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Erschienen in: Letzter Vorhang (05/2017)
Das Liebknecht entfaltete seit Jahren eine schlichtweg erotische Ausstrahlung. In erster Linie auf Hochschülerinnen. In erster Linie wegen Hartung. Intendant und Regisseur in einer allerdings überragenden Persönlichkeit vereinigend, hatte er mit seinen oft polemischen, dem Theaterstoff gegenüber respektlosen Inszenierungen das Haus in den letzten zwanzig Jahren zu dem gemacht, was es war: der letzte Ort künstlerischer Freiheit in der Stadt. In Deutschland. Wenn nicht in Europa. Das Zuhause für Schauspieler, deren Talent sich vor allem darin manifestierte, sich restlos zu verausgaben und doch dem gnadenlosen Darwinismus zwischen Probe, Vorstellung, Öffentlichkeit und – nicht zu vergessen – Kantine standzuhalten. Hartungs anstößige Interviews entzündeten Diskurse, denen sich zuweilen weder Politiker noch Akademiker entziehen konnten. Das Feuilleton stand in Erwartung eines neuen Skandals vor jeder seiner Premieren kopf. Da wollte man natürlich dabei sein. Vor allem, wenn man jung, hetero und weiblich war. Nichts war begehrter als ein Praktikum im Liebknecht-Regiebereich.
Nach etlichen Jahren Berufserfahrung als Leitender Dramaturg ordnete ich die Bewerberinnen (Männer waren aufgrund mangelnder Eignung selten) in eine von zwei möglichen Kategorien ein. Ich las es zwischen den Zeilen ihrer Motivationsschreiben, mühelos: Die einen wollten mit Hartung ins Bett und die anderen hatten bereits alle Hoffnung auf eine Zukunft als Kulturarbeiterinnen...