Die Legende von Martin
(in neun Kapiteln)
von Charly Hübner
Erschienen in: backstage: HÜBNER (01/2023)
1. ROSWITHA, DIE CHRONISTIN
Die Legende erfuhr ich einst von Roswitha, der schnellen, die, wann immer sie konnte, sich Zeit nahm und durch den Ort flitzte, eilte, frohlockte, um zu berichten, was war, was ist, was werden wird und was das alles zu bedeuten hatte. Sie war Chronistin ohne Feder, ohne Buch, ohne Schreibmaschine. Sie hielt fest, indem sie berichtete – vieles wahr, manches noch mehr. Und Martin lag ihr am Herzen – sein Schicksal, sein Wunder, sein Sterben, denn so unglaublich das alles scheinen mag, so lustig, töricht und unvorstellbar, so wurde es doch schließlich furchtbar traurig und das trieb Roswitha um, ließ sie nicht ruhen, die Geschichte von Martin zu berichten, zu erzählen, zu durchleben, bis die Geschichte eine Legende wurde.
Und diese Legende geht so:
2. MARTIN, AUF DER RAMPE
Martin stand auf der Rampe. Seine Rampe war die überdachte Laderampe der BHG, Bäuerliche Handelsgenossenschaft, ein Ort, an dem man als Privatperson, wenn vorhanden, Baumittel, Baukleidung, Baugeräte, Baustoffe erstehen konnte – also Zement, Reifen, Kies, Gummistiefel, Schaufeln, Spaten, Harken, Nägel, Zollstöcke, Wattejacken –, wie gesagt, wenn vorhanden. Das meiste aber war nicht vorhanden, nicht käuflich erwerbbar, denn es war eben Mangelwirtschaft, und Martin, der Herr der mangelnden...