1. Madame Bovary im Büro
von Wolfgang Engler
Erschienen in: Authentizität! – Von Exzentrikern, Dealern und Spielverderbern (03/2017)
Die Robe ist eine versteckende
Uniform und zeigt zugleich die
Individualität der Persönlichkeit.
Man muss sie tragen, muss sie füllen
können. Sie lässt mich auch, weil sie
schwer ist, aufrechter gehen.
Susanne Baer,
Richterin am Bundesverfassungsgericht (2012)
1. Madame Bovary im Büro
Wer ein umfassendes Bild der Menschen gewinnen möchte, die unter dem letzten deutschen Kaiser und hernach in der Weimarer Republik lebten, kommt um August Sander nicht herum. „Ein Werk über die Menschen“ zu schaffen, war das Vorhaben des großen Fotografen. Es zu verwirklichen, hielt er mit seiner Kamera Vertreter aller sozialen Stände, Berufe sowie viele derer fest, die nichts dergleichen vorzuweisen hatten. Vertieft man sich in dieses Erbe und folgt dabei dem Zeitpfeil, dann formieren sich die einzelnen Abbildungen zu Bausteinen einer lückenlosen Erzählung des menschlichen Ausdrucksverhaltens dieser Jahrzehnte. Dessen Richtungssinn zu erfassen, erschwert allein der immense soziale Artenreichtum, den die sachlichen, scharfen, unretuschierten Porträts vor Augen führen. Dazu kommt die Verkörperung des arteigenen Habitus. Einer der Arten objektiv anzugehören, ist das eine, diese Zugehörigkeit vor einem Fotografen auszudrücken, zu inszenieren, ist etwas davon wohl zu Unterscheidendes. Der Klassengeschmack gewinnt ein sehr weitschweifiges Aussehen, je nachdem, ob und wie man sich mit dieser Zurechnungseinheit identifiziert. Männer und...