhindern, sollte man selbst dort wohnen. Dass die kritische Position immer auch eine Kritik der Position ist, ist mit Kants drei Kritiken als Notwendigkeit des Denkens erkennbar geworden. Doch gerne wird die Dialektik der Kritik im Furor der moralischen Überzeugung vergessen.
Die einfachste Form der Kritik, die Empörung, läuft aufgrund ihrer Naivität in einer komplexen Gesellschaft zusehends ins Leere. Zu offensichtlich ist ihr immanenter Widerspruch und...