Theater der Zeit

Die Legende von Martin

(in neun Kapiteln)

von Charly Hübner

Erschienen in: backstage: HÜBNER (01/2023)

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1. ROSWITHA, DIE CHRONISTIN

Die Legende erfuhr ich einst von Roswitha, der schnellen, die, wann immer sie konnte, sich Zeit nahm und durch den Ort flitzte, eilte, frohlockte, um zu berichten, was war, was ist, was werden wird und was das alles zu bedeuten hatte. Sie war Chronistin ohne Feder, ohne Buch, ohne Schreibmaschine. Sie hielt fest, indem sie berichtete – vieles wahr, manches noch mehr. Und Martin lag ihr am Herzen – sein Schicksal, sein Wunder, sein Sterben, denn so unglaublich das alles scheinen mag, so lustig, töricht und unvorstellbar, so wurde es doch schließlich furchtbar traurig und das trieb Roswitha um, ließ sie nicht ruhen, die Geschichte von Martin zu berichten, zu erzählen, zu durchleben, bis die Geschichte eine Legende wurde.

Und diese Legende geht so:

2. MARTIN, AUF DER RAMPE

Martin stand auf der Rampe. Seine Rampe war die überdachte Laderampe der BHG, Bäuerliche Handelsgenossenschaft, ein Ort, an dem man als Privatperson, wenn vorhanden, Baumittel, Baukleidung, Baugeräte, Baustoffe erstehen konnte – also Zement, Reifen, Kies, Gummistiefel, Schaufeln, Spaten, Harken, Nägel, Zollstöcke, Wattejacken –, wie gesagt, wenn vorhanden. Das meiste aber war nicht vorhanden, nicht käuflich erwerbbar, denn es war eben Mangelwirtschaft, und Martin, der Herr der mangelnden Waren, nur er wusste aus Mangelware Tauschware zu machen, sagt die Legende, er konnte zaubern, mischen, verhandeln, verwandeln, und er wurde so zum Helden im Scharnier zwischen Not und Glück im sogenannten real existierenden Sozialismus jener Zeit, die man auch gern die Achtziger nennt, in Mecklenburg, im fernen, einhundertdreiund… Kilometer nördlich von Berlin, Hauptstadt der DDR.

3. DER PFIFFIGE VATER

Und das ging so: Ein Vater kam und brauchte Kies für den Hof. Er wusste ohne nähere Anschauung, dass es Kies nicht gab in der Bäuerlichen Handelsgenossenschaft, aber er wusste über Martin, dass dieser wusste, wie und wo Kies ist und wie und was dem Kies entspräche. In diesem Falle wusste Martin unausgesprochen, dass der Vater Kontakte hatte zum Platzhirsch, der wiederum Kontakte hatte zum Russen, also nicht zu dem einen, sondern zu den Befreiern, die auch Besatzer waren. Also sprach der Vater zum Platzhirsch: „Hast du Reifen oder Sprit?“ („Russendiesel“ nannte das Volk den Treibstoff, der süßlicher roch als der heimische.) Der Platzhirsch sprach: „Glück für dich – beides da! Plus Butter in Mengen!“ Das freute den Vater, denn er wusste, dass beides half, um seiner Not zu helfen. Alsdann mit fünfzig Litern Sprit und vier Reifen Standard für PKW ausgestattet, kreuzte der Vater bei Martin, dem coolen, dem Clint Eastwood von Mecklenburg auf und rechnete sich aus, begünstigt zu werden im Tauschen, Verhandeln und Verwandeln der Ware, die keiner hatte, aber alle brauchten. Ein Blick, zwei Fragen, drei Antworten, und Martin und der Vater luden Reifen und Sprit aus dem Kofferraum und schaufelten Kies in den Anhänger, dem Standard, den alle hatten, außer die, die ihn sich nicht leisten konnten oder noch immer auf ihn warteten. Am Ende ein Handschlag, ein Weinbrand aus Sachsen und fünf Schachteln „Alte Juwel“ (dass Zigaretten so hießen! Juwel!) und der Vater, der Glückliche, der Pfiffige, rollte von dannen und dankte einmal mehr dem Helden, dem coolen Martin, der auf der Rampe stand wie Clint im Western, mit Fluppe im Mund und Schnauzer im Gesicht – lässig, drahtig, undurchschaubar und versoffen. Das war sein Geschäft – das Schaffen von Waren, die fehlten und doch zählten. Ein Gerücht hier, ein Hinweis da, und in der Mitte der Platzhirsch, der täglich informierte, was der Russe, nicht der eine, sondern die vielen, am Mittwoch brachte, bringt und bringen würde, und aus dem Gewisper die Kenntnis, dass dies und das und das und jenes kreisten. Und seine Rampe war seine Bühne – hier war er der Entscheider, der sein Mitwissen teilte oder schwieg. So war er Legende und Hero zugleich, und keiner wusste nichts über ihn. Dann fiel die DDR und auch der Deal mit dem Russen, der nicht einer war und dann bald gehen musste ohne Zapfenstreich und Pfannekuchen. Und Martin? Er rauchte, soff und schaute.

