Letzte Tage. Ein Vorabend
Über ein Projekt von Christoph Marthaler, Stefanie Carp und Uli Fussenegger im historischen Sitzungssaal des Wiener Parlaments
von Malte Ubenauf, Stefanie Carp und Christoph Marthaler
Erschienen in: Arbeitsbuch 2014: Christoph Marthaler – Haushalts Ritual der Selbstvergessenheit (07/2014)
Malte Ubenauf: Die Produktion „Letzte Tage. Ein Vorabend“ wurde wie „Schutz vor der Zukunft“ oder „Ankunft Badischer Bahnhof“ an einem Originalschauplatz erarbeitet und gezeigt – in diesem Fall im alten Sitzungssaal des Wiener Parlaments. Anders als bei den genannten Projekten gab es jedoch dieses Mal einen explizit musikalischen Ausgangspunkt für die Inszenierung, erarbeitet vom Kontrabassisten des Wiener Klangforums Uli Fussenegger.
Stefanie Carp: Es gab den Vorschlag von Uli Fussenegger, ein Projekt über die aus Wien und Prag vertriebene Musik zu gestalten, über Musik von Komponisten, die nach 1938 entweder rechtzeitig emigrieren konnten oder nach Theresienstadt kamen und von denen viele später nach Auschwitz deportiert wurden und dort, wie Viktor Ullmann oder Pavel Haas, umgebracht wurden. Obwohl es sich bei den Kompositionen, die Uli Fussenegger gefunden und bearbeitet hatte, um auch für Musiker oder Musikspezialisten eher selten gehörte Musik handelte, hatte ich zunächst Angst, dass wir da in Wien offene Türen einrennen; dass man das in Wien weiß und kennt und dass Projekte über das Theresienstadt-Orchester und die Musik aus Theresienstadt schon oft gemacht worden sind. Das war dann aber gar nicht so. Uli Fussenegger hat sehr spezielle und sehr schöne Kompositionen ausgesucht, teilweise in Archiven entdeckt und sie neu orchestriert und bearbeitet für wenige Instrumentalisten.
Christoph Marthaler: Es sind Kompositionen, die nicht so bekannt sind. Aber was heißt das genau? Es gibt ja kaum bekannte Kompositionen, die in Theresienstadt geschrieben wurden, von Komponisten, die dort gewesen sind und nach Auschwitz kamen oder die gerade noch den Absprung in die USA geschafft haben, wie Ernest Bloch und Alexandre Tansman.
Carp: Ein Problem war, wie man in dieser Arbeit die Umstände, unter denen die Musik entstand, vermittelt. Es gibt in „Letzte Tage“ ein Unisono-Motiv, das immer wiederkehrt. Wenn man zum Beispiel weiß, dass diese Musik die letzten Noten sind, das letzte notierte Fragment, das Viktor Ullmann geschrieben hat, auf Toilettenpapier, und dass er dieses dann einem Mitgefangenen gegeben hat, kurz bevor er deportiert wurde, wenn man das weiß, hört man die Musik anders. Je mehr ich über die Lebensgeschichten der Komponisten gelesen habe, die teilweise unglaublich ergreifend sind, desto schwieriger fand ich unsere Unternehmung in diesem historischen Sitzungssaal: Das gedankliche Problem war ja, musikalisches Material und Lebensgeschichten aus der NS-Zeit vor und während des Zweiten Weltkriegs mit einem Raum in Zusammenhang zu bringen, der historisch auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg verweist. Wie kriegt man das dramaturgisch zusammen? Die Grundsteine, die ideologischen Motivierungen der folgenden Katastrophen sind vor dem Ersten Weltkrieg gelegt worden. In dieser Zeit wurde in diesem Reichssitzungssaal das verhandelt, was sich später in Massenvernichtungslagern manifestierte. Antisemitismus und Rassismus waren gesellschaftsfähige Haltungen; ihre Verbindung mit aggressivem Nationalismus hatte in diesem Saal eine wichtige politische Bühne.
