Theater der Zeit

Auftritt

Marburg: Verflixte Rappen

Hessisches Landestheater: Marburg: „Michael Kohlhaas“ nach Heinrich von Kleist in einer Bühnenfassung von Matthias Faltz und Alexander Leiffheidt. Regie Matthias Faltz, Ausstattung Stefanie Liniger

von Marcus Hladek

Erschienen in: Theater der Zeit: Thomas Ostermeier und Thomas Oberender: Die Systemfrage – Stadttheater oder freies Arbeiten? Ein Streitgespräch (12/2013)

Assoziationen: Hessisches Landestheater Marburg

Anzeige

Anzeige

Martin Luther selbst griff, wie man weiß, in den 1530er Jahren erst mit einem flammenden Friedensappell an Kohlhaas, dann durch Aushandlung einer Amnestie für ihn in das Geschehen um die Rappen ein, die dem Titelhelden beim Grenzübertritt willkürlich abgeknöpft und durch Feldarbeit ruiniert worden waren. Kleist hatte die Geschichte um den Rosshändler, der eher gegen Fürst und Reich zieht, als ein Unrecht zu dulden, „aus einer alten Chronik“, deren Überlieferung er um einen romantischen Schluss mit weissagender Zigeunerin und drohendem Unheil für den Kurfürsten erweiterte.

Regisseur Faltz gibt der Handlung ein modernes Gewand. Stefanie Linigers Ausstattung füllt die Spielfläche mit einer Anzahl leichter, papierbespannter Wände, die, angewinkelt und auch besteigbar, zwischen Auftritten und Lichtwechseln immer mal verrückt werden, um für Haus, Palast, Zinnen oder Landschaft zu stehen. Die verflixten Rappen sind als Gesangschor mit Pferdekopfmasken aus demselben papierartigen Material unentwegt präsent. Die Darstellerkostüme deuten teils historisches Flair an, wenn der Junker Wenzel von Tronka etwa zu pinkfarbenen Hosen ein Lederwams trägt oder der Kurfürst einen blassgrauen Gehrock späterer Zeiten. Kohlhaas steht, geht und ballt die Fäuste in einem braunen Anzug und Schuhen nebst olivfarbenem Hemd von heute, derweil seine Frau Lisbeth ihr eidotterfarbenes Kleidchen zu Damenschuhen in Pink aufträgt und andere Männer der Macht dekadenten Playboys, wenn nicht gar einer Beckett-Figur wie Pozzo ähneln.

Zeitlos stilisierte Moderne also. Dazu passt auch, wie Faltz den Ablauf regelmäßig und heftig mit Orgel- und Trommelmusik (Uwe Maibaum, Olaf Pyras) strukturiert und dramatisch zuspitzt, während die apodiktisch- unpsychologische Diktion der Schauspieler, die mehrere widerstreitende Rollen spielen, ans Lehrstückmodell Brechts denken lässt. Bis auf Kohlhaas (Tobias M. Walter), der durch eine gewisse Ähnlichkeit und seine sparsam-insistente Mimik an Willem Dafoe erinnert, spielen alle Darsteller (Thomas Streibig, Artur Molin, Julia Glasewald, Thomas Huth) zwei bis fünf Rollen.

Der Clou der Inszenierung ist indes die Wahl der Spielstätte. Außer der Hauptbühne (im Chor) gehören dazu noch die Orgelempore im Rücken der Zuschauer, eine Treppe als erhöhte Kanzel und weitere Orte in der Lutherischen Pfarrkirche St. Marien. Ist die Erzählung zwischen Sachsen, Brandenburg, Berlin und Wien verortet (Kohlhaas verwüstet Wittenberg, der Kaiser in Wien entscheidet den Rechtsstreit), so trägt die älteste Pfarrkirche (und Fürstengrablege) Marburgs mehr bei als nur ihre trutzig-gotische Architektur in Hanglage. Der Ortszauber der Adresse Lutherischer Kirchhof 1 gründet mit Blick auf „Kohlhaas“ darauf, dass der reale Luther drei Jahre vor der Kohlhaas- Handlung an den scheiternden Klärungsgesprächen der Lutheraner und Reformierten in Marburg teilnahm und Stadt wie Universität bis heute protestantisch geprägt sind.

Faltz’ Regie glückt es wirkungsvoll, die atemlos abrollende Ereigniskette der Erzählung ebenso geradlinig und doch symbolisch überhöht auf die Kirchenbühne zu bringen. Wenn sein Kohlhaas „Hört mich an!“ in den hallenden Bau ruft, spiegelt es auch die Luther- Zeit mit dessen „Hier stehe ich“ wider. Droben auf der Empore beschwören zusätzlich Großbuchstaben den Namen des Reformators. Obwohl neben Chören und Musik Dialoge stattfinden, haben sie – eingebettet ins schmetternde Orgeltosen – etwas Überindividuelles und führen konsequent zur äußersten Zuspitzung, wenn der vom Hundertsten ins Tausendste verirrte Rosshändler, der sich bei Kleist zum Erzengel Michael erklärt, die abstrakte Idee der Gerechtigkeit erneuern darf. Denn natürlich nimmt die Klage von Kleists Kohlhaas über die „gebrechliche Einrichtung der Welt“ und die Bosheit im (Rechts-)System bei Faltz’ Kohlhaas ganz andere und allgemeinere, doch ungebrochen zeit- und sittenkritische Bedeutung an. //

Marcus Hladek

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Cover Recherchen 167
Cover Rampe vol.2
Cover B. K. Tragelehn
Charly Hübner Buch backstage
Cover XYZ Jahrbuch 2023
Recherchen 162 "WAR SCHÖN. KANN WEG …"
"Scène 23"
"Zwischen Zwingli und Zukunft"
Recherchen 165 "#CoronaTheater"
"Die Passion hinter dem Spiel"
Arbeitsbuch 31 "Circus in flux"
"Passion Play Oberammergau 2022"

Anzeige