4. EIN MANN, WIE AUS DEM FERNSEHEN

Er stand dann nicht mehr auf der Rampe der Bäuerlichen Handelsgenossenschaft, sondern, weil diese geschlossen wurde, an der Kreuzung davor, den Bahnhof im Rücken, den Esel des Städtchens im Angesicht. Er rauchte und staunte, und sein Gemüt verschwand im Kommentieren des Fernverkehrs und im Trinken des Weinbrands, dem aus Sachsen, von dem es hieß, er sei wie das Original aus Frankreich – weich und hart. Und eines Tages fuhr in diesen neuen Tagen, die alle neu wirkten, ohne Neues zu bringen, ein Auto vor, wie aus einem Film, lang, leise, schwarz und cool. Eine Fensterscheibe sank lautlos in die Tür, der Chauffeur im schwarzen Anzug fragte nach dem Weg zum Bauern M. und war in eifriger Not. Martin, der Held, der trinkende, kannte Bauer M. nur allzu gut. Viel Ware war getauscht worden in all den Jahren vor den Jahren, die jetzt die Jahre waren. Er empfahl folgenden Weg: „Hier rechts, dann geradeaus, bis im nächsten Dorf, Hauptstraße links, da dann geradeaus – halt nein, bis zur zweiten Querung, dann links, dann geradeaus, am Teich wieder links, dann immer Hauptstraße bis ins Dorf, und dort im Unterdorf gleich links am Bach.“ Der Chauffeur blieb freundlich, nickte dankend und fuhr. Blieb jedoch gleich wieder stehen, fuhr rückwärts, die hintere Scheibe sank runter – ein hohes Tier, ein Mann wie aus dem Fernsehen erschien und fragte: „Wollen Sie uns nicht begleiten – das ist doch auch für den neuen Kunden vertrauenserweckend, wenn Sie teilhaben.“

Martin staunte, rauchte, raunte, saß im Fond der Limousine und schwebte von dannen zum Bauern M.

5. BAUERN, ÄRZTE, ARBEITER

Der Deal saß, der Mann in der Limousine war zufrieden, denn auch dieser Bauer M. hatte keinen Schimmer in der weiten Welt der Zahlendreher und Versicherer und unterschrieb das Besterste, was der Mann, der Makler, der Händler, der Versicherer ins Rennen warf. Geld für Ruhe! Erspartes für Sicherheit! Martin staunte und rauchte – Bauer M. dankte, der Mann aus dem Fernsehen, der kein Fernsehmann war, dankte, und auch der Chauffeur dankte, obwohl er nur in der Limousine saß, die dankenswert schien, aber nichts von sich gab. Auf dem Rückweg zur Kreuzung am Bahnhof beim Esel die Frage vom Fernsehmann, der ein Makler war, an Martin, ob er noch andere kannte – Bauern, Ärzte, Arbeiter? Martin kannte alle, jeder braucht mal Kies und Sprit, den süßlichen, und nickte – cool, lässig, geheimnisvoll. Der Makler strahlte, seine Zähne strahlten, lachten, glucksten und schlugen ihm, dem Martin, dem Clint Eastwood Mecklenburgs einen Pakt vor – pro Arzt, Bauer und Arbeiter, der sich versichert für alle Zeit, gibt es Punkte, und wenn die Punkte viele sind, so viele, dass sie aussehen wie ein Gemälde von Van Gogh, dann gibt es GeldGeldGeld. Martin, der Tauschheld, nickte und schlug ein in den Tauschhandel – Versicherte gegen Sicherung, Kontakte gegen Kontrakte.

