Theater der Zeit

Auftritt

Wiesbaden: Es lebe die vorrevolutionäre Zeit!

Hessisches Staatstheater Wiesbaden: „Die Küste Utopias“ (DSE) von Tom Stoppard Deutsch von Wolf Christian Schröder. Regie Henriette Hörnigk, Bühne Gisbert Jäkel, Kostüme Claudia Charlotte Burchard

von Shirin Sojitrawalla

Erschienen in: Theater der Zeit: House of Arts – Über Macht und Struktur am Theater (10/2020)

Assoziationen: Hessisches Staatstheater Wiesbaden

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Nach einer sehr coronakompatiblen Beckett-Trilogie im Juni startet das Wiesbadener ­Theater mit einer sich nicht um Abstands­regelungen und Mäßigung scherenden deutschsprachigen Erstaufführung in die neue Spielzeit. Hinter dem herrlichen Titel „Die Küste Utopias“ verbirgt sich eine Trilogie des englischen Autors Tom Stoppard, die im angelsächsischen Raum bereits für Furore gesorgt hat. 2002 in London ur­aufgeführt, heimste etwa die New Yorker Broadway-Produktion gleich sieben Tony-Awards ein, auch in Frankreich und Japan war das Ganze schon zu sehen. In drei ­Teilen – Aufbruch, Schiffbruch, Bergung – widmet sich Stoppard der russischen Intelligenzija im 19. Jahrhundert. Süffig er­zählt er vom Leben und Lieben berühmter ­Persönlichkeiten wie Michael Bakunin, ­Alexander Herzen und Iwan Turgenjew, wobei sich die Handlung von 1833 bis 1868 erstreckt.

Es beginnt auf dem Landgut Premuchino irgendwo in der russischen Provinz. Dort haust die Großfamilie Bakunin, die sich im ersten Bild an einem langen Tisch um ihren Patriarchen Alexander versammelt. Die Töchter liebreizen in weißen Kleidern, während die Mutter matronenhaft auftrumpft und der Vater altbekannte Sprüche absondert und sich die tuberkulöse Seele aus dem Leib hustet. In diesen Zeiten ziemlich démodé. Egal.

Vom ersten Augenblick an inszeniert die Regisseurin Henriette Hörnigk, Chef­dramaturgin und stellvertretende Intendantin am Neuen Theater in Halle, den ersten Teil der Stoppard-Trilogie als vielversprechenden, dreistündigen Bilderbogen aus einer anderen Zeit. Man fühlt sich wie bei Tschechow, und im Hintergrund weist ein riesiges Gemälde in eine schöne, aber öde Landschaft.

Den titelgebenden Aufbruch verkörpern Alexanders Kinder, von denen Stoppard alle Söhne bis auf einen gestrichen hat: Michael reift dann bekanntlich zum aristokratisch ­geschulten Anarchisten heran. Paul Simon verkörpert ihn als megaagilen Luftikus, der vibriert vor Wagemut und Lebenslust. Im ­Laufe der Trilogie wird sich dann der Fokus von ihm auf den Revolutionär Alexander Herzen verschieben, der in Gestalt von Matze Vogel an diesem ersten Abend eher dezent in Erscheinung tritt. Stoppard entwirft ein ausschweifendes Panorama der damaligen Zeit, thematisiert das tief sitzende russische Minderwertigkeitsgefühl ebenso wie die allerorten aufkeimende Sehnsucht nach Veränderung und Revolution und den ausstrahlenden deutschen Idealismus rund um Schelling, Hegel, Fichte. Aus den Konflikten zwischen den ­Generationen und den Geschlechtern schält er eine gleichermaßen zeitspezifische wie immer aktuelle Erzählung über den Fortgang der Geschichte.

Die anderen beiden Teile sind für Mai angekündigt, dann soll es auch eine Gesamtaufführung geben. Zum Binge-Watching eignet sich das vorzüglich; wer den ersten Teil gesehen hat, möchte wissen, wie es weitergeht. Auch deshalb, weil Hörnigk den Stoff auf die leichte Schulter nimmt, indem sie ein munteres Kommen und Gehen inszeniert, ein geselliges Treiben, in dem die Figuren als liebevoll karikierte Vertreter ihrer Art erscheinen. Christoph Kohlbacher als mal erbarmungswürdig händeringender, mal albern am Klavier aufspielender Literaturkritiker Belinskij setzt dem Abend dabei so manches Glanzlicht auf. Auch Lina Habicht als eine der ­Bakunin-Töchter und später in der Rolle von Belinskijs Katja setzt Pointen wie Nadel­stiche und umgibt ihre Figuren mit einer die Jahrhunderte umspielenden Lässigkeit.

Die großen Themen Kunst und Leben, Macht und Revolution verabreicht die Inszenierung mit viel szenischer Fantasie als munteres Palaver und unterhaltsamen Reigen. Sie schert sich dabei weder um Geschlechter­klischees, noch scheut sie folkloristische ­Einsprengsel. Vielmehr nutzt sie beides für ein stimmungsvolles und atmosphärisch aufgeladenes Sittengemälde. Dass Malewitschs „Schwarzes Quadrat“ den Theatervorhang ziert und, wie im Programmheft erläutert, auch das Bühnenbild inspirierte, wirkt trotzdem ulkig, ist diese Inszenierung vom revolutionären Formwillen der russischen Avant­garde doch so weit entfernt wie Tschechows drei Schwestern von Moskau. //

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