Marthaler: Dann lasen wir die Reden des damaligen Wiener Bürgermeisters Dr. Karl Lueger, das war ja noch deutlich vor Hitler gewesen. Man konnte es kaum glauben, dieser offene, selbstverständliche Antisemitismus. Und es ist erst ein paar Jahre her, da hieß ein Teil der Ringstraße in Wien immer noch Dr.-Karl- Lueger-Ring. Sie haben ihn jetzt umbenannt, aber es gibt auch immer noch eine Dr.-Karl-Lueger-Statue. Es war wirklich sehr eigenartig, sich mit Texten zu beschäftigen, die genau in diesem Saal ausgesprochen worden waren. Meine Angst war am Anfang, dass es kompliziert werden könnte, in so einem unangenehm mächtigen Raum zu arbeiten, der darüber hinaus auch akustisch schwierig war. Wir haben dann entschieden, ihn umgekehrt zu bespielen. Die Schauspieler saßen in den Parlamentarierbänken und das Publikum dort, wo sonst die Redner sitzen oder stehen. Dadurch hatte man diese eindrucksvolle Architektur, die aber auch monströs ist, ständig vor Augen. Anschließend beschäftigten uns dann Fragen wie: Wo befinden sich die Musiker, und wer sind sie? Wer sind die Spieler? Wie bewegen sie sich in einem Raum, der fast nur aus Sitzbänken, Pulten und Statuen besteht?
Carp: Der Raum dient ja inzwischen dazu, dort einmal im Jahr eine Gedenkstunde stattfinden zu lassen, anlässlich des Jahrestages, an dem das Lager Mauthausen geschlossen wurde. Für das heutige österreichische Parlament wird er schon lange nicht mehr benutzt. Er hat ja die Dimensionen des k. u. k. Österreich vor dem Ersten Weltkrieg, als sehr viele Menschen aus unterschiedlichen Ländern zusammenkamen, die in unterschiedlichen Sprachen ihre Reden hielten und einander nicht verstanden. Die Österreicher nennen ihn den „historischen Reichssitzungssaal“. Heute werden dort vor allem Fremdenführungen gemacht. Eines Tages hatte mich die Parlamentsverwaltung angerufen mit der Frage, ob die Festwochen eine Inszenierung zum diesjährigen Gedenktag machen könnten. So hat das Ganze angefangen. Es zog sich über Jahre hin, mal sollte es Geld geben für diese Produktion, dann wieder doch nicht. Als wir wirklich wollten, wollte auf einmal das Parlament nicht mehr – wie diese Dinge eben immer verlaufen …
Marthaler: Es war aber sehr wichtig für „Letzte Tage“, dass es in einem öffentlichen, von der Öffentlichkeit immer noch benutzten Raum stattfindet. Im Sitzungssaal wurde dann nicht Theater gespielt, und ein Bühnenbild haben wir auch nicht gebaut. Es gab aber Areale im Saal, die von Duri Bischoff auf besondere Weise eingerichtet wurden. Er hat damit gespielt, dass es immer hieß, das Parlament würde renoviert und müsse deshalb jetzt geschlossen werden. So hat er dann Teile des Saals in eine Baustelle verwandelt. Duri hat einige Zonen im Raum mit Folien bedeckt, ganze Statuen in Plastik eingepackt und auf diese Weise einen Renovationszustand hergestellt. Zu Beginn der Vorstellung hörte man irrsinnige Bohrgeräusche, Sägen und Hämmern. Renovationsgeräusche.
Ubenauf: Aus euren Berichten weiß ich, dass ihr während der Proben auch den Alltag der echten Parlamentarier erlebt habt. Zum Beispiel musstet ihr auf dem Weg in den Saal eine Sicherheitsschleuse passieren …
Carp: Ja. Und bei den Vorstellungen mussten auch die Zuschauer ihre Ausweise zeigen und durch die Sicherheitsschleuse.
Marthaler: Am Anfang kam es uns vor wie am Flughafen: Pässe abgeben und alles Metallische raus aus der Kleidung. Später dann waren wir privilegiert und bekamen spezielle Ausweise.
Carp: Im Gebäude, das ja riesig ist, stießen wir entweder auf Fremdenführer, die immer neuen Gruppen von Besuchern die Schönheit der Architektur erklärten, oder auf Reinigungspersonal. Und in der Kantine, wo wir zu Mittag aßen, saßen die Politiker. Die Schauspieler unseres Ensembles trugen blaue Kostüme und Anzüge, und die echten Parlamentarier rätselten, zu welcher politischen Gruppierung die gehören könnten.
Marthaler: Es gab dort einige konservative Parteien, Volksfraktionen, die hatten zum Teil echte Trachten an. Politiker, die Trachten trugen – das glaubt keiner! Aber es war eine tolle Kantine mit gutem Essen. Am Anfang gingen einige von uns zum Tresen, um Kaffee zu bestellen. Und dann sagte der Kellner ganz beleidigt: „Setzen Sie sich an den Tisch, ich komme schon vorbei!“
Ubenauf: Handelte es sich bei den Figuren von „Letzte Tage“ im weitesten Sinne um Politikerfiguren?