6. MARTIN, DER HEILIGE

Und es flutschte, klappte, sauste! Martin empfahl Bauer B. und Anwalt A., Arzt Z. und Arbeiter X. – alle glaubten der Vorsicht des Mannes aus dem Fernsehen, der ein Makler war und Robert hieß. Alle strahlten vor Glück, ihr Geld zu setzen, um Ruhe zu halten, ein Versprechen über das Leben hinaus, sicher, klug, hilfreich und nett. Der Makler, der kein Fernsehmann war, wurde Held, aber Martin, der Kontakter, wurde Hero, wurde Legende. Ohne ihn keine Zukunft, ohne ihn keine schlafvollen Nächte. Das sah auch die Anstalt so, die das Versichern einst zum Geschäft erkor und Geld scheffelte, ohne selbst zu schaffen. Und als Gipfel der glückseligen Zweieinigkeit des heiligen Martin und der seligen Sicherer bekam Martin, der Autodidakt, ein Auto plus Fahrer, Fredo, sein Name, ein Stotterer, da Martin, der Coole, nie fahren lernte in jener Zeit, als Lernen noch Staatspakt war. Und so wurden Fredo und Martin in heiliger schwarzer Limousine zum dunklen Schatten der Sorge und beglückten alle sorgenvoll Schlafenden mit Policen, Papieren, Verträgen. Wie die Blues Brothers in Schwarz und Sonnenbrille gondelten sie im deutschen Luxusblech über die Pisten der Dörfer, rauchten, staunten, grinsten. Mächtig wie Helden, dämlich wie Rinder! Keine Frage! Kein Zweifel! Keine Sorge!

7. MAKELNDE MAKLER

Nach einem Jahr des Gondelns und des Rauchens, mit Schnauzer im Anzug, die Heiligsprechung der fleißigsten und ertragreichsten Makler des neuen alten Einheitslandes – auf dem alljährlichen Hohefest, wo Makler und Makler sich makeln, um die geilsten Makler zu sein. Im tiefen Westfalen, fern der Heimat Mecklenburg! Da stehen sie und jubeln, wie einst die Kommunisten, nur eben jetzt als Makleristen, und feiern das Duo aus dem Osten mit Klatschen und Geschrei, als wäre ein Karneval. Dann kippt die ganze Chose, denn der Chor der makelnden Selbstverwirklicher schreit nach ihm, dem Martin. „Er soll sprechen! Er soll sprechen! Er soll sprechen!“ Nicht verwunderlich das Ganze – Erfahrung, Tricks und Gaunerei – alles zum Verrat – alles ein Gebrauch, um sicher zu versichern, was nicht zu sichern ist. Martin, der coole, kein Redner, ein Schweiger, soll reden – muss reden, da sonst die gierige Maklermenge ihn häutet, frisst und abserviert –, und da geht er denn nach oben, auf die Bühne im Kongress-Saal, an die Rampe, die sein Schicksal wird. Er schweigt und grummelt dann. Erzählt was von dem Bauer G., der „’ne geile Tochter hat und blöde is’ wie Stahl!“ – Spricht von „… den guten alten Zeiten, als der Platzhirsch wusste, wann der Russe liefert!“ – Schwadroniert von Schachern, Tauschen, Schweigen, von Weinbrand, Osten und der FDJ, „… die ja so dämlich war, dass Honni selbst (der Chef der DDR) ’nen Arzt rufen musste …“ und so weiter und so fort. Alles stammelnd, einsilbig und nicht konform; kontraform und ungelenk. Peinliche Stille, bissige Abwehr, so Roswitha, führten zu der größten Abfuhr, seit das Makeln ruchbar war. Noch am Abend selber, ausgebuht und weggelacht, fuhren Fredo, stotternd, und Martin, der Coole, bibbernd heim ins weiche Mecklenburg, um dann am Morgen müde, leer und totgesagt den Weinbrand leer zu schlürfen, der den Horror schleierte.

