Kolumne
Im geopolitischen Ungeheuer
Erschienen in: Theater der Zeit: Bruder Karamasow – Frank Castorf über Russland (02/2016)
Assoziationen: Debatte
Es war zu erahnen: Das vergangene Jahr geht einfach weiter, niemand scheint in der Lage, es zu stoppen. Und nein, wir sitzen dabei in keinem Flüchtlingskunstwerk. Irgendwer muss das behauptet haben, und jetzt fühlt es sich so an. Wir sitzen vielmehr in einem geopolitischen Ungeheuer, dessen Realitäten sich durchs Theater in unterschiedlichen Geschwindigkeiten durcharbeiten und dann auf ganz andere Weise wieder rauskommen, als gebe es keine Realpolitik mehr, als gebe es nur symbolische Debatten über Willkommenskulturen, die politisch nutzbar sind wie bei der über die Senkung des Mindestlohns. Ansonsten: Identitäten und Endzustände, eine Politik der Gefühle und der Moral, des zynischen Humanismus, wie Milo Rau sagen würde. In dieser Situation lese ich Theatertexte, in denen Dinge abstrakt auf Diskursebene verhandelt werden oder als Handlung nur voluntaristisch geschehen, in denen vorwiegend mit Interviews, Diskursbruchstücken, Familien- und Privatszenen hantiert wird, während die realpolitische Ebene derart in den Hintergrund tritt, als sei sie verschwunden, und vielleicht ist sie das ja auch ganz allgemein, denn auch in der Politik wird so getan, als gebe es das nicht mehr: Interessenspolitik machen hierzulande immer die anderen.
Daneben läuft das vergangene Jahr einfach weiter: Die Zustände im Berliner LAGeSo sind nach wie vor haarsträubend, obwohl andauernd „Besserung“...