Rezension
Rache statt Verbrüderungskitsch
Eine kritische Analyse der deutschen Erinnerungskultur
von Lara Wenzel
Assoziationen: Buchrezensionen Dossier: Politische Konfliktzonen Max Czollek
Mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine vor einem Jahr brach in Deutschland eine „Zeitenwende“ an, wie Bundeskanzler Olaf Scholz verkündete. „[N]ach knapp achtzig Jahren der Zurückhaltung hat Deutschland heute eine neue Rolle im internationalen Koordinatensystem.“, betonte auch SPD-Bundesvorsitzender Lars Klingbeil. Jenseits der Frage, ob Waffenlieferungen in die Ukraine notwendig sind, bedient sich ihre Begründung einer „Schlussstrich-Rhetorik“. Nachdem Deutschland die letzten Jahrzehnte die Füße stillhielt und die Überlebenden des zweiten Weltkriegs und der Shoa schwanden, denkt man sich nun, man könnte ja wieder… Mit der Zeitenwende-Rede von Scholz sei eine neue Stufe der deutschen Erinnerungskultur erreicht, meint Max Czollek. Das „Versöhnungstheater“ bestimmt nun das Gedenken an die Verbrechen des Nationalsozialismus und die Rolle, die die weiße, christliche Mehrheitsgesellschaft Juden und Jüdinnen darin zu weist. Debora Antmann prägte für dieses oft aufgerufene „Wir“ das Adjektiv wc-deutsch, [weiß-christlich-deutsch].
Der Ostberliner Publizist und Kurator Czollek nahm bereits in seinen vorangegangenen Streitschriften „Desintegriert Euch“ und „Gegenwartsbewältigung“ die deutsche Erinnerungskultur auseinander. Im Gedächtnistheater, ein Konzept, das Czollek von Y. Michal Bodemann übernimmt, dürfen nur ein paar symbolische Juden und Jüdinnen mitspielen, um sich möglichst vergebungsvoll zum Holocaust zu äußern. Auch könne Antisemitismus in der Gegenwart angeklagt werden, aber besser nur, wenn es um die anderen, die nicht wc-Deutschen geht. Gegen die zugeschriebenen Rollen wehrt sich Czollek mit Strategien der Desintegration: intersektionale Allianzen und eine Jüdisch-Muslimische Leitkultur. Unversöhnlichkeit und die Figur der jüdischen Rache, der er als Kurator in der Ausstellung „Rache. Geschichte und Fantasie“ und seinen Gedichten nachgeht, prägten den Ton seiner polemischen Schriften.
Im neuen Band „Versöhnungstheater“ kommentiert er die Strategie der „Wiedergutwerdung ohne Wiedergutmachung“, die sich an Projekten wie dem Berliner Stadtschloss, einem „Paradebeispiel für eine Erinnerungsarchitektur in Zeiten des Versöhnungstheaters.“ abzeichnen. Weil man sich bereits so gut an die deutsche Gewaltgeschichte erinnert habe, stehe nun die Bejahung der Vergangenheit an: zum Beispiel im Wiederaufbau eines preußischen Schlosses dessen Spitze ein christliches Kreuz krönt.
Czollek wendet sich gegen den „Verbrüderungskitsch“ und einer Renationalisierung der Erinnerung, wie sie Eike Geisel schon vor 40 Jahren treffend beschrieb, denn weder könnte der Genozid an Juden und Jüdinnen, Romn*ja und Sinti*izze vergeben werden, noch gab es den Versuch der Wiedergutmachung. Über symbolische Gesten, wie den Kniefall von Willy Brandt oder den Bau von Gedenkorten, reichte die Aufarbeitungspolitik kaum hinaus. Die junge BRD erließ Amnestiegesetze und belangte fast keine Täter*innen. Wer überhaupt berechtigt war, Entschädigung zu beantragen, musste sich durch die deutsche Bürokratie kämpfen. Ein erniedrigender, juristischer Flickenteppich.
Während Czollek die „bürgerliche Mitte“ trifft, bleibt abermals eine Kritik der linken Szene aus. Dafür lohnt es sich Judith Coffeys und Vivien Laumanns Buch „Gojnormativität“ zu lesen. In der solidarischen Kritik aus aktivistischer und akademischer Perspektive fordern sie ein, dass Antisemitismus in seiner ganzen Komplexität in intersektionalen Debatten beachtet werden muss. Dabei handelt es sich nicht um eine Unterform von Rassismus. Er spaltet sich u.a. in die Formen „Schuldabwehr-Antisemitismus, israelbezogener Antisemitismus, biologistischer Antisemitismus“, zeigt sich als Reaktion auf die Moderne in Verschwörungstheorien und als verkürzte Kapitalismuskritik, die wenige, dämonisierte Personen verantwortlich macht. Solche Differenzierungen fehlen in dem eher anekdotisch aufgebauten Buch von Czollek. Im leicht polemischen Plauderton kommentiert Czollek Versöhnungsversuche der letzten Jahre. Während Vergebung eingefordert wird, setzt sich die deutsche Gewaltgeschichte fort. „Versöhnungstheater“ ist eine kraftvolle Intervention in die Politik des Erinnerungsweltmeisters.
Max Czollek: „Versöhnungstheater“. Hanser Verlag, 2023, 176 S., € 22
Erschienen am 27.4.2023