8. DIMITRI, DER KOMSOMOLZE

Dem vermeintlichen Fehler folgte der wahre Fehler. In Sorge, dass all das makelnde Glück von heut auf morgen Sorgen bringen würde, da es nicht mehr zustande kam, begann Fredo, der Stotternde, nach Ausweg zu suchen und fand bei Freund Dimitri einen Coup. Dimitri, einst ein Komsomolze in deutschen Gewässern, verbrachte nun die neue Zeit mit Schmuggeln, Makeln und Handeln von Ikonen, russischen Votiven, die im fernen Westen, der nun näher war, viele Käufer fanden und somit Ware wurden – jedoch am Staat vorbei. Um all dies güldene Gebilde von Ost nach West zu kriegen, von Polen bis nach Amsterdam, brauchte es gewiefte Fahrer in der Nacht, die, harmlos wirkend, die teure Ware heimlich in die Keller brachten. Ein Teufelsplan mit – Teufel! – viel Geld, und Fredo und Martin wirkten seriös, da Limousine und schwarzer Anzug nun mal immer seriös wirken. Und da der westfälische Makelriese sich vom Ostmakler Martin wegwendete, aus Scham, Ekel oder Hochsucht, kam Fredos Schnüffeldienst wie ein Geschenk des Himmels auf die Mecklenburger Erde. Sie fuhren, chauffierten, verschleppten das goldene Bild der Orthodoxie von Ost nach West, und immer zahlte der ehemalige große Bruder in bar und schwieg. Die Bluesbrothers wurden Blutsbrüder von Dimitri, und im Rausche des Weinbrands und des Wodkas erfuhren sie die wahre Welt hinter den Zahlen, und dass Geld mehr Geld ist, als sie dachten, dass Geld sein kann. Da kam die Gier! Fredo ersann einen Plan, der sie manch Ikone einbehalten ließ, nicht als Pfand, nein, als Spiel, um von dem großen Geldberg auch noch einen Happen abzukriegen. Sie wollten allein sein im Gemakel zwischen Ost und West und Geld und Supergeld. Martin staunte, rauchte, nickte – das Makeln war seins, das Tauschen schon immer, was sollte da denn schief gelingen?

9. DER TRAURIGE MANN

Allein Dimitri, der alte Komsomolze, empfand dies als Verrat und sprach den Fehler weiter, in die Runde derer, die tatsächlich Leib und Leben messen können. Als diese ruchlosen Düsterfinke vom Verrat des Schweigers und des Stotterers hörten, statuierten sie exemplarisch den Tod Fredos, durch Niederfahrung seiner Seele mit einem Schwertransporter, der sonst alltäglich frisch gefälltes Holz verfährt, von Ost nach West, von Nord nach Süd. Martin, der Coole, im Kern ein Zitterhain, als Zeuge dieses ruchlosen Mordes, schwer geprüft und endgültig erschüttert, erkennt die Ausweglosigkeit des neuen Lebens und bleibt versteckt im Haus der Mutter, die reichlich er beschenkt mit all dem, was das Geschenkgewerbe herzureichen mag. Allein, das stillt den Unfrieden nicht, und voller Angst und Schrecken findet er nur Ausweg in dem Abgasschlauch, den er in der Garage vom Auspuff in den Wagen legt, um so im Koma zu entschwinden aus dieser Leere, die sein Leben wurde. Roswitha weinte bitterlich, als sie dies furchtbar graue Ende einst erzählte, und wir, die Hörer, weinten auch, denn Martin war der Coole, ein Kind, offen und entspannt. Doch das Rasen der Welt und der Zeiten machte ihn zum traurigen Mann, der nichts mehr konnte und niemanden kannte, der ihm den Hintersinn hätte schenken können – dass nämlich alles nur ein Irrsinn ist, solange es nicht in dir ist.

(2022)

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