Theater der Zeit

Auftritt

Köln: Die einsame Lotte

Schauspiel Köln: „Groß und klein“ von Botho Strauß. Regie Lilja Rupprecht, Bühne Anne Ehrlich, Kostüme Annelies Vanlaere

von Martin Krumbholz

Erschienen in: Theater der Zeit: Wie es euch gefällt – Christian Friedel vertont Shakespeare (12/2016)

Assoziationen: Schauspiel Köln

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Kein anderer Autor hat den bürgerlichen Lebensstil, die Rituale, die Redensarten und nicht zuletzt auch den Utopieverlust der alten Bundesrepublik in ihrer Spätphase präziser erfasst, durchleuchtet und diagnostiziert als der 1944 im Osten des Landes geborene, aber im Westen sozialisierte Botho Strauß. Zunächst als blutjunger Kritiker bei Theater heute, später als Dramaturg bei Peter Stein an der Schaubühne am Halleschen Ufer, lernte dieser Hochbegabte den Umgang mit dramatischen Texten; sein Sensorium für Töne und Zwischentöne half ihm, seinerseits ein Stückeschreiber, und das heißt in diesem Fall: ein Verfasser hochenergetischer (und oft hochkomischer) Dialoge zu werden.

Manches von dem ist inzwischen schon wieder in Vergessenheit geraten, die Zeiten haben sich geändert. Das Schauspiel Köln machte sich die Mühe, ein frühes, nämlich das vierte Bühnenstück von Strauß, „Groß und klein“ aus dem Jahr 1978, auszugraben und der jungen Regisseurin Lilja Rupprecht anzuvertrauen; unabhängig davon, ob man das Ergebnis für mehr oder für weniger gelungen hält (für beides gibt es Gründe), ist allein das schon ein Verdienst. Strauß verlässt in diesem Stück erstmals den inneren Zirkel des Kunst- und Kulturbetriebs und stellt eine einzelne Figur in den Mittelpunkt: die Lotte aus Remscheid-Lennep, getrennt lebend, arbeitslos, auf einer sonderbaren, anscheinend von keiner Rationalität gesteuerten Odyssee durch die halbe Welt, von Marokko über Saarbrücken und Essen bis nach Sylt.

In Marokko belauscht die einsame Pauschaltouristin den Dialog zweier fremder Männer, von denen mindestens einer eine faszinierende „Chefarztstimme“ besitzt; in Saarbrücken versucht sie Kontakt zu ihrem Ex-Mann herzustellen, der nichts mehr von ihr wissen will; auf Sylt macht sie bei ihrem Bruder Station, einem seltsamen Kauz, der seine eigene Frau bestohlen hat. Womöglich haben all diese Aktivitäten einen tieferen Sinn, aber keine hat einen greifbaren Zweck; Lotte gelangt an kein Ziel, weil sich dieses Ziel in einer vermeintlich zweckrationalen, dabei aber bis zum Aberwitz verqueren, in ihren strukturellen Narzissmus verstrickten Gesellschaft nicht definieren lässt. Versteinerte Verhältnisse: Die mörderischen Aktionen der RAF, in deren Epoche das Stück spielt, wetterleuchten insgeheim im Hintergrund.

Lilja Rupprecht sucht in Strauß’ Text nicht nach Zwischentönen, nach Subtilitäten. Das ist einerseits schade; andererseits verschärft die Regisseurin den Ton und treibt den Szenen alles Gemütliche aus, ja sie steuert sie gezielt in eine fast unwirkliche Atmosphäre des Schreckens. Die Abgründe, die bei Strauß diskret angedeutet werden, sind hier gnadenlos aufgerissen. Die Bühne von Anne Ehrlich ist jeglichem Realismus fern; sie zeigt ein asymmetrisches, burgähnliches Gehäuse mit vielen hohlen Fenstern und einer Schwingtür, mittendrin eine ausgesparte Fläche, die zugleich als Video-Screen und als eine Art Catwalk dient. Die episodische Struktur des Stücks bleibt erhalten, erfährt aber durch die gleitenden Übergänge eine Verfremdung und Zuspitzung. Manches rückt durch eine groteske Spielweise in die kalte Distanz, anderes durch Live-Kamera und Großaufnahme in eine (fast) warme Nähe.

Die Rolle der Lotte ist mit Sabine Orléans besetzt, einer volltönend-stattlichen Erscheinung, die von vornherein das Gemütvolle, das naiv in sich Ruhende der Figur betont, in auffälligem Kontrast zu ihrem Fortbewegungsdrang. Diese Lotte ist quasi statisch und motorisch zugleich, während die habituelle Motorik aller anderen permanent ins Leere läuft. Bei Strauß sind die Figuren bloß nervös, in Rupprechts Inszenierung sind sie tendenziell verrückt, durchgeknallt. Alle zusammen bilden sie ein Panoptikum, das sich mechanisch um die einsame Lotte herumdreht. Zu sehen ist hier zweifellos ein anderer Botho Strauß als der überlieferte, darauf wird der Zuschauer sich nolens volens einstellen dürfen. //

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