Die Unterbrechung denken I: „Systemrelevanz“
von Wolfgang Engler
Erschienen in: Wendungen: Die andere Wahrheit (09/2021)
Im Begriff „Systemrelevanz“, so wie er in der Corona-Pandemie aufkam, kündigt sich die Auflösung der heiligen Trinität aus Moderne, Gesellschaft und Kapitalismus an, die doch noch kürzlich wie aus einem Guss geformt schien. Diesem epochalen Vorgang auf die Spur zu kommen, muss man sich nur in die Weltfinanzkrise von 2008/09 zurückversetzen. Da ging es, wie derzeit, um die Rettung des Systems, um Priorisierung: Was muss zuerst geschehen, was kann warten. Den Einsturz des finanzökonomischen Tragwerks der Marktmoderne um jeden Preis abzuwenden stand ganz oben auf der politischen Agenda; whatever it takes. Selbst die größten Kapitalismuskritiker hätten sich dem nicht entziehen können, es stand einfach zu viel auf dem Spiel. Wie man weiß, wurde die Weltfinanzindustrie im Wesentlichen zu ihren eigenen Bedingungen gerettet, was alles andere als selbstverständlich war. Der Hochfrequenzhandel lief weiter, einige der Too-big-to-fail-Banken wuchsen seit 2008, statt auf ein abwicklungsfähiges Format zu schrumpfen, die Marktmacht der drei großen Rating-Agenturen nahm weiter zu, desgleichen die Verschuldung der Unternehmen im Verhältnis zu deren Wirtschaftsleistung. „Too much finance“, so war es vor der Krise, so ist es noch immer.24 Das „System“, das seinerzeit gerettet wurde, war, offensichtlich genug, der „(Finanz-)Kapitalismus“, „relevant“ alles, was dazu beitrug, als unverzichtbar angesehen wurde,...