Einleitung
von Henning Fülle
Erschienen in: Wir haben es einfach gemacht! – Reisen in internationale Theaterwelten (07/2024)
Das 1983 von Siegmar Schröder in Bielefeld gegründete Theaterlabor ist eines jener Häuser, die beispielhaft für die Entwicklung der Zweiten Säule der deutschen Theaterlandschaft stehen. Aus einer Sehnsucht nach Veränderung der eingefahrenen Lebensmodelle in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft und inspiriert von der Jugendrevolte von 1968 wandten sich gegen Ende der 1970er Jahre eine große Zahl junger Menschen der sogenannten Alternativbewegung zu. Die unternahm es, freiheitlichere, naturgemäßere, sozialere Formen gemeinsamen Lebens und Arbeitens zu erproben, um so ,hier und jetzt‘ die Gesellschaft praktisch und beispielhaft zu verändern.
Kunst und Kultur und vor allem das Theater hatten dabei eine Vorreiterrolle inne. In den USA und in Europa außerhalb Deutschlands waren Projekte entstanden, die auf die Zivlisationskatastrophen des 20. Jahrhunderts reagierten, die radikale Veränderungen von Kunst und Gesellschaft forderten, und mit diesen Veränderungen bei sich selbst begannen: das Teatr Laboratorium Jerzy Grotowskis in Polen, die Truppen Teatro Potlach und Teatro Nucleo in Italien, die Theaterforschungen Peter Brooks und vor allem Eugenio Barbas Odin Teatret standen für das Dritte Theater der Selbstermächtigung, das sich 1976 in Jugoslawien zum BITEF-Festival (Beogradski Internacionalni Teatarski Festival) traf. Hinzu kamen aus den USA das Living Theatre, Bread and Puppet, La MaMa, die Fools aus den Niederlanden und Brith Gof aus Wales – von ihnen allen kamen die internationalen Impulse, denen Siegmar Schröder auf seinem Gründungs- und Entwicklungsweg folgte.
Diesen Weg sind auch viele andere Gruppen, Initiativen und Einzelpersonen seit Anfang der 1980er Jahre in Deutschland gegangen. In diesem Buch wird er dokumentiert anhand von Interviews und Originalbeiträgen der internationalen Protagonist*innen, mit denen das Theaterlabor in Austausch und Kooperation gestanden hat. Erzählungen, Analysen sowie Anekdoten zeigen die Entwicklung dieses Dritten Theaters: von den frühen kulturellen, künstlerischen und politischen Impulsen über die Bewegung, die schließlich auch in Deutschland zur Institutionalisierung des Freien Theaters führte.
Anlass für dieses Buch war nicht so sehr ein Jubiläum, auch wenn im Jahr 2023 für so einige Gründungen der 40. oder sogar der 50. Geburtstag hätte gefeiert werden können. Vielmehr steht die Gründergeneration inzwischen unmittelbar vor der Notwendigkeit, die geschaffenen Strukturen an Nachfolgende aus den Händen zu geben und das künstlerische Erbe zu archivieren. Aus den Diskussionen darüber hat Siegmar Schröder sich entschlossen, seinen Entwicklungsweg aufzuarbeiten und hat mich – als Autor von „Freies Theater. Die Modernisierung der Theaterlandschaft“1 dafür als Mitstreiter gewonnen.
Dieses Buch kann und will nur ein Teil der notwendigen Aufarbeitung der bislang immer noch randständig behandelten Geschichte des ‚anderen‘ Theaters in Deutschland sein. Auf der Website der Theaterwerkstatt Pilkentafel findet sich neben deren Archiv die Dokumentation des Projekts Weggefährten, das auch ein Ausgangspunkt für diese Aufarbeitung war. Weitere Einzelstudien – in welcher Form auch immer – müssen folgen, um das Bild zu vervollständigen und die Bedeutung der zweiten Säule der Theaterlandschaft auch kulturpolitisch ins richtige Licht zu rücken – und nicht zuletzt, um den inzwischen alt gewordenen Protagonist*innen für ihre Lebenswerke die angemessene, verdiente Anerkennung zu erweisen.
Ich wünsche ertragreiche und unterhaltsame Lektüre.
Berlin, im Februar 2024
1 Henning Fülle, Freies Theater. Die Modernisierung der Theaterlandschaft 1960–2010, Berlin 2016 (= Theater der Zeit, Recherchen Nr. 125).