Carp: Im ersten Teil sind sie Parlamentarier eines imaginären europäischen Parlaments, das in der Zukunft sein könnte. Der Raum träumte in die Vergangenheit und in die Zukunft. Clemens Sienknecht hielt zum Beispiel eine Rede in einer Zeit, in der Europa ein Kulturpark geworden ist und der Antisemitismus zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt wurde. Thematisch ging es in „Letzte Tage“ um die antisemitische und rassistische Denkweise vor dem Ersten Weltkrieg und um die rechtspopulistischen Konzepte der europäischen Gegenwart, auch um den strukturellen Rassismus der vermeintlich wohlmeinenden Europäer, wenn es um Asylfragen geht und um die Formen der heutigen Ausgrenzung, wie Europa sich abschottet. Und dann sauste man in die Vergangenheit. Wir haben zum Beispiel Reden und Äußerungen von Viktor Orbán und Sätze aus der rechtspopulären ungarischen Presse ziemlich fies zusammencollagiert, die dann von Ueli Jäggi in Paprikadeutsch von einem Baugerüst aus vorgetragen wurden. Auch Äußerungen der Le-Pen-Tochter haben wir verwendet, Wilders, Sarrazin, alle diese vermeintlichen Phobiker mit ihren knallharten neoliberalen Konzepten. Die Musik, die in der Inszenierung erklang, stand für die Katastrophe, zu der das alles schon einmal führte. Und die sich immer versucht durchzusetzen, für die Opfer. Die Instrumentalisten des kleinen Orchesters wurden von Sarah Schittek ärmlich und historisch gekleidet, so wie man es aus den 1930er Jahren kennt.
Marthaler: Im ersten Teil wurden die Politiker bei ihren Reden immer wieder von Instrumentalmusik unterbrochen, woraufhin sie von der Bühne abschlichen. Ganz jämmerlich krochen sie aus dem Saal. Mich beschäftigte die ganze Zeit die Frage, wie man szenisch mit der Musik umgehen sollte. Zu gewisser Musik konnte man szenisch nichts machen. Der zweite Teil von „Letzte Tage“ war dann wirklich Konzert, da hatte die Musik den Raum für sich. Die Parlamentarier waren verschwunden, und sie kamen erst nach einiger Zeit als ganz andere Figuren wieder, als Verlorene oder Übriggebliebene, die sich die Reste eines Raumes ansehen. Menschen, die zu gar nichts mehr gehören, oder Geister ehemaliger Menschen. Sie wurden dann von chinesischen Reisegruppen fotografiert.
Ubenauf: Blieb das Publikum während der gesamten Vorstellung am gleichen Ort sitzen, oder wechselte die Perspektive?
Marthaler: Es gab mal die Idee, in den Gängen um den großen Saal herum eine ethnologische, vollkommen absurde Ausstellung heutiger Europäer zu installieren – von der Zukunft aus gesehen. Aber das wäre vielleicht auch zu viel gewesen.
Carp: Es gab auch den schlichten Grund, dass wir nicht genug Geld hatten, um so etwas zu realisieren. Ich habe das Geld, das man für eine wirklich großzügige Probenzeit benötigt, nicht zusammenbekommen, das hing mit vielen verschiedenen Umständen zusammen. Die ganze Produktion wurde dann in nur vier Wochen Probenzeit erarbeitet, und ich muss Christoph und allen Mitwirkenden sehr dankbar sein, dass sie das mitgemacht haben.
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Letzte Tage. Ein Vorabend
Mit Tora Augestad, Carina Braunschmidt, Bendix Dethleffsen, Nelson Etukudo, Silvia Fenz, Michael von der Heide, Ueli Jäggi, Katja Kolm, Josef Ostendorf, Clemens Sienknecht, Bettina Stucky, Thomas Wodianka, Die Wienergruppe/Instrumentalisten (Michele Marelli, Martin Veszelovicz, Hsin-Huei Huang, Sophie Schafleitner, Julia Purgina, Uli Fussenegger) – Regie Christoph Marthaler – Musikalische Leitung Uli Fussenegger – Raum Duri Bischoff – Kostüme Sarah Schittek – Lichtdesign Phoenix (Andreas Hofer) – Regiemitarbeit Gerhard Alt – Dramaturgie und Textcollage Stefanie Carp – Produktion Wiener Festwochen in Koproduktion mit der Staatsoper Unter den Linden (Berlin), Festival d´Automne / Théàtre de la Ville (Paris) und mit Unterstützung der Ernst von Siemens Musikstiftung – Premiere am 17. Mai 2013 im historischen Sitzungssaal des Wiener Parlaments.